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Stoltzer Stoltzer true (Stolczer, Scholczer, Stollerus), Thomas
* --zw. 1470/75? Schweidnitz/Schlesien (Świdnica/PL), † --Anfang März 1526 bei Znaim/Mähren (Znojmo/CZ) [lt. der 1539 in Wien gedruckten Elegie auf den Tod von Caspar Ursinus Velius des schlesischen Humanisten Johannes Lang auf einer Reise nach Prag in der Thaya ertrunken]. Geistlicher, Hofkapellmeister, Komponist. Sehr wahrscheinlich Sohn des Schweidnitzer Stadtschreibers Clemens St., über seine Jugend ist nichts bekannt. Möglicherweise war H. Finck in Kraukau sein Lehrer, denn 20 Kompositionen St.s zitieren Werke Finks. Nach 1510 war St. bereits weit über die Grenzen seiner engeren Heimat hinaus bekannt, wie die 1517 erschienene, aber bereits 1513/14 als Vorlesung konzipierte Poetik des Wiener Humanisten Joachim Vadian dokumentiert. Dieser bescheinigte dem „Thomas Slesius“ eine außerordentlich bewegliche und schnelle Auffassungsgabe, die ihn befähigte, nicht nur komplizierte eigene Kompositionen auf der Stelle niederzuschreiben, sondern auch fremde nach zwei- bis dreimaligem Hören aufzuzeichnen. Zwischen 1519/22 wird St. als Priester zum ersten Mal im Erzbischöflichen Archiv in Breslau (Wrocław/PL) aktenkundig. Er besaß ein Altarlehen an St. Elisabeth und war gleichzeitig „vicarius discontinuus“ an hohen Festtagen am Dom, wo er das Amt des Domkapellmeisters wahrnahm. Am 8.5.1522 berief ihn Ludwig ll., Kg. von Ungarn und Böhmen, auf ausdrücklichen Wunsch seiner hochmusikalischen Gemahlin, Kg.in Maria, als „magister capellae“, d. h. als Hofkapellmeister an den ungarischen Hof zu Ofen (Budapest). Maria regte St. später zur Vertonung einiger geistlicher Texte an, u. a. zur Komposition des 37. Psalms auf Martin Luthers deutsche Übersetzung, St.s letzte große Motette vor seinem Tod. Er schickte eine Kopie mit einem Brief an Hzg. Albrecht von Preußen nach Königsberg (Kaliningrad/RUS) und ließ anklingen, dass er gern in dessen Dienste treten würde; schon aus seinen Breslauer Briefen ist ersichtlich, dass er der Reformation nahe stand.

