Häufigste Form des „klassischen“ W.es der frühen Periode ist das Refrainlied mit einer Reihe von Versstrophen und einem gleich bleibenden Kehrreim. Das wienerische Refrainlied ist aus den Couplets der Volkssänger entstanden, indem die die Strophe abschließende Coupletzeile zu einer mehrzeiligen Strophe mit eigenständigem musikalischem Charakter ausgeweitet wurde. Die Versstrophen des W.es sind oft im Parlandostil gehalten, während der Refrain eher gesanglich gestaltet ist und vorwiegend im 3/4-Takt steht. Dementsprechend dominiert das Walzerlied, aber auch das Marschlied mit Vers und Refrain im 2/4-Takt ist häufig anzutreffen. Oft folgt ein Jodlerteil dem Refrain oder steht an dessen Stelle. In weiterer Folge werden Marschlieder auch nach Vorbild des mehrteiligen Militärmarsches mit einem Trioteil in der Subdominante gestaltet. Als Sonderform sind Duette mit Wechselgesang im Mittelteil zu finden. Neben dem Refrainlied hat sich im W. auch die Form des Strophenliedes erhalten, abgeleitet aus dem ländlichen Liedgut, häufig mit einem angeschlossenen Jodlerteil, oder auch als Eigenschöpfung nach ländlichem Vorbild („Lied im Volkston“). Daneben genießt ein gefühlsbetonter Liedtypus mit starker Neigung zu Pathos und Sentimentalität große Popularität („Rührlied“). Als Gesangsbegleitung wird das Instrumentarium der Schrammelmusik bevorzugt, aber auch das Klavier spielt nach Volkssängertradition eine bedeutende Rolle. Als Komponisten der frühen Periode des W.es sind u. a. J. Sioly, Joh. Schrammel, C. Lorens und Th. F. Schild zu nennen.
W.er haben nur selten erzählenden Charakter. So wie beim Couplet behandeln die einzelnen Versstrophen im Regelfall unterschiedliche Aspekte eines Themas und werden inhaltlich durch den Refrain zusammengehalten. Grundthema des W.es ist die Selbstdarstellung der Wiener, ihrer Lebensart, Menschentypen und Stadt, wobei sowohl eine hedonistische Lebensauffassung als auch die pessimistische Betrachtung der Jetztzeit im Vordergrund steht. Im „klassischen“ Wiener Refrainlied setzt sich somit der Geist des Biedermeier mit seiner Sehnsucht nach einer „guten alten Zeit“ fort, und gleichzeitig spiegelt sich darin die Verunsicherung durch die Veränderung des Stadtbildes und des gesellschaftlichen Lebens in der Gründerzeit wider. In den Strophenliedern reicht auch das ländliche Leben der Vorortebewohner in das W. herein. Das W. bedient sich je nach Thema verschiedener Schichten der wienerischen Sprache, bevorzugt der Mundart des mittelständischen Bürgertums in Verbindung mit der gängigen Umgangssprache. Unter den Textautoren sind W. Wiesberg, C. Lorens, A. Krakauer, Ad. Hirsch, J. Hornig und Eduard Merkt (1852–1908) hervorzuheben.
Das W. des ausgehenden 19. Jh.s stellte zu seiner Zeit den bevorzugten Typus des populären Liedes der Wiener aller Altersgruppen aus der mittleren und unteren Sozialschicht dar. Die explizite Bezeichnung als „W.“ war noch nicht notwendig und tauchte erst am Beginn des 20. Jh.s und v. a. in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zur Abgrenzung von anderen Gattungen der musikalischen Popularkultur auf. Mit der Entstehung neuer Formen der Volksunterhaltung in den modernen Varietétheatern nahmen die musikalischen Einflüsse anderer europäischer Unterhaltungszentren (Berlin, Paris) und zunehmend auch der anglo-amerikanischen Unterhaltungsmusik überhand. Die Volkssänger verloren an Einfluss, und das W. setzte sich vorwiegend in den Darbietungen der Natursänger in den Heurigenlokalen fort. Die Thematik der Lieder blieb im Grunde gleich, der nostalgische Charakter war besonders stark ausgeprägt, im Vordergrund standen das Weinlied und das Loblied auf das „alte Wien“. Als bedeutende Komponisten sind L. Gruber, R. Kronegger, F. P. Fiebrich, L. Prechtl, Th. Wottitz, P. Baschinsky zu nennen, von den Textautoren insbesondere K. M. Jäger, J. Hadrawa, J. Hornig, R. Domanig-Roll.
