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Kirchensinger
Kleine Gruppen von meist fünf bis zwölf SängerInnen, die lange Zeit hindurch Träger des geistlichen Liedgutes abseits der Städte waren und nicht mit einem heute üblichen Kirchenchor zu vergleichen sind. Es gab zwar keinen musikalischen Leiter im Sinne eines Chormeisters, wohl aber im Sinne eines „Kantors“, der die aus der mündlichen Tradition übernommenen Melodien anstimmte. Noten gab es nur ganz vereinzelt, denn kaum ein Sänger konnte Noten lesen. Dafür wurden für die Texte sehr umfangreiche und z. T. auch schön gestaltete Liederbücher angelegt.

Als Mitglieder benachbarter Familien gehörten die K. v. a. dem Bauernstand an. Ihre Aufgabe war es, beim Gottesdienst und bei den in der Kirche wie auch außerhalb durchgeführten Andachten und Prozessionen ein entsprechendes Liedgut vorzutragen. So waren ihre geistlichen Lieder z. B. auch bei der Totenwacht (Totenlied) fester Bestandteil. Ihr Singen war nicht eine Gemeinschaftsaktion mit allen an der jeweiligen religiösen Handlung Beteiligten, sie agierten als deren Stellvertreter. Mit fest gefügten, aus einer langen Tradition übernommenen Liedern artikulierten sie singend das Lob Gottes und aller Heiligen, erzählten von den Geschehnissen des Kirchenjahres und trugen Bitten im naiven Klang ihrer überlieferten Singkultur vor. Manchmal wurde ihr Singen auch von der Orgel begleitet.

Durch das oft ererbte Ehrenamt der K. und die damit verbundene Anerkennung innerhalb der dörflichen Gemeinschaft nahm das funktionell eingebundene Lied eine eng mit den Ausführenden verknüpfte Sonderstellung ein. Das Volk identifizierte sich mit den Singenden und dem dargebotenen Inhalt. Aufgrund der generationenlangen Verankerung der Lieder im gottesdienstlichen Ablauf und der Übernahme eines Teiles dieser Gesänge in den privaten Rahmen bildete sich eine Singkultur besonderer Art aus.

Abgesehen von den noch vorhandenen Formen eines solchen Singens in Südtirol wurde diese autochthone Singpraxis in Österreich im 19. Jh. aus ästhetischen und gattungsspezifischen Gründen einerseits von der Aufklärung, andererseits von den Reformern des Cäcilianismus verdrängt. Dies hatte seine Gründe in der aliturgischen Beschaffenheit der vorwiegend hochsprachlich geformten und sehr strophenreichen Lieder, denn neben wenigen Beispielen von übernommenen älteren Kirchenliedern stellte der Hauptteil ein nicht approbiertes Liedgut dar, das sich als brauchbar erwiesen hatte und den Vorstellungen und Fähigkeiten der Gläubigen entsprach. Nun wurde es als theologisch, hymnologisch und ästhetisch suspekt angesehen, als minderwertig gebrandmarkt und teilweise verboten.


Literatur
H. Herrmann-Schneider in Der Trachtler 20/58 (1992); E. M. Hois/W. Deutsch, Slg. Lois Steiner – Lieder des Weihnachtsfestkreises 1995 (= COMPA 4/1); S. Ortner in JbÖVw 53/54 (2004/05); K. Reiterer in Das dt. Volkslied 12 (1910); M. Schneider in ÖMZ 42/9 (1987); M. Schneider, Tiroler Weihnachtssingen 1988–93; M. Schneider, Tiroler Passionssingen 1990/91; M. Schneider, Tiroler Passions- u. Ostersingen 1989, 1992–94.

Autor*innen
Eva Maria Hois
Letzte inhaltliche Änderung
20.11.2006
Empfohlene Zitierweise
Eva Maria Hois, Art. „Kirchensinger‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 20.11.2006, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x001372df
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