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Historismus
Denkweise, die der Geschichtlichkeit (Historie) kultureller Phänomene einen besonderen Stellenwert zuschreibt; kommt in der Musikgeschichtsschreibung in mindestens zwei Bedeutungsebenen zum Tragen:

1. als Betrachtungsweise speziell im 19. und frühen 20. Jh., die sich gegen jedes geschichtsphilosophische, teleologische, universalistische Geschichtsverständnis (Idealismus) wendet. In diesem Sinne formulierte der deutsche Historiker Leopold v. Ranke (1795–1886): „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst.“ Gegenstand historischer Forschung wird somit das geschichtliche Ereignis in seiner Einmaligkeit. Die – persönliche wie methodische – Eigenart des Forschersubjekts wird dabei weitgehend negiert und ein objektivistisches Ideal postuliert, das eine Reserve gegen jegliche Interpretation und Sinnzuschreibung historischer Fakten bedingt. Favorisiert wird demgegenüber die möglichst vollständige Sammlung von Dokumenten (Gesamt- und Denkmälerausgaben). Auf die Gefahr eines damit einhergehenden Relativismus, dem jedes Ereignis gleich viel wert ist und der in der Geschichte weder Sinn noch normative Kraft anerkennt, hatte bereits F. Nietzsche hingewiesen („untertäniges Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Tatsache“). Der Wert des H. liegt hingegen in der Kritik ahistorischer, dogmatischer Positionen (z. B. in Theologie und Ästhetik), er wendet sich aber auch gegen den Rationalismus der Aufklärung, da er keine invarianten (Vernunft-)Prinzipien anerkennt. Kategorien wie das „Klassische“ oder das „Natürliche“ werden als a- bzw. überhistorisch abgelehnt.

Dass Geschichtlichkeit auch zum Wesen der Musik gehört, war im 19. Jh. nichts weniger als selbstverständlich. Ästhetische Auffassungen unterschieden sich nur in der Beantwortung eines konkreten, als überzeitlich geltenden Kulminationspunktes musikhistorischer Entwicklung (Palestrina, W. A. Mozart, L. v. Beethoven, Rich. Wagner), stellten aber nicht die prinzipielle Möglichkeit eines über einen Zeitraum unveränderten ästhetischen Gehalts in Frage. Ähnlich unhistorisch verfuhr auch die Musiktheorie, wenn sie sich auf „natürliche“ Gegebenheiten wie die Obertonreihe berief (spielte noch bei A. Schönberg zur Rechtfertigung der „Emanzipation der Dissonanz“ eine Rolle) und letztlich mit Berufung auf eine unbestimmte Tradition Tonsatzregeln lehrte, die im einzelnen verschiedenen Epochen angehören. Die Chance der Musikgeschichtsschreibung im Zeichen des H. bestand darin, sich von ästhetischen, „natürlichen“ oder traditionellen (Vor-)Urteilen zu befreien und dem Ideal eines unveränderlichen ästhetischen Seins ein konkretes historisches Werden entgegenzustellen.

Für die Musikgeschichtsschreibung von R. G. Kiesewetter bis G. Adler ist aber typisch, dass sie eine historische Methode mit einer mehr oder weniger verdeckten klassizistischen Haltung (Wiener Klassik [bei A. W. Ambros die Renaissance] als absolutem Höhepunkt einer organisch verstandenen Musikentwicklung mit Aufstieg, Blüte und Verfall) verbindet. Bei Kiesewetter spielte noch im Sinne der Aufklärung die Vernunft sowie der Fortschritt in der Musik eine zentrale Rolle, bei Ambros – ganz hegelianisch – der „Kunstgeist“. Adler reflektierte zwar Fragen des H. (Werteproblem, Relativismus, Rolle des Forschersubjekts), letztlich überwog bei ihm aber der Glaube, mit Hilfe induktiver Methoden sichere Wertungen über Stile und Komponisten erhalten und damit die Wissenschaftlichkeit der Musikgeschichte gegenüber der Musikästhetik und -theorie begründen zu können.

