Vorau
Augustiner-Chorherrenstift oberhalb des gleichnamigen Markts in der östlichen
Steiermark; 1163 durch Erzb. Eberhard I. von
Salzburg auf ehemaligen Besitzungen des steirischen Markgrafen Otakar III. von Traungau, die ihm dieser mit entsprechendem Auftrag übergeben hatte, errichtet und mit Geistlichen aus Salzburg und
Seckau besiedelt (1. Propst Liupold von Traföß, Dechant von Seckau). Diese Fakten werden immer wieder zur Erklärung gewisser Merkmale von noch
in situ erhaltenen hochmittelalterlichen Handschriften (415, davon 83 illuminiert; außerdem 215 Inkunabeln) herangezogen. Von den liturgischen Büchern seien hervorgehoben: Cod. 21 als ältestes Missale der Steiermark mit ebenso vollständigem Gradualteil, Alleluja-Liste, Kyriale und Sequentiar (1150/70 wohl in Seckau geschrieben), je ein Missale (Cod. 121) und etwas älteres Antiphonale (Cod. 287, s.
Tbsp.) aus dem 14. Jh. mit
Neumen auf 4–5 Linien, mehrere großformatige Codices aus der Glanzzeit des Stifts im 15. Jh. (darunter Graduale Cod. 22 mit einem auch in Offenburg/D [?],
Prag [Herkunft?, mit tschech. Text] und noch 1645 in Zara [Zadar/HR] belegten 2-stimmigen
Sanctus/Benedictus auf Papier der hinteren Deckelbeklebung) und schließlich das kunsthistorisch bedeutsame 4-bändige Riesen-Antiphonar Cod. 259/I–IV (1363 für Vyšehrad bei Prag geschrieben und im 16. Jh. für
V. adaptiert). Noch im 18. Jh. schrieb Johann Anton Zunggo (1686–1771) nach altem Muster ein Graduale, Hymnar und Antiphonar (Cod. 256–258). Die aus dem späten 12. Jh. stammende und meist einfach als
V.er Handschrift benannte Sammelhandschrift Cod. 276 hat bis heute (2015) die Wissenschaft immer wieder beschäftigt (vgl. die sog.
Millstätter Handschrift). Sie enthält die Regensburger
Kaiserchronik und die lateinischen
Gesta Friderici Ottos von Freising, dazwischen deutsche Gedichte (die sog.
V.er Genesis, V.er Joseph, V.er Moses, V.er Marienlob, V.er Balaam, Die Wahrheit, Summa theologiae, Das Lob Salomons, Die drei Jünglinge im Feuerofen, die sog.
Ältere und
Jüngere Judith) sowie eine Bearbeitung des franko-provenzalischen Alexanderromans. Nach lange geführter Diskussion wird sie heute als
V.er Herkunft angesehen, allfällige Melodien zu den Liedern sind nicht bekannt. Bemerkenswert sind auch die Reste neumierter
Minnelieder neben unterschiedlichen neumierten liturgischen Nachträgen in Cod. 401. Eine weitere Sammelhandschrift (Cod. 412, 13. Jh.) enthält die sog.
