Sequenz
Bezeichnung für einen nicht biblischen poetischen Messgesang im
Proprium Missae nach dem Alleluia und vor dem Evangelium. Das gregorianische Kernrepertoire (
Choral) war um ca. 800 in weiten Teilen ausformuliert. Zu diesem im 9. Jh. bereits „klassischen“ römisch-fränkischen Repertoire traten alsbald Ergänzungen in einer neuen textlich-melodischen Gestalt, welche die Stammgesänge nicht verdrängten, sondern ergänzten. Als Ursache dafür werden u. a. genannt: das Bestreben jeder neuen Generation, sich selbst literarisch-musikalisch in die
Liturgie einzubringen und nicht nur vom Alten zu leben; die v. a. im Frankenreich fremde Stilistik der „Gregorianik“, welche durch Zusätze im gallikanisch orientierten musikalischen Idiom abgemildert wurde, indem das Fremde sich mit dem Bekannten zu einer neuen Synthese verbunden hat. Die Ergänzungen waren zusätzliche Melismen, Textierung vorhandener Melismen oder Zusätze von neuen textlich-melodischen Gebilden. Aus dieser Praxis des Tropierens (
Tropus), welche bei der Synode von Meaux/F 845 erstmals verboten worden ist, erwuchs im 9. Jh. die eigenständige Gattung
S. Während Tropen immer nur im Zusammenhang mit einem Stammgesang auftreten, wurden
S.en neben den weiter bestehenden Alleluia-Tropen selbständige Gesänge, zunächst für Solisten, überliefert in Cantatorien oder eigenen Sequentiaren. Die neue Gattung war von Anfang an in westfränkisches (Frankreich, England) und ostfränkisches (Deutschland, Österreich, Ostmitteleuropa) Repertoire ausdifferenziert, eigene Wege ging Italien. Der Begriff
S. ist vielfältig gebraucht, im Westen meint er eine Melodie (zuerst Alleluiajubilus, dann eigener Gesang), der Text dazu ist die Prosa (zuerst als Tropus, dann selbständige Gattung), im Osten stehen beide Begriffe synonym für Text und Melodie zusammen. Andere Bezeichnungen sind
longissima melodia, neuma oder
pneuma (textlose
S.). Die Begriffe sind im 9. Jh. nachweisbar (z. B. 845), älteste Aufzeichnungen stammen aus dem 10. Jh. (z. B. Missale Chartres 47, Cantatorien St. Gallen 484/381). Neben der Sonderform der kaum verbreiteten aparallelen
S. besteht die Standardform der Gattung aus unterschiedlich langen Strophenpaaren (a, bb, cc, ... x), streng durchstrukturierter Kunstprosa ohne Reim, mit eigenen Melodien für jede Doppelstrophe. Im Unterschied zur klassischen Gregorianik geht bei der
S. die Melodie dem Text voraus, der Text passt sich den melodischen Strukturen an, in der Blütezeit bei perfekter Übereinstimmung von Wort und Ton, Text und Melodie in einem syllabischen Stil. Schon in der Frühzeit wurden auf gängige Melodieschemata mehrere Texte geschaffen, das Prinzip Kontrafaktur (
Parodie) kennzeichnet die gesamte Gattung, v. a. in ihrer Spätzeit. Weit verbreitet in Österreich ist die marianische Kontrafaktur
Virginis Mariae laudes auf die österliche Stamm-
S. Victimae paschali laudes. Die beiden bekanntesten
S.en für den Salzburger Patron Rupert sind ebenfalls Kontrafakturen.
Christe genitoris (aus
Salzburg) wurde nach der Notker-
S. Congaudent angelorum chori (für Maria Himmelfahrt) gedichtet,
Summi regis in laude (aus
Seckau) in engster Anlehnung an den Text der Notker-
S. Summi triumphum regis (für Christi Himmelfahrt).
S.en haben Melodietitel, welche die Strophenschemata bezeichnen, z. B.
Mater (wie für
Christe genitoris) oder
Captiva (wie für
Summi regis). Der Melodieumfang ist oft groß (bis zu Oktave und Quint), typisch ist die Kadenz von unten (z. B. F-G-G, Pes stratus). Bei
S.-Melodien finden wir häufig den D- und den G-Modus. Die Verbindung zu einem Alleluia ist zitierend (Text/Melodie), assoziativ, ideell, nicht strukturell. Im 11. Jh. wird der Reim in die Dichtung eingeführt
(Victimae paschali laudes), im 12. Jh. passt sich die Form dem
Hymnus an, alle Strophenpaare werden gleich lang, behalten aber trotzdem den Wechsel der Melodie nach jedem Paar. Zentren dieser letzten Phase der
S.-Dichtung sind u. a. Paris (Adam v. St. Victor, der die Theologie des Hugo und Richard v. St. Victor poetisch fasst) und die österreichischen Chorherrenstifte (v. a. Seckau,
St. Florian,
Klosterneuburg). Im ostfränkischen Bereich wird das liturgische Repertoire vom
Liber Ymnorum des St. Galler Mönches Notker Balbulus bestimmt, zu dem einige weitere
S.en aus seinem Umkreis bzw. dem süddeutschen Raum (z. B.
