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Musikerroman
Umfangreiche Prosaerzählung, in der das Leben, die Entwicklung, das künstlerische Werk, der Erfolg wie das Scheitern eines Musikers, vorrangig eines Komponisten, dargestellt wird. Der praktikable, standardsprachlich übliche, aber terminologisch wenig präzise Begriff hat nach mehreren Seiten hin unscharfe Ränder. So wird auch ein episches Werk, in dem die Musik allein die Handlung dominiert bzw. eine besondere Wirkung entfaltet, diesem Genre zugerechnet, wenngleich man in diesem Fall besser von Musikroman bzw. Musikerzählung reden sollte. Desgleichen gibt der Umfang und Duktus der Erzählung eine Abgrenzung vor, die sich freilich als fließend erweist. Besonders sollte bei kürzeren Texten, die ein einzelnes, gleichsam „unerhörtes“ Ereignis darstellen, eher von Musik(er)novelle gesprochen werden, um den Roman nach literaturwissenschaftlicher Kategorisierung jenen fiktiven Prosawerken vorzubehalten, die nach gängiger Definition einen breiten Lebensabschnitt oder das Lebensganze einer Person darstellen, besonders in Verbindung mit der von ihr erfahrenen, sie prägenden, bisweilen auch als feindselig erlebten Umwelt. Da es sich aber durchwegs um graduelle (bzw. skalare) Unterschiede, nicht aber um eine binäre Opposition (also eine Antinomie) handelt, sei in diesem Rahmen auch die Musik(er)novelle behandelt, zumal in einigen europäischen Kultursprachen die Terminologie abweicht (vgl. span. novela; engl. novel „Roman“, während romance den romantischen Liebes- oder Abenteuerroman bezeichnet).

Eine am Inhalt, der literarischen Absicht und der epischen Darstellungsweise orientierte Typologie ergibt in erster Annäherung folgende Unterarten bzw. Sorten.

(1) Der Autor versucht neue, bisher wenig bekannte oder gar unentdeckte Wesenszüge oder biographische Merkmale der Hauptperson freizulegen. Eine originelle Sicht auf den Lebensplan und die Entwicklung des künstlerischen Vermögens verbindet sich mit Begegnungen, Auseinandersetzungen, auch Konflikten des Romanhelden mit seinen Zeitgenossen, Freunden, Förderern oder Konkurrenten. Als Beispiele dieser Spezies gelten Franz Werfels Verdi. Roman der Oper (1924) oder von Frank Thieß Puccini. Versuch einer Psychologie seiner Musik (1947).

(2) Eine andere Sorte des M.s will der Wiederentdeckung bzw. der adäquaten Würdigung eines verkannten oder verschollenen Komponisten dienen und zuarbeiten. Die Rekonstruktion und Interpretation der einzelnen Biographie wird oft in das Panorama einer typischen Epoche gestellt, deren Spezifik das Einzelschicksal zusätzlich begründet. Albert Emil Brachvogels ursprünglich dreibändiger Roman Friedemann Bach (1858) ist ein charakteristischer, freilich in seinem literarischen Wert zweifelhafter Vertreter dieser Untergattung.

(3) Ein weiterer Typus dient dem Autor als Instrument, eigene Lebensprobleme auszulagern, persönlich erlebte Stimmungen, Krisen und Niederlagen auf eine als wahlverwandt empfundene künstlerische Persönlichkeit zu projizieren. Dieses – durchaus mit subjektiver Verehrung verknüpfte – psychohygienische Verfahren liegt etwa in Klaus Manns Tschaikowsky-Roman Symphonie Pathétique (1935) vor. Auch die vielleicht gelungenste schöpferische Auseinandersetzung mit dem Wesen W. A. Mozarts, Eduard Mörikes Erzählung Mozart auf der Reise nach Prag (1856), weist Züge dieser Textsorte auf.

Wie schon betont, gibt es in einem typologischen Raster nicht nur Idealtypen, sondern in der Realität dominieren jene Mischtypen, bei denen die Zahl und Gewichtung der Merkmale über die Zuordnung entscheidet. Will man auch Werke in den Kanon aufnehmen, in denen die (Wirkung der) Musik selbst thematisiert wird, so bieten sich etwa Heinrich von Kleists Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik (1810), Joseph v. Eichendorffs Die Glücksritter (1841) oder Ludwig Tiecks Musikalische Leiden und Freuden (1822) als prominente Beispiele an. Den „Anti-Typus“ einer Musikernovelle, in dem gerade das künstlerische Scheitern oder das mangelnde Talent im Vordergrund steht, verkörpern z. B. F. Grillparzers Der arme Spielmann (1848) oder Theodor Storms Ein stiller Musikant (1874/75).