V.er Novelle. Besondere Erwähnung verdienen auch die verschiedenen Versionen von Osterspielen (Hs. 90, 99 [13. Jh.], 337 [14./15. Jh.], 283 [15. Jh.];
geistliche Spiele) sowie das Spiel
Isaac und Rebecca (Fragm. 118b, 13. Jh., mit Neumen). Offen sind die Schlussfolgerungen, welche die vom Einband des Cod. 23 abgelösten Fragmente einer offenbar französischen
Motettenhandschrift aus dem späten 13. Jh. (118d; Gennrich Nr. 725/26, 428/29, 732/33, Benedicamus-Tropus
Puer nobis nascitur, nicht identifiziertes Fragment) eröffnen könnten. Französischer Herkunft sind auch die um 1430 auf vormals leer gebliebenem Platz in der Sammelhandschrift Cod. 380 (14. Jh.) nachgetragenen 2- und 3-stimmigen Chansons
(Fait fut pour vous, D’esperance textlos, Soit tart tempre); sie verweisen auf die
Wiener Univ. Eine Orgel scheint schon im frühen 14. Jh. zur Verfügung gestanden und zu
Alternatim-Spiel eingesetzt worden zu sein. 1454 erhielt Propst Leonhard von Horn (1453–93) das Privileg, die Pontifikalien in der ganzen Erzdiözese zu gebrauchen. Er stattete das Gotteshaus u. a. mit zwei Orgeln aus. Es versteht sich, dass die 1660–62 nach Plänen von Domenico Sciassia neu erbaute Kirche auch eine Orgel (vor 1681) erhielt. 1726 erbaute der
Grazer A. Schwarz eine (wohl weitere, große) Orgel, 1729 wurden diese beiden (?) Instrumente auf die neue Westempore übertragen. Unter Verwendung von deren barocken Gehäusen errichtete 1890 der Salzburger Orgelbauer
M. Mauracher ein neues Werk, in diesen Kästen befand sich seit 1960 eine neue Orgel der Salzburger Firma Dreher & Reinisch (
M. Dreher). 2013 errichtete die Firma Pirchner (
Reinisch) einen Neubau (II/34) im historischen Gehäuse.
Über die Einführung und frühe Pflege der Figuralmusik in V. fehlen bis in hochbarocke Zeit nähere Anhaltspunkte; nicht unwahrscheinlich ist, dass sie erst nach dem Neubau der Kirche in Schwung kam: Aus der Tatsache, dass 1729 eine der beiden Orgeln im Chor- und die andere im Kammerton gestimmt wurde (Stimmton), lässt sich ihre unterschiedliche Nutzung erkennen. Zumindest ab I. Kobald und Johann Michael Schrottmüller (1684–1745) hatten durchwegs Chorherren nicht nur das traditionelle Kantorenamt für den liturgischen Gesang, sondern bis 1945 auch die Leitung der Figuralmusik inne; Organisten waren hingegen meist auch anderweitig verpflichtete Bedienstete oder Lehrer (z. B. Georg Prokesch [1791–1852], Franz Lamprecht [ca. 1796–1877], Johann Gebetsroither [1875–1944, s. Abb.]). 1723–30 sind Stiftungen für vier Sängerknaben (solche wurden erstmals 1252 erwähnt) und zwei Musikanten belegt. Unter Propst Lorenz Leitner (1737–69), selbst ehemaliger Sängerknabe, erreichte das Stift seinen höchsten Personalstand und setzt auch die Überlieferung von Musikalien ein (diese sind heute im Stiftsarchiv aufbewahrt; die Handschriften ab 1771 in mehreren Katalogen dokumentiert, die Drucke z. T. aber erst in jüngster Zeit zusammengeführt); 1771 ist ein reiches Instrumentarium dokumentiert.
Im Josephinismus wurde V. nicht aufgehoben, geriet aber in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die sich wohl auch auf die Kirchenmusik auswirkten. Der Reformpropst Gottlieb Kerschbaumer (1838–62) konnte auch wieder als Förderer der Musik auftreten. Bis ins späte 19. Jh. bildeten Schüler der 1778 errichteten Hauptschule und des 1839–43 geführten Privatgymnasiums als Sängerknaben eine wesentliche Stütze der Kirchenmusik, in die zunehmend Laien aus der Pfarre einbezogen wurden (z. B. Siegmund Bergmann [1906–71]). Auch das entsprach Zielen des Caecilianismus, der hier v. a. durch Norbert (1845–1900) und Theoderich Lampel (1858–1911) vertreten wurde. Der letzte geistliche Regens chori war Frigdan Krause (1891–1945), seither sind es fachlich geschulte Laien. Der Chorherr Roman Allerbauer († 1944) schuf auf Basis einer alten Melodie ein neues Kreuzweglied, das Eingang in das Diözesangebetbuch Lobet den Herrn fand. 1940–45 war das Stift beschlagnahmt und Sitz einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (NPEA; Nationalsozialismus).
