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Wiener Klassik
Um spätestens 1910 erstmals verwendete und um 1930 eingeführte Epochenbezeichnung, die sich primär auf das Schaffen von J. Haydn, W. A. Mozart und L. v. Beethoven bezieht. K. und W. K. werden oft synonym verwendet. Die große und rasche Verbreitung, die der relativ junge Begriff K. fand, verdankte sich der prägenden Wirkung des 1927–34 erschienenen mehrbändigen Handbuchs der Musikwissenschaft auf die Benennung der Epochen; auch der Terminus Barock wurde ähnlich spät und auf gleichem Wege in der musikhistorischen Fachsprache verankert. Drei Begriffsfelder treten in der Prägung W. K. zusammen: die Idee musikalischer Klassiker und des klassischen Werks, die Konstellation der Trias Haydn, Mozart und Beethoven und die lokale Bindung an die Hauptstadt der Donaumonarchie (Wien). Für sich genommen, reicht die jeweilige Geschichte der drei Aspekte zumindest bis ins frühe 19. Jh. zurück.

(1) Das lat. Adjektiv classicus bedeutet „zur höchsten Bürgerklasse gehörig“. Dementsprechend steht das frz. classique für erstrangig, mustergültig. Das Adjektiv wurde auch nominal verwendet; le classique bezeichnet entweder den mustergültigen Schriftsteller (insbesondere Autoren der römischen oder griechischen Antike), das klassische Werk oder Mustergültigkeit als solche. Als klassisch und Klassiker wurden die Begriffe um die Mitte des 18. Jh.s ins Deutsche übernommen und sehr bald auf Bereiche außerhalb der Literatur ausgeweitet. Um 1760 begegnen Carl Heinrich Graun, Georg Philipp Telemann, C. Ph. E. Bach, G. F. Händel oder Johann Philipp Kirnberger als „classische“ Komponisten. 1814 zählte die Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates die Aufführung „classischer Werke“ (im Sinne mustergültiger Werke der Vergangenheit) zu ihren Aufgaben. Und 1824 widmete sich der in Heidelberg/D lehrende Jurist und Musikschriftsteller Anton Friedrich Justus Thibaut der „klassischen Polyphonie“ Palestrinas. In diesem allgemeinen Sinne des Exemplarischen wurden auch Mozarts Werken in den 1790er Jahren „klassische Schönheit“ und „klassischer Gehalt“ zugeschrieben. Nach 1800 zählten Kompositionen von Haydn und Mozart zu den „klassischen Werken“. Erst nach Beethovens Tod wurden die drei Komponisten erstmals gemeinsam als Klassiker bezeichnet. Der Göttinger Philosophieprofessor Amadeus Wendt nannte 1836 ihre Schaffenszeit die „classische Periode“, deren Mittelpunkt Mozart bilde. Bei Wendt erscheint nicht nur der Epochenbegriff einer klassischen Periode; der Autor versammelt auch immer wiederkehrende Charakteristika des musikalisch Klassischen, „Idealisierung der ,Natur‘, Individualisierung im ,tiefen Eindringen in das menschliche Gemüt‘, Mannigfaltigkeit, die sich ,notwendig‘ zum Ganzen zusammenschließt, Scheinen der Idee in der ausgewogenen Durchdringung von Form und Stoff, Allgemeinverständlichkeit und Bestimmtheit der musikalischen Sprache, Schlichtheit, aber ebenso Reichtum, der durch ,gründliche Schreibart‘ gebändigt ist“ (Finscher 1996, 230).

(2) Die vergleichende Zusammenstellung von Haydn, Mozart und Beethoven als Komponisten-Trias etablierte sich zunächst unabhängig von der Zuschreibung klassischen Rangs. Seit Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Rezension von Beethovens V. Symphonie (1810) galten die drei Komponisten als Inbegriff der neueren Instrumentalmusik. Hoffmann nannte Haydn und Mozart als deren Schöpfer, Beethoven deren Vollender. Wendt differenzierte stärker und betonte die Logik der historischen Abfolge. Bei Haydn herrsche die Form über den Stoff. Die Musik Mozarts sei durch völlige Durchdringung von Form und Stoff gekennzeichnet. Bei Beethoven schließlich gewinne der Stoff das Übergewicht über die Form. Ein ähnlicher hegelianischer Dreischritt klingt bereits bei Wilhelm Christian Müller (1830) an, wo Haydn als Wegbereiter des Klassischen, Mozart als dessen Erfüllung und Beethoven als dessen Überschreitung erscheinen. Neben der Trias Haydn, Mozart, Beethoven wurden mehrfach auch andere Kombinationen erörtert. Einerseits wurde Beethoven als erster Exponent einer neuen Epoche verstanden. R. G. Kiesewetter stellte etwa in seiner Musikgeschichte (1834) der „Epoche Haydn und Mozart“ (1780–1800) die „Epoche Beethoven und Rossini(1800–20) gegenüber. Ähnlich galt Beethoven als erster Vertreter der „modernen Schule“ (Ferdinand Adolf Gelbcke 1841), als „Romantiker“ (August Kahlert 1848) oder als erster bedeutender Komponist des 19. Jh.s in musikhistorischen Darstellungen, die die Jh.wende 1800 als Epochengrenze ansetzten. Andererseits wurde insbesondere im 20. Jh. wiederholt Fr. Schubert der W. K. zugerechnet. Begründet liegt eine solche Zuordnung in der Herkunft des Komponisten und seiner kurzen Lebensspanne – Schubert überlebte Beethoven nur um ein Jahr – sowie in der Qualität und Wirkungsmacht seines Schaffens.