Hatte sich das Genre bis in das frühe 20. Jh. bevorzugt mit schöpferischen Künstlern auseinandergesetzt, so wurden danach auch ausübende Musiker, etwa berühmte Sänger, zum epischen Gegenstand (vgl. die Caruso-Erzählung von Frank Thieß Der Tenor von Trapani [1967] und schon davor seinen zweiteiligen Roman Caruso [1942–46]). Will man auch mythische Figuren als dichterisches Sujet diesem Inventar zurechnen, so müsste auch die Literatur über den vorzeitlichen griechischen Sänger Orpheus aufgenommen werden, von der Erzählung in Ovids Metamorphosen (10,1–154), von den antiken Orphischen Argonautika bis zu Carl Spittelers Olympischer Frühling (1919) und Theodor Däublers Nordlicht (1921). Weitere Grenzfälle seien kurz beleuchtet: So etwa die sog. „Biographie romanesque“, die in jüngerer Zeit auch der Sänger D. Fischer-Dieskau mit Büchern zur Sängerin Pauline Viardot (Wenn Musik der Liebe Nahrung ist [1990]), über J. F. Reichardt (Weil nicht alle Blütenträume reiften [1992]), besonders aber über Claude Debussy und (mittelbar) Paul Dukas (Fern die Klage des Fauns [1997]) literarisch bedient hat. Ein weiterer Grenzgänger ist Thomas Manns Doktor Faustus (1947): Wie schon der Untertitel verrät (Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde), ist der Romanheld eine fiktive Gestalt, in deren Wesenszüge und Merkmalprofil gleichwohl Eigenschaften authentischer Personen Eingang gefunden haben (H. Pfitzner, A. Schönberg als Schöpfer der Zwölftontechnik), besonders H. Wolf, mit dessen Biographie sich Mann nachhaltig beschäftigt hat und der in mehreren Details (mitgeführte Gummi-Badewanne, Ausbruch der Paralyse bei der Vorführung eines neuen Werkes) nicht zu verkennen ist.

Der Österreichbezug soll hier durch die Spieglung dreier Komponisten in der Belletristik erfüllt werden: W. A. Mozart, Fr. Schubert, A. Bruckner. Die jeweils bescheidene Auswahl der Beispiele beschränkt sich auf typische Vertreter der einzelnen Sorten.

Während E. Mörikes Mozartnovelle nur einen Ausschnitt aus der Biographie wählt, darin die authentische Reise nach Prag mit einer erfundenen Episode anreichert und sich auf die Akzeptanz eines Genius durch die Gesellschaft sowie auf die Dialektik von künstlerischer Vollendung und physischer Erschöpfung konzentriert, beschäftigen sich zahlreiche Trivialromane mit seiner ganzen Biographie (Heribert Rau [1858]; Ottocar Janetschek [1924]; Felix Huch [1941]; Elisabeth Soffé [1948]; Valerian Tornius [1957]). Besonderes Interesse galt immer wieder den legendenumwobenen Abschnitten seines Lebens, so der Konkurrenz zu A. Salieri (Rudolph Genée, Der Tod eines Unsterblichen [1891], Hans Nüchtern, Der große Friede [1922]), dem Verhältnis zu L. Da Ponte (Julius Grosse, Da Ponte und Mozart [1874], Günther Andrees Mozart und Daponte oder Die Geburt der Romantik [1936]) oder der Entstehung des Requiems (Hugo Schoeppl [1903], Karl Soehle [1907], Leo Kalser [eig. Maasfeld], Der Tod eines Unsterblichen [sic, 1916]). Auf hohem Niveau evoziert Louis Fürnberg in seiner Mozart-Novelle (1947) eine fiktive Begegnung des Komponisten mit Giacomo Casanova in Prag. Grenzen der Gattung stellen die Bücher von Annette Kolb (Mozart [1937]), Wolfgang Hildesheimer (Mozart [1977]) und Hanns-Josef Ortheil (Mozart im Innern seiner Sprachen [1982]) dar. Während Kolb biographische Recherche mit poetischer Diktion und subjektiver Auslegung verschränkt, versucht Hildesheimer in seinem vieldiskutierten Buch mit tiefenpsychologischen Einsichten das gängige Mozartbild zu korrigieren bzw. zu widerlegen, auch – etwa am Beispiel der Zauberflöte – Werke ästhetisch neu zu bewerten. Nach den Worten von Alfred Muschg „nicht Brevier für Spezialisten, nicht Trostbuch für Schwärmer“, sondern „vielleicht das erste reale Mozart-Portrait: eine gewaltige Etüde zum Thema Rezeption, kritisch auf allen Stufen“. Ortheils Monographie mag man als Großessay klassifizieren. Der Autor versucht aus dem wechselnden Tonfall von Mozarts Sprachgebrauch in seinem Briefcorpus psychische Befindlichkeiten und Wandlungsprozesse herauszulesen: die Auflehnung gegen Autoritäten, die Emanzipation vom Vater, die emotionale, fast kindliche Öffnung zu Konstanze. Am Rande sind auch Werke wie E. T. A. Hoffmanns Don Juan (1813) und Der Steppenwolf von Hermann Hesse (1927) einschlägige Beispiele: Die erstgenannte Novelle als Beleg für ein dämonisches Mozartklischee (Klischee) und die ekstatische Wirkung seiner Musik, der Roman für die Alternative einer quirligen, kichernden, fast monströsen Kunstfigur.

