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Folklore
von engl. f., einem Kompositum aus folk („Volk‘“) und lore („überliefertes Wissen, Kunde“), eigentlich „Wissen des Volkes“; 1a) Sammelbezeichnung für die Volksüberlieferungen, z. B. Lied, Glaube, Tracht, Brauch (als Gegenstand der Volkskunde); 1b) Volkskunde; 2a) Volkslied, -tanz, -musik (als Gegenstand der Musikwissenschaft); 2b) volksmusikalische Züge in der Kunstmusik; 3) Moderichtung, der volkstümliche Trachten und bäuerliche Kleidung (auch anderer Länder) als Vorlage dienen. Das 1846 vom englischen Antiquar William John Thoms als Ersatz für den Ausdruck popular antiquities geprägte Kunstwort (dt. „Volksüberlieferungen“) wurde in der 2. Hälfte des 19. Jh.s als Bezeichnung für die „Zeugnisse der Volkskunst“, insbesondere der Volksdichtung, ins Deutsche übernommen und war anfangs gleichbedeutend mit Volkskunde. In der Folge seiner Einführung wurden später im 19. Jh. die verwandten Begriffe folksong und folk music in England gebräuchlich. Johann Gottfried Herders 1771 in Nachbildung der englischen Bezeichnung popular song erfolgte Wortschöpfung Volkslied war dem vorausgegangen. Eine Einengung des Ende des 18. Jh.s üblichen weiten Begriffsfeldes von Volkskunde von der Kameralistik bzw. Staatswissenschaft, über die Geographie, Statistik, Geschichtsphilosophie, Anthropologie und Kulturtheorie bis zur Unterhaltungsliteratur ging nur allmählich vonstatten. Die idealisierenden Vorstellungen der Romantik vom „Volksgeist“, dessen Äußerungen man in Lied, Märchen, Sage, Legende, Glaube und Brauch greifbar wähnte, trugen entscheidend zum Eifer der Sammlung der Zeugnisse tradierter Volkskultur bei. Dabei wurde im Vergangenen das Vollkommene und die „Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft“ (J. Grimm) gesehen.

Heute werden in der deutschsprachigen Volkskunde unter F. v. a. die zahlreichen Gattungen der mündlichen Dichtung verstanden, wohingegen der anglo-amerikanische Sprachgebrauch alle Formen traditionell überkommener und vorwiegend oral bzw. imitatorisch vermittelter Literatur, Brauch- und Festkultur als auch materieller Kultur von vorwiegend ländlichen Gruppen (aber auch Subkulturen, Minoritäten u. a.) in Schrift-dominierten und technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften mit einschließt. In den skandinavischen und ost- bzw. südosteuropäischen Ländern bezieht sich die Bezeichnung auf den gesamten Bereich der mündlich überlieferten Kultur, während sie am südamerikanischen Kontinent allgemein für die öffentliche Darbietung von Volksliedern, -tänzen und -festen verwandt wird. Im heutigen deutschen und österreichischen Alltagssprachgebrauch steht F. insbesondere als Bezeichnung für touristische und merkantile Bemühungen im Gegensatz zu der wissenschaftlichen Volkskunde und für die kommerzialisierten Formen von Brauch, Volkskunde und Volkskunst.

Der abgeleitete Begriff Folklorismus (Aneignung bzw. bewusste Pflege von Inhalten und Formen der F. zu kommerziellen Zwecken oder zum Zweck der Selbstdarstellung von Minderheiten) wurde 1962 von dem deutschen Volkskundler Hans Moser eingeführt, um die Loslösung von Bräuchen von ihrem funktionalen Rahmen und ihrer Trägergruppe und deren zumeist verändertes, jedoch als originär und echt ausgegebenes Vorführen in einem neuen Zusammenhang zu benennen. Demgemäß stellt Folklorismus für ihn die „Vermittlung und Vorführung von Volkskultur aus zweiter Hand“ dar. In der Folge bezeichnete der deutsche Volkskundler Wolfgang Brückner 1965 das Zusammenwirken politischer Amtsträger und Parteien mit der Volkskultur bei Heimatfesten, Trachten- und Braucherneuerung als politischen Folklorismus. Im Ganzen gesehen ist die Bezeichnung Folklorismus sowohl im deutschen als auch im gesamten zentral- und osteuropäischen Sprachraum äußerst unscharf geblieben und hat inzwischen im Deutschen den Charakter eines Sammelbegriffs für die wissenschaftliche Kritik an Traditionsbehauptungen in volkskulturellen Zusammenhängen angenommen. Mit ähnlicher inhaltlicher Ausrichtung wurde 1950 von dem U.S.-amerikanischen F.forscher Richard M. Dorson der Ausdruck Fakelore zur Abgrenzung eingeführt. Kulturelle Erscheinungen, die dem Folklorismus zugerechnet werden, sind nach I.-M. Greverus durchaus unter ihren verschiedenen Bedingtheiten zu sehen: als eigenständige ökonomische Innovationen, als ästhetische Kompensationen ökonomischer Rückständigkeit, als „von Kulturmanagern aufbereitete Waren“ der Fremdenverkehrs- und Unterhaltungsindustrie oder als politisch motivierte „Hochstilisierungen eines integrativ-segregativ wirkenden Kulturideals ‚Volkskultur‘“.