(3) Die lokale Bindung der W. K.er kommt bereits im älteren Begriff der Wiener Schule zum Ausdruck, die Daniel Schubart in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (vor 1784) durch Gründlichkeit und Anmut kennzeichnete und als deren Stifter R. G. Kiesewetter Haydn und Mozart ansah. G. Adler (1908) fasste den Begriff Wiener Schule sehr weit und bezog ihn auf sämtliche lokalen Vertreter des neuen Stils von G. Reutter d. J. bis Beethoven (Komponisten, deren Lebensdaten mehr als ein Jh. überspannen). Haydn, Mozart und Beethoven gehörten für Adler zur Wiener klassischen Schule als speziellem Segment der umfassenden Wiener Schule. Mit dem Begriff Schule verbanden sich bei Adler Vorstellungen von einer Lehrtradition, von gemeinsamen Stilmerkmalen sowie – im Bild des Staffettenlaufs („Vorläufer“) – von gesellschaftlich verankerten Aufgaben, denen sich die Komponisten in den verschiedenen Gattungen zu stellen hätten. Ende des 19. Jh.s bürgerte sich für die Vertreter der Wiener klassischen Schule der Begriff W. K.er ein. Die Verwendung von Termini wie Wiener Schule und W. K.er implizierte im österreichischen Raum, insbesondere bei G. Adler und seinem Kreis, ein patriotisches Moment. Seit Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde Österreich verstärkt eine Affinität zur Musik zugeschrieben (Musikland Österreich). Die W. K.er als musikalisches Gegenstück zu den Literaten der Weimarer Klassik repräsentierten somit einen Aspekt österreichischer Identität, der sich aus der Abgrenzung gegenüber einer auf den sprachlichen Diskurs fokussierten protestantisch-deutschen Kultur ergab.

Im Handbuch der Musikgeschichte (21930) zählte G. Adler zu den Kennzeichen der Wiener klassischen Schule ihr internationales Gepräge, das einerseits in der Synthese auswärtiger Entwicklungen (insbesondere der galanten Schreibart) bestand und sich andererseits darin manifestierte, dass österreichische „Sendboten“ auswärts (etwa in Mannheim/D) frühzeitig etablierten, „was dann in Wien zur höchsten Vollendung gedeihen sollte“ (S. 774). Aufklärung und Katholizismus würden die weltanschauliche Basis der Wiener klassischen Schule bilden. Der Instrumentalmusik, von der alle „Beleuchtungsversuche der Forschung“ auszugehen hätten (S. 787), schrieb Adler zentrale Bedeutung zu. Als wichtige kompositionstechnische Mittel der Epoche nannte er motivisch-thematische Arbeit, Variation, kontrapunktische Behandlung und v. a. das „obligate Akkompagnement “, das den ehemals scharfen Gegensatz zwischen kontrapunktischem Stil und homophoner Schreibart überwunden hätte. Im Anschluss an Adler gliederte W. Fischer (1930) die Epoche in eine „vorklassische Übergangszeit“ (1750–60), eine „frühklassische“ (1760–80) und eine „hochklassische Zeit“ (1780–1810) sowie die Frühromantik (1810–28).

In den letzten Jahrzehnten machte sich zunehmend Unbehagen am Begriff der K. breit. Im Allgemeinen sah sich der Epochenbegriff der W. K. dem Vorwurf einer unzulässigen Beschränkung ausgesetzt, durch die bedeutende Aspekte des Zeitalters ausgeblendet blieben. Die Konzentration auf Haydn, Mozart und Beethoven missachte die Beiträge anderer zeitgenössischer Komponisten sowohl im unmittelbaren lokalen Umfeld wie auch in anderen Städten und Ländern Europas. Überdies würden bestimmte Facetten im Schaffen der drei Hauptkomponisten – die Techniken der entwickelnden Variation und der thematischen Arbeit, die Gattungen der Instrumentalmusik gegenüber jenen der Vokalmusik, die Synthese gegenüber den Momenten des Brüchigen und Disparaten – einseitig betont und überschätzt. Friedrich Blumes Vorschlag (1958), anstelle der Epochenfolge K. Romantik den Zeitraum von 1750 bis 1900 als eine klassisch-romantische Stilepoche aufzufassen, rechnete mit einer Überlagerung widersprüchlicher Tendenzen – eines Strebens nach innerer Geschlossenheit und des Zugs ins Grenzenlose, Extravagante, Überschwängliche – und suchte auf solche Weise dem Vorwurf der Einseitigkeit zu entgehen.