Im 20. Jh. wurde der Begriff des W.es weiter gefasst als bisher. Neben der regional begrenzten Form des traditionellen W.es gewann das hochsprachliche „gehobene“ W. mit seiner Anlehnung an das Kunstlied und das Singspiel- und Operettenlied von Komponisten wie E. Eysler, R. Sieczynski, R. Stolz oder H. Strecker an Bedeutung und wurde über die Grenzen der Stadt und des Landes hinaus populär. Auch die Werke der wienerischen „Kleinkunst“-Szene, wie z. B. von H. Leopoldi, wurden der Kategorie des W.es zugerechnet, und schließlich verschwammen immer mehr die Grenzen zwischen dem W. im engeren Sinne und dem musikalisch und sprachlich wienerisch gefärbten Schlagerlied bei Komponisten wie E. Arnold, K. Föderl, H. Frankowski, O. Schima, F. Wunsch, A. Schindlauer, H. Weiner-Dillmann, Sepp Fellner sen. oder Hans Lang. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor das traditionelle W. an Breitenwirkung, nur vereinzelte Erfolgslieder von R. Czapek, Fritz Wolferl (Wolfsecker), F. Wunsch, Pepi Wakowski (1900–1959), K. Hodina u. a. gelangten an ein größeres Publikum. Neue Impulse gewann das W. im weiteren Sinne durch Musiker wie Karl Hodina und R. Neuwirth, die durch die Integration des W.es mit zeitgemäßen Formen der Popularmusik auch ein jüngeres Publikum ansprechen (2006). Das W. am Beginn des 21. Jh.s ist durch ein immer stärker werdendes Zusammenrücken der Musiker aller Stilrichtungen im Sinne der aktuellen „Weltmusik“ gekennzeichnet und ist durch zahlreiche Veranstaltungen wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gelangt.
(Alphabetisch:) M. Biesold, Rudolf Kroneggers W.er. Ein Beitrag zur Erhellung des W.-Begriffs, Diss. Berlin 1988; F. Buchmayr, Der Schlager als Zerrbild des Volkslieds, dargestellt am „W.“ v. 1800 bis 1914, Diss. Salzburg 1985; W. Deutsch in JbÖVw 12 (1963); A. Etz in JbÖVw 18 (1969); Hauenstein 1976 u. 1979; M. Kaspar, Das neue W. anhand zweier Protagonisten: Karl Hodina & Roland J. L. Neuwirth, Dipl.arb. Wien 1996; B. Kiermayr, Das W. in den zwanziger Jahren , Dipl.arb. Wien 1993; St. Lohr, Drum hab i Wien so gern, Wien u. seine Lieder 1980; G. Schaller-Pressler und E. Weber in E. Th. Fritz/H. Kretschmer (Hg.), Wien. Musikgesch. 1 (2006); S. Schedtler (Hg.), W. u. Weana Tanz. Beiträge zur Wr. Musik 1 (2004); M. Walcher in H. Schnur (Hg.), [Kgr.-Ber.] Ländliche Kulturformen – Ein Phänomen in der Stadt. Graz 1993 , 1994; P. Wehle, Singen Sie Wienerisch? Eine satirische Liebeserklärung an das W. 1986; H. Zohn in Lit. u. Kritik 1989, Nr. 239/240.