Nicht übergangen werden sollte, dass V. 1711 auch das in Schwierigkeiten befindliche Chorherrenstift Rottenmann unterstellt wurde. Neben den genannten sind zahlreiche musizierende und z. T. auch komponierende Stiftsmitglieder bekannt, z. B. Ignaz († 1723) und Markus Egger († 1730), Thaddäus Josef Lehr (1690–1757), A. J. Pichler (ca. 1697–1762), Albert von Millsperg (1702–66), Matthias Leitner (1724–57), Carl Hackhofer (1727–72), Raimund Dinzel von Angerburg (1733–57), Alois Georg Holzer (1745–1824), Alexander Herzog (1787–1844), Gottfried Schreitter (1811–72), Raimund Weichard Söckler (1813–43), Ferdinand Gebhardt († 1876), Isidor Allinger (1820–1903), Prosper Anton Klessl (1821–78), Ivo Eiselt (1821–89), Bertrand Zachenhofer (1830–1901), Bernhard Hamon (1862–1944), Clemens Holzheu (1875–1962).
StMl 1962–66; P. Fank in SKPius Fank, Singendes Beten im Stift Vorau, in Singende Kirche 11/3 (1964), 133–135. 11 (1963/64); K. Mitterschiffthaler, Das Musikarchiv des Stiftes V. Die DruckeKarl Mitterschiffthaler, Das Musikarchiv des Stiftes Vorau. Die Drucke (Quellen zur geschichtichen Landeskunde der Steiermark 15). Graz 2000. 2000; P. Fank, Das Chorherrenstift V.Pius Fank, Das Chorherrenstift Vorau. 2. Aufl. Vorau 1959. 21959; P. Buberl, Die illuminierten Hss. in Steiermark 1: Die Stiftsbibliotheken zu Admont u. V. Paul Buberl, Die illuminierten Handschriften in Steiermark. Die Stiftsbibliotheken zu Admont und Vorau (Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich 1). Leipzig 1911.1911; P. Fank, Catalogus Voraviensis seu codices manuscripti bibliothecae canoniae in V. Pius Fank (Hg.), Catalogus Voraviensis seu codices manuscripti bibliothecae canoniae in Vorau. Styria 1936.1936; [Kat.] Musik i. d. St. 1980; R. Flotzinger in G. Fornari (Hg.), [Fs.] A. DunningRudolf Flotzinger, Zur Beurteilung der Balladen in den Handschriften Vorau 380 und Melk 391, in: Giacomo Fornari (Hg.), Album Amicorum Albert Dunning. In Occasione del Suo LXV Compleanno. Turnhout 2002, 147–153. 2002; W. Lipphardt, Hymnologische Quellen der SteiermarkWalther Lipphardt, Hymnologische Quellen der Steiermark und ihre Erforschung (Grazer Universitätsreden 13). Graz 1974. 1974; F. P. Knapp, Die Literatur des Früh- u. Hochmittelalter in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen u. Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 (Geschichte der Literatur in Österreich 1). Graz 1994., 1994; F. Hutz (Hg.), Stift V. im 20. Jh.Ferdinand Hutz (Hg.), Stift Vorau im 20. Jahrhundert. Vorau 2004. 2004; G. Filsegger, Zur Musikpflege im Augustiner-Chorherrenstift V.Gerhard Filsegger, Zur Musikpflege im Augustiner-Chorherrenstift Vorau. Dipl.arb. Graz 1995., Dipl.arb. Graz 1995; F. Hutz in E. Renhart/A. Schnider (Hg.), [Fs.] Ph. HarnoncourtFerdinand Hutz, Gibt es eine „Vorauer“ Osterfeier?, in: Erich Renhart (Hg.)/Andreas Schnider (Hg.), Sursum corda. Variationen zu einem liturgischen Motiv. Für Philipp Harnoncourt zum 60. Geburtstag. Graz 1991, 472–476. 1991; SK 62 (2015), 190.
1.2.2016
Rudolf Flotzinger,
Art. „Vorau“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
1.2.2016, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e5e5
Dieser Text wird unter der Lizenz
CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.