St.s rund 150 oft vielteilige (aber häufig inkomplette) Werke in mehr als 90 Drucken und Handschriften repräsentieren sicher nur einen Teil seines umfangreichen Œeuvres. Bekannt wurden sie vornehmlich erst um 1540 von Wittenberg/D aus, wohin sie – vermutlich durch Diebstahl – nach dem Tode St.s vor dem Einfall der Türken 1526 gekommen waren. V. a. erregten die vier großen Psalmen nach Luthers Übersetzung Bewunderung, die der deutschsprachigen Figuralkomposition in den evangelischen Ländern den Weg bereitete. Der Schaffensschwerpunkt des Priestermusikers lag verständlicherweise auf geistlichem Gebiet, und zwar in motettischer Form. Auch seine vier Alternatim-Messen ohne Credo erfüllen eine rein dienende Funktion im Kultus. Die 25 vielgliedrigen Motetten zum Proprium Missae (Messe) verraten seine Absicht, einen vollständigen Jahreszyklus analog zu H. Isaacs Chroralis constantinus zu komponieren, denn vom 4. Adventsonntag bis Ostern liegt er vollständig vor, die zweite Hälfte jedoch nur fragmentarisch. Kühner und weiträumiger sind die 25 vier- und fünfstimmigen motettischen Antiphonen und Responsorien, von denen die Neujahrsantiphon O admirabile commercium dank ihrer Klangschönheit, ihrer ungezwungenen Cantus firmus-Verarbeitung und Wortausdeutung noch im späten 16. Jh. häufig gesungen wurde. Den Erhalt des größten Teils der 39 mehrstimmigen liedartigen und oft motettischen Hymnen verdanken wir der Sammeltätigkeit und dem Druck (1540) des protestantischen Verlegers Georg Rhau in Wittenberg. Der originelle Zyklus Octo tonorum melodiae von acht nach den Kirchentönen geordneten fünfstimmigen Sätzen in motettischer Manier zeigt „per omnes tones“ didaktische Zielsetzung als Kompositionsbeispiele. Zu den bedeutendsten Kompositionen St.s gehören die drei- bis siebenstimmigen 14 lateinischen und vier deutschen Psalmmotetten, Beispiele der renaissancehaften Individualisierung der Musik um 1500; sie waren Erbauungsmusik, denn einen festen Platz im Gottesdienst hatten sie nicht. St. schrieb in einem Brief von 1526, er habe kürzlich den (verloren gegangenen) Psalm Exaltabo te aus „sunderem Lust zu den überschönen Worten“ gesetzt, ein seltenes Bekenntnis eines Komponisten um 1525. Seine Psalmen komponierte er früher z. T. über akzentuierende psalmodische Formeln, später auch häufig vom Wort her oder über fremde Choralmelodien. So entstanden Musterbeispiele im Sinne der Reservatakunst (Musica reservata) der Renaissance. V. a. der 12., 13., 86. und 37. Psalm auf Luthers deutsche Übersetzung gleichen in der Auslegung des Bibelwortes einer Predigt. Mit Hilfe der rhetorisch-musikalischen Figurenlehre (Rhetorik und Musik) und der theologischen Bedeutung der Zahlen trieb er Exegese. Die deutschen Psalmmotetten sind die ersten großen Kompositionen geistlichen Charakters in einer Nationalsprache.


Werke
Messen, Magnificat, Sequenzen, Responsorien, Antiphonen, Hymnen, Psalmvertonungen, Lieder (NA in DTÖ 72 [1930]). – Zahlreiche wissenschaftliche u. praktische NA.n v. H. Albrecht, O. Gombosi, L. Hoffmann-Erbrecht u. a. (z. T. in EdM).
Literatur
Lit (chron.): Beiträge von R. Eitner u. O. Kade in Monatshefte f. Musikgesch. (1876); H. J. Moser in ZfMw 14 (1931/32) u. in Mus. disc. 3 (1949); L. Hoffmann-Erbrecht in G. Abraham et al. (Hg.) [Kgr.-Ber.] Bericht über den Siebenten Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß. Köln 1958, 1959 u. in L. Hoffmann-Erbrecht/H. Hucke (Hg.), [Fs.] Helmuth Osthoff 1961; L. Finscher in W. Brennecke/H. Haase (Hg.), Hans Albrecht in memoriam 1962; K. L. Hampe in Musik des Ostens 1 (1962); L. Hoffmann-Erbrecht, Th. St. 1964; MGG 12 (1965); O. Wessely in M. Ruhnke (Hg.), [Fs.] B. Stäblein 1967; W. Dehnhard, Die dt. Psalmmotette in der Reformationszeit 1971; L. Hoffmann-Erbrecht in Mf 27 (1974); W. Steude, Untersuchungen zur mitteldt. Musiküberlieferung u. Musikpflege im 16. Jh. 1978; L. Hoffmann-Erbrecht, Henricus Finck, musicus excellentissimus (1445–1527), 1982; L. Hoffmann-Erbrecht in Ch. H. Mahling (Hg.), [Fs.] H. Federhofer 1988 u. in Jb. f. schlesische Kirchengesch. 67 (1988); Beiträge von H. M. Brown, G. Dietel, L. Hoffmann-Erbrecht u. B. Meier in F. Heidlberger et al. (Hg.), [Fs.] M. Just 1991; R. Árpárd Murányi, Thematisches Verzeichnis der Musikslg. von Bartfeld/Bártfa 1991; NGroveD 24 (2001).

Autor*innen
Lothar Hoffmann-Erbrecht
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2006
Empfohlene Zitierweise
Lothar Hoffmann-Erbrecht, Art. „Stoltzer (Stolczer, Scholczer, Stollerus), Thomas‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2006, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e393
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


DOI
10.1553/0x0001e393
GND
Stoltzer (Stolczer, Scholczer, Stollerus), Thomas: 118799010
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