Fr. Schubert leidet nachhaltig an einem Stereotyp, der besonders von Rudolf Hans Bartschs Roman Schwammerl (1912) geprägt wurde: der Künstler als dicklicher, gutmütiger, unpraktischer, vom Leben enttäuschter, als Liebhaber versagender Repräsentant der Biedermeier-Epoche, der seine herben Enttäuschungen zu kreativen Leistungen sublimiert. Joachim Kupsch schürft dagegen in seinem Roman Winterreise (1967/1989) tiefer. Sein Held leidet an einem Vaterkomplex, der während der letalen Krankheit auch andere beherrschende Figuren (J. M. Vogl, Johann Wolfgang v. Goethe, L. v. Beethoven) zu einem mächtigen Popanz aufbläht. Peter Härtlings Buch Schubert. Zwölf Moments musicaux und ein Roman (1992) bezeichnet schon im Titel ein doppeltes Programm: In 20 Romankapiteln führt der Autor einzelne Stationen von Schuberts Leben vor, wobei die innere vor der äußeren Biographie dominiert und mehr den Ursachen als den Phänomenen nachgegangen wird. Um dem sentimentalen Biographie-Typus zu begegnen, reduziert Härtling gegen Ende seine Darstellung zu kargen, protokollartigen Notizen in zum Teil asyntaktischer, fragmentierter Sprache. Die mit Tempoangaben überschriebenen Moments durchbrechen die „Handlung“ durch Reflexionen, aphoristische Vergleiche, deutende Verweise, Einblendungen der Person des Schriftstellers. Ernst Nowaks Schubert spielen (1996) stellt nach der Aussage des Autors „eine Ablagerung von Wörtern und Sätzen“ dar: „Texte, die Schubert vertont hat, seine sogenannten Lebenszeugnisse, was er selbst geschrieben hat und was um ihn herum gesprochen und geschrieben worden ist“. Als Leitmotiv durchzieht das Buch die zwanghafte, obsessive Wirkung repressiver Institutionen auf Schuberts Charakter: Familie, Kirche, Militär, staatliche Zensur.

Auch in der Belletristik rund um A. Bruckner herrscht die Schablone vor. Schon in den frühen Biographien von E. Decsey (1919) und A. Göllerich jun. (1922) hatten sich aus der persönlichen Erinnerung der Autoren einzelne Merkmale hypostasiert, emanzipiert und ins Groteske verstiegen bzw. zum Übernatürlichen verklärt. Der Topos vom „Musikanten Gottes“, aber auch vom lebenslang grenzenlos naiven Dorfschullehrer, vom Typus des stetigen Verlierers prägt auch die romanhafte Brucknerliteratur, u. a. Robert Hohlbaum, Die Stunde der Sterne (1930) und Te Deum (1950) oder Hans Joachim Moser, Die verborgene Symphonie (1936). Positiv heben sich aus der Fülle der Publikationen zwei Darstellungen ab: Louise George Bachmanns Bruckner. Der Roman der Symphonie (1938) mit einer gelungenen Engführung von Lebensprinzipien und Schaffensprozessen; sowie Oskar Loerkes Anton Bruckner. Ein Charakterbild (1938) durch die Verbindung von eingehender Analyse, Empathie und sorgfältiger Diktion.

Dass auch andere österreichische Komponisten zu Romanfiguren geworden sind, sei wenigstens an zwei Beispielen demonstriert: H. Wolf wird zum Protagonisten von Dolf Lindners Werk Der Feuerreiter (1950). Selbst (oder gerade) eine so spröde und widersprüchliche Persönlichkeit wie J. M. Hauer: in Otto Stoessls Roman Sonnenmelodie (1923), am Rande bzw. mittelbar wohl auch im Verdi-Roman F. Werfels (1923) und in H. Hesses Das Glasperlenspiel (1943).


Literatur
W. Jens (Hg.), Kindlers neues Literatur Lex. 1988; Reclams Romanlex. 2000; G. Gruber, Mozart und die Nachwelt 1985; R. Kiefer (Hg.), Musiknovellen des 19. Jh.s 1987; O. Panagl in P. Csobádi (Hg.), Summa summarum. Das Phänomen Mozart: Leben, Werk, Wirkung 1990; O. Panagl in G. Brandstetter (Hg.), Ton-Sprache. Komponisten in der dt. Literatur 1995; O. Panagl in U. Harten (Hg.), [Kgr.-Ber.] Künstler-Bilder. Bruckner-Symposion Linz 1998, 2000; BrucknerH 1996; E. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lex. dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte 1998.

Autor*innen
Oswald Panagl
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Oswald Panagl, Art. „Musikerroman‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001da87
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