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Kunstjazz
Der Terminus entstand in den 1920er Jahren und meint die kompositorische Auseinandersetzung mit der Idiomatik des Jazz in der Kunstmusik innerhalb dieses Jahrzehnts. Darüber hinaus hat er sich nicht durchgesetzt, er eignet sich aber dazu, die kompositorische Jazzrezeption der 1920er Jahre von jener der 1950er Jahre abzuheben. Für letztere wurde der Begriff „Third Stream“ (Schuller) geprägt. Im Unterschied zur kompositorischen Jazzrezeption der 1920er Jahre konzentrierten sich Kompositionen ab den 1950er Jahren auf die Fusion von Kunstmusik mit den klanglichen, v. a. improvisatorischen Möglichkeiten des Jazz.

Der Jazzbegriff der europäischen Komponisten der 1920er Jahre unterschied sich beträchtlich von der heutigen Definition. Generell wurde der Jazz so rezipiert, wie er in der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Bereich erklang. Mit Tanzmusik und der „Jazz-Band“ (auch „die Jazz“ genannt) assoziiert, wurde Jazz auch als Ausdruck des damaligen Lebensgefühls verstanden: Protest, Abkehr von der politischen und wirtschaftlichen Instabilität der Zwischenkriegszeit. Gleichzeitig wurde Jazz mit amerikanischem Lebensgefühl in Verbindung gebracht, das als fortschrittlich, modern, gegebenenfalls auch exotisch, dekadent und grotesk empfunden wurde.

Die Übernahme von Jazzelementen in die Kunstmusik war in der Zeit um 1920 von zwei Bestrebungen motiviert: Einerseits wurde das Ziel verfolgt, mit Hilfe des Jazzidioms eine neuartige Kompositionsrichtung zu begründen, andererseits den Jazz – dessen Einfluss in Europa, respektive in Österreich, gleichermaßen befürwortet und abgelehnt wurde – vom Nimbus der bloßen Tanzmusik und des niederen Ursprungs zu befreien und damit eine „Veredelung des Jazz“ (E. Schulhoff) anzustreben. Ausgangspunkt für die kompositorische Auseinandersetzung waren allgemein die Formen afro-amerikanischer Musik und besonders die rhythmische Wirkung der Tänze (Shimmy, Foxtrot, Black Bottom, Ragtime), deren Bezeichnungen gleichzeitig Synonyme für den Jazz waren. Von Interesse für die kompositorische Rezeption des Jazz in der Kunstmusik war ferner die instrumentale Besetzung der sog. Jazzbands (Instrumente der Saxophonfamilie, Banjo etc.).

Um 1920 nehmen auch theoretische Überlegungen zum Jazz zu (Baresel, Egg, Bernhard). In seinem Aufsatz Kunst-Jazz (1927) unterscheidet Alfred Baresel die kompositorische Beschäftigung mit dem Jazz in der Kunstmusik vom „Gebrauchs-Jazz“. Das erste deutschsprachige Jazzbuch vom selben Autor enthält nicht nur Diskussionen über die Zukunft des Jazz, sondern gibt auch konkrete Anweisungen zum Komponieren unter Einsatz von Jazzelementen. Es hat nachweislich einigen mitteleuropäischen Komponisten als Anleitung zum Komponieren gedient. So zum Beispiel Alban Berg, der sich diesbezügliche Anregungen für seine Konzertarie Der Wein (1928) aus Baresels Buch holte. Auch E. Wellesz nimmt in seiner Schrift Die neue Instrumentation (1929) Bezug auf das Thema „Einbeziehung [des Jazz] in das Material der Kunstmusik“. Als Beispiele führt er W. Grosz' Baby in the Bar, M. Brands Maschinist Hopkins und K. Weills Dreigroschenoper an. Diese Komponisten und deren Werke werden auch in anderen zeitgenössischen Quellen genannt, hinzu kommen Namen wie E. Schulhoff, E. Krenek, F. Petyrek, K. Rathaus u. a.