Nach Hermann Bausinger ist „Volkskultur“ „nicht als autonomer Organismus zu interpretieren, sondern als Bestandteil eines komplizierten Geflechts sozialer und kulturaler Gegebenheiten“, wobei „der Begriff Volkskultur seine spezifische Färbung im Kontrast zum Begriff der Massenkultur erhält“. Ina-Maria Greverus plädierte darum in Ablösung dieser Dichotomisierung für eine „Ethnologie der Kultur der Alltagswelt“.

Drei Zugangsweisen spielen bei der wissenschaftlichen Betrachtung von F. eine bedeutende Rolle: 1) Die einzelnen volkskulturellen Erscheinungen werden als „Kunstäußerungen“ und das „Volk“ als deren Schöpfer oder Gestalter betrachtet (geisteswissenschaftliche Perspektive). 2) Man sieht in ihr das ästhetische Produkt einer Gruppe mit spezifischen Normen und Werten (sozialwissenschaftliche Perspektive). 3) Es wird weder auf eine ästhetische noch eine funktionale Betrachtung abgezielt, sondern versucht, die Sagen, Legenden usw. als Ausdruck verborgener Schichten von unbewussten Ängsten und Wünschen zu deuten (psychologisch-psychoanalytische Perspektive).

Vor ihrem tiefgreifenden, in den 1970er Jahren einsetzendem Wandel – der sich z. T. in Umbenennungen in Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie oder Empirische Kulturwissenschaft niederschlug – sind nach Kaspar Maase der deutschsprachigen Volkskunde-Disziplin bei der Untersuchung von F. folgende Züge zur Last zu legen: „im Historischen die Mißachtung von Quellenfundierung und Quellenkritik zugunsten spekulativer Konstruktionen des ‚Volkstums‘“, „im Sozialen die bewusste Abwendung von Industriemoderne und Massenkultur zugunsten einer romantisierten ‚Volkskultur‘, die man vor allem einem verklärt gezeichneten Bauerntum zuschrieb“, und „im Methodischen die Vorliebe für Objektivationen, die aus dem praktisch-funktionalen Kontext sozial und historisch spezifischer Lebensweisen herausgelöst waren“.

Unter Musik-F. – insbesondere unter der „vergleichenden Musik-F. – verstand Béla Bartók 1919 einen „der jüngsten Zweige der Musikwissenschaft einerseits, der F. anderseits“, als dessen Ziel „die Erforschung der durch mündliche Tradition fortgepflanzten Musik (einschließlich Volksgebräuche, die mit Musik verbunden sind) sämtlicher Völker“ anzusehen sei, wobei „in Europa wohl nur Volksmusik im engsten Sinne des Wortes (d. h. Bauernmusik), in exotischen Ländern dagegen auch städtische Kunstmusik, die ja dort ebenfalls nur auf diese Weise von Generation zu Generation vererbt wird, in Betracht kommen kann“. Dass es sich bei der Erforschung der „Stilarten einer mehr oder minder exotischen Volksmusik“ „nicht nur um die Erreichung rein wissenschaftlicher Ergebnisse handelt, sondern auch um solche, die auf schaffende Musiker anregend wirken“, stand für Bartók außer Zweifel.

Für Fritz Bose hat 1967 die (musikalische) F. „in dem weiten Niemandsland zwischen Schlager und Volkslied einen festen Standort bezogen“. Angesichts des internationalen Folk-Revivals kommt er zu dem Schluss, dass „man in Zukunft also unter F. jene Gattung volkstümlicher und unterhaltender Gesänge verstehen wird, die auf Volksliedern aller Sprachen und Rassen aufgebaut sind sowie auf neues Volksgut im Stil dieser Vorbilder“, auch wenn der Ausdruck F. „als Name für eine spezielle Art von Musik recht unglücklich gewählt“ sei. Für Ernst Klusen wird man sich darum „damit abzufinden haben, dass der Begriff F., ‚verfügbar und schillernd geworden‘ (Bausinger), – ähnlich wie das Wort ‚klassisch‘ – in einer wissenschaftlich exakten und einer vulgären Bedeutung nebeneinander bestehen wird“.