Als repräsentativ für die aktuellen musikwissenschaftlichen Kontroversen mag die jüngste Debatte zwischen Ludwig Finscher (1996) und James Webster (2002) gelten. Während Finscher W. K. auf Kiesewetters „Epoche Haydn und Mozart“ und auf den Zeitraum zwischen Mozarts Ankunft in Wien (1781) und Haydns Verstummen als Künstler (1803) beschränkt wissen will, zieht Webster die Grenzen der Epoche weit: sie beginne mit der Thronbesteigung Maria Theresias (1740) und den Anfängen des galanten Stils in der Wiener Instrumentalmusik (ca. 1750) und ende mit dem Wiener Kongress (1814/15) oder erst gegen 1830 mit dem Tod von Beethoven und Schubert. Finscher hält an der „Einzigartigkeit der W. K.“ und der Sonderstellung Wiens fest, ohne jedoch deren europäische Hegemonie in ihrer Zeit zu behaupten. Zu den Meisterwerken der Zeit zählt er neben Instrumentalmusik auch Vokalmusik wie Singspiele und Opern Mozarts sowie Haydns Oratorien und späte Messen. Websters Kritik an Finschers enger zeitlicher Begrenzung zielt v. a. auf zwei prekäre Punkte. Zum einen würde die Periode vor 1780 zu einer evolutionären Vorstufe der K. degradiert, wodurch ein radikales Meisterwerk wie etwa die Abschiedssinfonie (Hob. I:45) von Haydn dem Verdikt des Unreifen und Experimentellen verfiele. Zum andern würde durch eine solche Beschränkung die Neuheit von Beethovens Stil übermäßig akzentuiert. Beethoven habe in der 1790er Jahren einen ähnlich intensiven Kontakt zu Haydn gepflegt wie Mozart in dem Jahrzehnt zuvor. Er habe den Stil seiner Vorgänger bedeutend weiterentwickelt, nicht aber durch einen neuen Stil ersetzt. Für den großen Zeitraum, den Webster ins Auge fasst, erscheint ihm der Begriff der W. K. zu eng; er schlägt stattdessen „Erste Wiener Moderne“ als Ersatz vor.


Literatur
MGG 5 (1996) [K.]; Beiträge v. R. Flotzinger, S. Mauser, O. Panagl u. J. Webster in G. Gruber (Hg.), W. K. Ein musikgeschichtlicher Begriff in Diskussion 2002; A. F. J. Thibaut, Über Reinheit der Tonkunst 1824 [Titelblatt 1825]; W. Ch. Müller, Versuch einer Ästhetik der Tonkunst 1830; R. G. Kiesewetter, Gesch. der europäisch-abendländischen oder unsrer heutigen Musik 1834; A. Wendt, Über den gegenwärtigen Zustand der Musik besonders in Deutschland 1836; F. A. Gelbcke in NZfM 14 (1841); A. Kahlert in AmZ 50/18 (1848); H. Riemann, Gesch. der Musik seit Beethoven (1800–1900), 1901; G. Adler in DTÖ 31 (1908); G. Adler in ders. (Hg.), Hb. der Musikgesch. 3 (11924, 21930), 768–795; MGG 7 (1958) [K.]; Th. W. Adorno in Musikalische Schriften 1–3 (1997) (Gesammelte Schriften 16), 126–144; L. Finscher in Dt. Jb. f. Musikwissenschaft 11 (1967); H. H. Eggebrecht, Versuch über die W. K. Die Tanzszene in Mozarts „Don Giovanni“ 1972; L. Finscher in C. Dahlhaus (Hg.), Die Musik des 18. Jh.s 1985; J. Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony and the Idea of Classical Style 1991; A. Gerhard in Das achtzehnte Jh. 24/1 (2000); F. Celestini in Ad Parnassum 1/1 (2003); (Linzer) Tages-Post 27.2.1910, 8, 15.12.1910, 10.

Autor*innen
Martin Eybl
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.20063.12.2021
Empfohlene Zitierweise
Martin Eybl, Art. „Wiener Klassik‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.20063.12.2021, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e6cb
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DOI
10.1553/0x0001e6cb
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