Auch die Musikfachzeitschriften in Österreich behandeln ab 1925 in div. Sonderheften das Thema der kompositorischen Rezeption des Jazz in der Kunstmusik. Im Editorial der Musikblätter des Anbruch (1925) bekennt sich P. Stefan zum Jazz als Erneuerer, wenngleich auch die in Wien spürbare Ablehnung deutlich wird: „Da wir, lieber Leser, Besseres zu tun haben, als auf irgend eine Art von ‚Würde‘ bedacht zu sein, sprechen wir hier vom Jazz. [...] In einem sind sie, sind wir einig: daß dieses böse Etwas, der Jazz, der Anfang einer Revolution sein kann.“ (Um 1925 sind ähnliche Diskussionen zum Thema Jazz in anderen deutschsprachigen Fachzeitschriften wie Auftakt, Melos, Zeitschrift für Musik und Die Musik zu verzeichnen.)

Weiters behandelt in Österreich der erste Jahrgang des Jahrbuchs der Universal Edition, der Jubiläumsband 25 Jahre Neue Musik, das Thema Jazz unter dem Aspekt einer möglichen Einbindung in die zeitgenössische Komposition. In seinem Aufsatz Vom Jazz fasst der mit diesem Genre befasste Komponist Louis Gruenberg (1884–1964) diesen Aspekt zusammen: „Ob der Jazz einen wirklichen Gewinn für die Musik bedeuten wird, hängt einzig und allein davon ab, ob in dieser Gattung wirkliche Kunstwerke geschaffen werden, die den großen Meisterwerken der Vergangenheit würdig zur Seite stehen können.“

Kaum ein Komponist der 1920er Jahre konnte sich dem Jazz entziehen, wenngleich das Ausmaß und die Art der Auseinandersetzung mit dem Jazzidiom in der Komposition stark variierte. Der Begriff K. kann in Anbetracht der großen Anzahl von Jazz-beeinflussten Kompositionen der 1920er Jahre nicht eindeutig bestimmten Kompositionen zugeordnet werden. Für Opernkompositionen gibt es hier Berührungspunkte mit dem Begriff „Zeitoper“.


Werke
Liste von Kompositionen s. Cook und Schwab.
Literatur
A. Baresel, Das Jazz-Buch. Anleitung zum Spielen, Improvisieren und Komponieren moderner Tanzstücke 1925, 41926; A. Baresel in Melos 7 (1928); P. Bernhard, Jazz: eine musikalische Zeitfrage 1927; B. Egg, Jazz-Fremdwörterbuch 1927; E. Wellesz, Die neue Instrumentation 2 (1929); Beiträge v. L. Gruenberg, O. Bie u. J. M. Hauer in H. Heinsheimer/P. Stefan (Hg.), 25 Jahre Neue Musik. Jb. 1926 der Universal-Edition 1926; Beiträge v. P. Stefan, A. Jemnitz, L. Gruenberg, D. Milhaud, C. Saerchinger u. P. A. Grainger in Musikbll. des Anbruch 7 (1925); S. C. Cook, Opera for a New Republic. The ‘Zeitopern’ of Krenek, Weill, and Hindemith 1988; A. Dümling in D. Stern (Hg.),Angewandte Musik. Zwanziger Jahre: Exemplarische Versuche gesellschaftsbezogener musikalischer Arbeit für Theater, Film, Radio, Massenveranstaltung 1977; I. Harer in R. Flotzinger (Hg.), Fremdheit in der Moderne 1999; MGG 4 (1996) [Jazz-Rezeption]; F. Ritzel in A. Bingmann et al. (Hg.), [Fs.] L. Hoffmann-Erbrecht 1988; J. Bradford Robinson in B. Gilliam (Hg.), Music and Performance during the Weimar Republic 1994; S. Rode-Breymann in Musiktheorie 10/1 (1995); H. W. Schwab in Årbog for musikforskning 10/1979 (1980).

Autor*innen
Ingeborg Harer
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Ingeborg Harer, Art. „Kunstjazz‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d681
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