In Weiterführung der Überlegungen von Heinrich Besseler, John Meier und Ernst Klusen ist nach Max Peter Baumann der Begriff Musik-F. „auf alle traditionalen, mit der mündlichen Überlieferung verbundenen musikkulturalen Phänomene ‚nicht-literarischer‘ Existenz“ zu beziehen, wobei „Lieder, die schriftlich bereits fixiert sind, durchaus noch der F. zuzurechnen sind, solange ihre Tradierung weiterhin auf mündlicher, theorieloser und auch laienmäßiger Primärfunktion beruht“. Musik-F. sei daher nicht vom musikalischen Inhalt her zu begreifen, sondern „von den bestimmenden formalen Eigenschaften kommunikativen Musikverhaltens“, und mit folgenden Merkmalen versehen: 1) keine Notenschrift-Fixierung, vielmehr Modell und dessen Variationen, 2) Variabilität, 3) Ergebnis von Subjektivationen und Lückenhaftigkeit im Prozess der Überlieferung, 4) Umgestaltung, Selektion, verändernde Praxis, 5) nicht abgeschlossen, kein Ganzes, 6) direkte Funktionalität, 7) Improvisation, 8) Unbeständigkeit, Veränderlichkeit, Zufälligkeit, 9) auditive Vermittlung, 10) nicht zu bloßen Unterhaltungszwecken, 11) keine reine Vorführungspraxis, 12) Unterscheidung zwischen Komponist und Interpret unwesentlich, 13) wiederholte Neuschöpfung und verändernde Re-Interpretation, 14) Flexibilität, 15) Theorielosigkeit, 16) keine geschichtlichen Betrachtungen über die Musik und 17) keine „Kompositions“-Vorstellungen. Musikfolklorismus hingegen ist zum einen als „Wiederbelebung von ‚ursprünglicher‘ F.“ im Sinne eines Akkulturationsprozesses und zum anderen als „‚trivialisierende‘ Imitation“ zu sehen und anhand folgender Merkmale abzugrenzen: 1) notenschriftliche Aufzeichnung, 2) bearbeitete Folklorisierung, Invariablität, Reproduzierbarkeit, 3) Bearbeitungs- oder Imitations-„Kunst“, 4) direkte Auswirkung der Akkulturation von Musik-F. und Kunstmusik, 5) Aufführungsbezogenheit, ästhetisierende und stilisierte Nachahmung der F., 6) sekundärfunktionale Gegenwelt, organisiert einstudierte Aufführung und Schaustellung, 7) strikte Trennung zwischen Aufführenden und Zuhörern und zwischen Komponist und Interpret, 8) konservative Kulturkritik, 9) theoretisierend, geschichtsbewusst, Wiederbelebung und Erneuerung der F., 10) Innovationsvorgang, 11) „Nivellierung“, 12) emanzipierte und dynamisierte Musik-F., 13) Idee der folkloristischen Lebenswelt, 14) Selbstbehauptung, 15) Vorliebe für touristische und nationale Argumente, Popularisierung und Überbetonung des „nationalen Erbes“, 16) politischer Musikfolklorismus, Tendenz zu Wir-Bewusstsein und retrospektiver Konservierung, 17) geht von städtischen und gebildeten Kreisen mit Interesse am „Volkshaften“ und an der Weiterverbreitung aus.


Literatur
Lit (alphabet.): B. Bartók in Musikbll. des Anbruch 1/3–4 (1919); M. P. Baumann, Musik-F. und Musikfolklorismus 1976; H. Bausinger in Populus revisus 1966; H. Bausinger et al. in Zs. für Volkskunde 63 (1967) u. 65 (1969); H. Bausinger et al., Grundzüge der Volkskunde 41999; H. Besseler in Jb. der Musikbibliothek Peters 32 (1925); F. Bose in Zs. für Volkskunde 63 (1967); R. W. Brednich (Hg.), Grundriss der Volkskunde 1988; W. Brückner in Zs. für Volkskunde 61 (1965); J. H. Brunvand, The Study of American F. 31986; R. M. Dorson in Zs. für Volkskunde 65 (1969); R. M. Dorson (Hg.), Handbook of American F. 1983; Duden: Das große Fremdwörterbuch 22000; Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3 (31999); F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 231995; I.-M. Greverus, Kultur und Alltagswelt 1987; J. Grimm, Ueber den altdeutschen Meistergesang 1811; J. G. Herder, Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan 5 (1881/1967); U. Jeggle et al. (Hg.), Volkskultur in der Moderne 1986; E. Klusen in Jb. für Volksliedforschung 12 (1967); E. Klusen in H. Antholz/W. Gundlach (Hg.), Musikpädagogik heute 1975; G. Kossinna in Zs. des Vereins für Volkskunde 55 (1962); H. Moser in Hessische Bll. für Volkskunde 55 (1964); Österreichisches Wörterbuch 381997; W. Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 41999; The New Encyclopædia Britannica 19 (151986); G. Wahrig et al. (Hg.), Deutsches Wörterbuch 1981.

Autor*innen
Michael Weber
Letzte inhaltliche Änderung
18.2.2002
Empfohlene Zitierweise
Michael Weber, Art. „Folklore‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 18.2.2002, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001cdc1
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