Thurner
(Türmer)
Auf eine alte zurückgehende Bezeichnung für Türmer, die seit dem späten
Mittelalter bis gegen Ende des 19. Jh.s v. a. von Städten eingesetzt und entlohnt wurden (in Deutschland meist als „Stadtpfeifer, -musikanten“ o. ä.), benannt nach dem Ort ihrer Tätigkeit und Wohnung: auf einem Wehr-, Stadt- oder auch Kirchturm. Dem
Th. und seinen meist mehreren Gesellen oblagen v. a. die Bewachung und gegebenenfalls Alarmierung der Stadt, Ankündigung von freund- wie feindlichen „Besuchern“ (durch
„anblasen“, „Glockenstreiche“ [=
„anschlagen“], Aushängen farbiger Fahnen); dazu erst kamen musikalische Auftritte aller Art, die meist vertraglich geregelt waren: in der Pfarrkirche, bei Prozessionen etc. mitzuwirken, zu bestimmten Anlässen wie Ratssitzungen etc. mit Musik aufzuwarten, hochgestellte Persönlichkeiten zu begrüßen (
Ansingen) usw. Entsprechende Instruktionen sind seit dem 16. Jh. z. T. erhalten (z. B. aus
St. Pölten 1561, Eggenburg/NÖ 1566,
Horn 1598; in
Bregenz noch aus dem 19. Jh. [u. a. Verpflichtung, bürgerliche Brautpaare auf dem Weg zur Trauung anzublasen; ähnlich in
Feldkirch um 1800, jedoch vom Turm aus]). Zur Bestätigung ihrer Anwesenheit und Wachsamkeit hatten sie zumindest morgens, mittags und abends, mancherorts auch stündlich vom Turm zu blasen. Ihre Signale waren, ähnlich wie die des Militärs oder Nachtwächterrufe (
Rufe), genormt und mit bestimmten Informationswerten ausgestattet. Nicht selten hatte eine Stadt (ähnlich wie ein Herrscher oder ein Stift) sozusagen als musikalische Standarte (Heraldik) ihre eigene
Intrada, Fanfare o. ä. Da diese mündlich tradiert und obwohl sie gegebenfalls auch mehrstimmig improvisiert wurden, sind sie nur höchst selten überliefert (z. B. in Horn oder
Hall i. T.) oder befinden sich noch unerkannt in Kompositionen (v. a. des Barock). Zunehmende Stilisierung solcher Stücke schlagen sich auch in der seit dem späten 16. Jh. aufkommenden Bläsermusik (z. B.
A. Orologio) nieder.
Th. waren meist sehr umfassend und in mehreren Instrumenten ausgebildet, unterrichteten nicht nur ihre Gesellen (durchaus handwerklich, denn der Th. war „Meister“ eines Gewerbes), sondern bildeten stets eine nicht zu unterschätzende Gruppe, aus der sich Musiker aller Richtungen rekrutierten. Allerdings waren sie meist (oft absichtlich) schlecht bezahlt, sodass sie zum Zusatzverdienst (v. a. als Tanzmusiker) gezwungen waren. Daraus resultierten nicht selten Zwistigkeiten mit anderen Musikern (z. B. Organisten) der Stadt oder mit weniger professionellen Spielleuten der Umgebung, in die meist die Obrigkeit – direkt oder indirekt (durch entsprechende, allerdings nicht selten recht unterschiedliche Regelungen: einmal mehr die eine, einmal die andere Seite schützend) – eingriff. Nach dem Ende der Türkengefahr begann sich im 18. Jh. das Berufsbild der Th. zu wandeln und nahmen ihre musikalischen Aufgaben (Kirchenmusik [dabei dem Regens chori unterstellt, fallweise selbst auch Mesner], Repräsentation der Stadt) zu. Da sie städtische Bedienstete waren, wehrten sie sich duchwegs erfolgreich gegen ihre Unterwerfung unter Spielgrafen, ja wurden oftmals selbst mit der Einhebung und Kontrolle des Musikimposts betraut (z. B. in Krems). Mit der Aufhebung des Spielgrafenamts 1782 verloren sie allerdings auch ihnen allenfalls zugebilligte Privilegien (z. B. exklusiv innerhalb der Stadtmauern gegen Entgelt musizieren zu dürfen). Zuletzt schob sich ihre Lehrtätigkeit in den Vordergrund; in mehreren Fällen wurden sie im 19. Jh. offiziell in das Amt eines Musiklehrers oder „Stadtkapellmeisters“ (z. B. in Ried im Innkreis oder Tulln 1867) übergeführt.
Als eine durchaus vereinzelte Spätform ist die bis in die späten 1960er Jahre erhaltene Stelle eines städtischen Turmwächters in Bruck an der Leitha/NÖ zu sehen. (Er hatte seine Wohnung am Kirchturm und zwischen 22 und 6 Uhr stündlich in das Nebelhorn – also keine Melodie! – zu blasen; zuletzt blies die Witwe des letzten Inhabers, Maria Stubbings, nur mehr zur Mitternacht.) Nicht auf die Th.-Tradition zurückführen lässt sich das heute (2020) in Österreich weit verbreitete Turmblasen zur Weihnachtszeit, ein von Volkskundlern nach dem Ersten Weltkrieg initiierter Import aus dem protestantischen Deutschland.
H. J. Moser, Tönende VolksaltertümerHans Joachim Moser, Tönende Volksaltertümer. Berlin 1935. 1935; V. v. Geramb, Dt. Brauchtum in ÖsterreichViktor von Geramb, Deutsches Brauchtum in Österreich. Ein Buch zur Kenntnis und Pflege guter Sitten und Bräuche. Graz 1924. 1924, 7; MGG 8 (1998) [Stadtpfeiffer]; K. Schnürl in JbÖVwKarl Schnürl, Die Turnermeister in Niederösterreich, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 44. Wien 1995, 69–80. 44 (1995); A. Kaiser in W. Andraschek et al. (Hg.), [Kat.] Bilderbuch der Musik. 400 Jahre Horner MusiklebenAlfred Kaiser, Die Thurner von Horn, in: Wolfgang Andraschek (Hg.)/Friedl Hradecky (Hg.)/Erich Rabl (Hg.), Bilderbuch der Musik. 400 Jahre Horner Musikleben. Horn 1992, 19–27. 1992; F. R. Moll, Schützengilde, Bürgerkorps und BlasmusikFriedel Rainer Moll, Schützengilde, Bürgerkorps und Blasmusik. Verteidigungsbemühungen und „bürgerliche Kurzweil“ in Zwettl (Zwettler Zeitzeichen 7). Zwettl 2002. 2002, 40f; eigene Recherchen.
20.10.2020
Rudolf Flotzinger,
Art. „Thurner (Türmer)“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
20.10.2020, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e48f
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