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Ziehharmonika
Musikinstrument, bei dem der Ton mit Hilfe frei schwingender (durchschlagender) Zungen (früher: Federn) erzeugt wird. Die Z. besteht aus einem Balg, den der Spieler zusammendrückt und wieder auseinander zieht, um den notwendigen Luftstrom zu erzeugen, sowie aus Stimmstöcken mit Kanzellen (Windkanälen), die an beiden Seiten des Balges angebracht sind und die Zungen tragen. Mit Hilfe von Tastaturen öffnet der Spieler jene Windkanäle, deren Zungen ansprechen sollen. Technisch gesehen ist die Z. also eine durch Balg und Tastatur (Knopf- oder Klaviaturhebel) verbesserte Mundharmonika nach dem Vorbild der chinesischen Mundorgel. In den 1820er Jahren experimentierte die Familie Buschmann (Kunstgewerbler und Musiker aus Thüringen/D) mit durchschlagenden Zungen; sie entwickelte 1821 die Mund-Aeolone als Hilfsinstrument zum Orgelstimmen und davon ausgehend 1822 die Hand-Aeoline mit Faltenbalg. In Wien ließ C. H. Demian 1829 das Accordion patentieren (Harmonika-Instrumente). Während sich dieses im Lauf der Zeit zum sog. Wiener Modell wandelte, führte die Weiterentwicklung der Hand-Aeoline Buschmanns zur sog. Deutschen Harmonika. Alle diese Instrumente sind wechseltönig (d. h. Zug und Druck erzeugen verschiedene Töne) diatonisch gestimmt; erst eine weitere Entwicklung um 1850, die Wiener Schrammelharmonika, ist chromatisch. Das wechseltönig diatonische Wiener Modell lebt heute noch verbessert als Steirische Harmonika, in Österreich auch Steirische, Ziach oder Zugin genannt. Sie war ursprünglich dreireihig (d. i. 3 Knopfreihen entsprechend drei Tonarten), heute gibt es auch vier- bis fünfreihige Instrumente; nach ähnlichem Prinzip funktioniert das Schwyzerörgeli. In Wien mit einem hohen Standard des Metall und Holz verarbeitenden Handwerks hat sich bald nach der Erfindung des Instruments eine ausgedehnte Harmonikaproduktion in Einzelanfertigung durchgesetzt, die sich allerdings seit der Mitte des 19. Jh.s gegen die kostengünstigeren Manufakturen in Deutschland behaupten musste. Während der letzte Schrammelharmonikabauer (K. Macourek) in Wien 2004 seinen Betrieb eingestellt hat, floriert der Bau diatonischer Harmonikas bei mehreren Erzeugern in Österreich, Slowenien und Italien. Diese diatonischen Instrumente werden in der Volksmusik und der volkstümlichen Kommerzmusik eingesetzt; die Klavierharmonika, heute auch Akkordeon genannt, chromatisch gestimmt und mit Klaviertasten zu bedienen, darüber hinaus hauptsächlich in der internationalen Tanz- und Unterhaltungsmusik. Die Z. wird vielfach autodidakt oder auch in Vereinen erlernt; für die diatonischen Instrumente wurden eigene Griffschriften entwickelt. Als typisches Produkt des 19. Jh.s ist die Harmonika darauf angelegt, alle Käuferschichten anzusprechen; sie ist in großer Anzahl produzierbar, zum Versand geeignet, robust, wartungsarm, tropentauglich, modifizierbar und mobil, geeignet für Landpartien, Schiff, Schützengraben, Ball- und Konzertsaal, pflegeleicht und benutzerfreundlich. Sie muss vom Spieler nicht gestimmt werden, kann im Einmannbetrieb Melodie, Bass und Begleitung produzieren und ist komfortabel auch für lange andauernde Spielereien. Das hat zu ihrer internationalen Verbreitung beigetragen; auch in der österreichischen Volksmusik hat sie vielfach ältere Besetzungen ergänzt bzw. ersetzt (z. B. in der Geigenmusik). Seit 2000 findet in Wien jährlich ein Akkordeonfestival statt, bei dem vielfältigste Kunst- und Volksmusikstile rund um das Akkordeon vorgestellt werden; in Graz besteht seit 2003 ein von öffentlicher Hand gefördertes Harmonikazentrum.
Literatur
MGG 4 (1996) [Harmonikainstrumente]; K. M. Klier, Volkstümliche Musikinstrumente in den Alpen 1956; W. Maurer, Accordion. Hb. eines Instruments, seiner historischen Entwicklung u. seiner Lit. 1983; NGroveDMI 1 (1984) [Accordion] u. 2 (1984) [Harmonica]; Ch. Wagner, Das Akkordeon oder die Erfindung der populären Musik. Eine Kulturgesch. 2001.

Autor*innen
Gerlinde Haid
Letzte inhaltliche Änderung
22.3.2022
Empfohlene Zitierweise
Gerlinde Haid, Art. „Ziehharmonika‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 22.3.2022, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00021bce
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.

MEDIEN
Oskar Thiede (?), Ziehharmonikaspieler als Fassadenskulptur am Gemeindebau ‚Goethehof‘ (vor 1932). Schüttaustraße 1–39 (Wien XXII)© Björn R. Tammen
© Björn R. Tammen
Elisabeth Turolt, Ziehharmonikaspieler, Zementplastik (1955/58). Gemeindebau ‚Ernest-Bevin-Hof‘, Andergasse 12–22 (Wien XVII)© Björn R. Tammen
© Björn R. Tammen

DOI
10.1553/0x00021bce
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