2. In einer zweiten Bedeutungsebene wird der H. als Stilbegriff oder musikalische Praxis (Übernahme alter Musik in das Repertoire) aufgefasst. Als Stilbegriff hat sich H. in der Musikgeschichte, anders als in der Kunstgeschichte (v. a. in der Architektur, vgl. den „Ringstraßenstil“), kaum durchgesetzt. Sein Bestreben, sich in gegenwartskritischer Haltung vergangenen Epochen und deren kompositorischen Techniken (Stilkopie) zuzuwenden, kann aber z. B. im Cäcilianismus bzw. allgemeiner in Gattungen wie Motetten, Orgelwerken, Chorkantaten oder Oratorien beobachtet werden. Während alte Musik allerdings anderswo erst „wiederentdeckt“ werden musste, war in Österreich das Nebeneinander von altem und neuem Repertoire (etwa in der Wiener Hofmusikkapelle oder in den Klöstern, Klosterkultur) keine Seltenheit, sodass in diesen Fällen besser von Traditionalismus oder Konservatismus als von H. gesprochen wird. Darüber hinaus dienten Versuche, alte Musik wieder im Konzert zu Gehör zu bringen, meist eher einem dokumentarischen als ästhetischen Zweck. Als bewusste Hinwendung zu älterer Musik ( J. S. und Ch. Ph. E. Bach, G. F. Händel, G. B. Pergolesi), wenn auch meist in Form von Bearbeitungen (vgl. die Händel-Bearbeitungen von W. A. Mozart oder die Reutter-Bearbeitungen von I. v. Mosel), können die sog. „historischen Konzerte“ ab dem späten 18. Jh. gelten. Solche Konzerte, in denen man sich „vergessene“ Musik praktisch-musizierend anzueignen versuchte, fanden u. a. beim Fürsten Esterházy, der Familie Hochenadl, G. v. Swieten, R. G. Kiesewetter und S. Molitor statt. Wertvolle Musikalienbestände wurden zu diesem Zweck angelegt. Die Concerts spirituels boten ältere Musik in öffentlichen Konzerten dar. Neben der dokumentarischen Absicht wird aber auch der Versuch deutlich, der Gegenwart ein „klassisches“ Vorbild entgegenzuhalten (Händel und J. Haydn galten als paradigmatisch für das Oratorium, Chr. W. Gluck für die Oper). Die Absicht, „Vergessenes“ wieder in das Gedächtnis zu rufen, stieß aber noch in der 2. Hälfte des 19. Jh.s z. T. auf mangelndes Verständnis. Zwei „historische Konzerte“, die die Gesellschaft der Musikfreunde 1862 veranstaltete und die auch „belehrend“ wirken sollten, waren kein Erfolg, und E. Hanslick meinte angesichts der Bemühungen seines Freundes J. Brahms um eine Wiederentdeckung der Werke von Heinrich Schütz, er „würde lieber den ganzen Heinrich Schütz verbrennen sehen, als das Deutsche Requiem“. Die klassizistische und damit ahistorische Haltung der bürgerlichen Musikkultur seiner Zeit fasste Hanslick in den Worten zusammen: „Für unser Herz beginnt sie [die Musik] mit Mozart, gipfelt in Beethoven, Schumann und Brahms“ (vgl. auch seine Auseinandersetzung mit R. Hirschfeld um den Wert alter Musik).

Im 20. Jh. verlor der Begriff H. seinen pejorativen Beigeschmack. Als relationale bis relativistische Denkhaltung des 19. Jh.s und der Moderne gilt er als Vorgriff auf die Postmoderne und ihre Verabschiedung universeller Normen und Werte. Als Stilbegriff und Sammelbezeichnung für retrospektive Erscheinungen im Musikleben gewann er in dem Maße an Attraktivität, als Originalität und Innovation als zentrale ästhetische Kategorien an Bedeutung verloren und Stileklektizismus nicht mehr als Verdikt galt.


Literatur
F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben) [1874] in Sämtliche Werke, hg. v. G. Colli/M. Moninari 1 (21998); E. Troeltsch, Der H. und seine Probleme 1922; F. Meinecke, Die Entstehung des H. 1936; H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, 51994; O. G. Oexle/J. Rüsen (Hg.), H. in den Kulturwissenschaften 1996; O. G. Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des H. 1996. – G. Adler, Methode der Musikgesch. 1919; R. Heinz, Geschichtsbegriff und Wissenschaftscharakter der Musikwissenschaft in der 2. Hälfte des 19. Jh.s. 1968; H. Kier, Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850), Wegbereiter des musikalischen H. 1968; H. Kier in KmJb 52 (1968); W. Wiora (Hg.), Die Ausbreitung des H. über die Musik 1969; W. Pass in Beethoven-Studien 1970; MGÖ 2–3 (1995); MGG 4 (1996); B. Boisits in B. Boisits/P. Stachel (Hg.), Das Ende der Eindeutigkeit: zur Frage des Pluralismus in Moderne und Postmoderne 2000; B. Boisits in Archiv für Kulturgesch. 82 (2000); G. Gruber/F. Födermayr in K. Acham (Hg.), Gesch. der österr. Humanwissenschaften 5 (2003).

Autor*innen
Barbara Boisits
Letzte inhaltliche Änderung
25.4.2003
Empfohlene Zitierweise
Barbara Boisits, Art. „Historismus“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 25.4.2003, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d18a
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