Grates nunc omnes [1. Weihnachtsmesse]) dazukommen. Wolfram von den Steinen identifizierte mehr als 40
S.en als authentische Werke Notkers. Seine Dichtungen prägen bis ins 16. Jh. die Hauptfeste eines Jahres im Temporale und im Sanctorale (z. B.
Natus ante saecula [3. Weihnachtsmesse],
Laudes salvatori [Ostersonntag],
Summi triumphum regis [Christi Himmelfahrt],
Sancti spiritus assit [Pfingstsonntag]). Die liturgische Verwendung der
S. erweist diese als typischen Festgesang, der an nachrangigen Heiligengedenktagen, an gewöhnlichen Sonntagen und an Ferialtagen zunächst fehlt. Um 1000 werden ca. 70
S.en an den Festen des Kirchenjahres und der großen Heiligen gesungen, ab 1050 nur mehr 40–50. Im 14. Jh. steigt die Verwendung v. a. im Sanctorale wieder an, sodass Ende des 15. Jh.s z. B. in Klosterneuburg etwa 100 Texte an ca. 300 Tagen im Jahr verwendet wurden (in der Privatmesse auch gesprochen als Leselied). Jetzt bekamen auch nachrangige Feste eine
S., ferner Votivmessen, wie die tägliche marianische Frühmesse, deren
S.-Repertoire seit dem 12. Jh. in manchen Orden kontinuierlich angewachsen war. Das Repertoire wandelte sich durch Hinzufügungen zu einem gleich bleibenden Kern,
S.en wurden kaum von ihrem einmal angestammten Platz verdrängt, wenn, dann meist auf den Oktavtag eines größeren Heiligenfestes. Das ostfränkische Repertoire und dessen Verwendung lässt sich in mehreren Schichten beschreiben. Eine breitere Grundschicht ist das St. Galler Repertoire des 10. Jh.s, das in allen Diözesen und in den meisten Orden, die
S.en verwenden, in Deutschland, Österreich und in den angrenzenden Ländern mutatis mutandis überall vorhanden ist. Eine zweite Schicht sind die jeweiligen diözesanen Eigenheiten. Ein dritter Bereich sind die
S.en im Rahmen der liturgischen Besonderheiten eines Klosters oder einer Kanonie. Eine vierte Repertoireschicht sind die Besonderheiten einzelner Handschriften, die auf spezielle Wünsche und Interessen von Schreibern und/oder Auftraggebern zurückzuführen sind.
Im heutigen Österreich gibt es im Mittelalter eine erkennbare Repertoiredifferenzierung zwischen den Benediktinerklöstern einerseits und den Diözesen Salzburg und Passau mit den dazugehörigen Chorherrenstiften andererseits. Orden wie die Zisterzienser standen den S.en immer sehr reserviert gegenüber, Orden wie die Franziskaner brachten fremde Bräuche ins Land, in diesem Falle die römischen. Einzelne Stifte sind besonders reich an Handschriften (Gradualien, Missalien, Sequentiare, Libri Ordinarii), die S.en überliefern: Seckau 22 (in A-Gu), St. Florian 21, Klosterneuburg 20, hingegen Salzburg 8, St. Pölten 7. Nach heutigem Kenntnisstand stammen aus Klosterneuburg 20 S.en, darunter die Gruppe der Pseudo-Gottschalk-S.en, von denen einzelne ganz signifikant Kennzeichen der Klosterneuburger Liturgie wurden und auch nur hier nachweisbar sind, wie z. B. Laus tibi Christe sponso für den Oktavtag von Epiphanie. Zusätzlich wäre z. B. zu nennen Supernorum civium für Augustinus oder Magnificet confessio für Kreuzerhöhung. Alle diese Texte sind erstmals im Graduale A-Wn 13314 aufgezeichnet, das aus diesen und anderen Gründen als das älteste Graduale zu bezeichnen ist, welches Klosterneuburger Liturgie repräsentiert. In St. Florian sind wenigstens 17 S.en entstanden, darunter die Augustinus-S. Corda sursum eleventur und die Florian-S. Salve martyr gloriose. Aus Seckau stammen etwa 14 S.en, darunter die S.en für Thomas von Canterbury Gaude gemma praelatorum und Palmes fructum fert in vitae. Neben Heiligen-S.en für Katharina und Margaretha sind nur drei Marien-S.en mit einer gewissen Eindeutigkeit nach Seckau zu lokalisieren: Omnis ager scripturarum, Salutata caelitus, Salutis exordium. Einzelne Seckauer Handschriften haben zweifellos eine große Zahl an Marien-S.en gesammelt, dass diese aber ausufernd in Seckau gesungen wurden oder gar dort entstanden sind, kann bei genauerer Analyse entgegen der älteren Literatur nicht mehr behauptet werden. Es zeigt sich vielmehr, dass Klosterneuburg und St. Florian den gleichen, wenn nicht größeren Rang als Heimstadt von S.-Dichtern beanspruchen dürfen. In Salzburg, Vorau, Gurk und St. Pölten sind S.-Dichtungen auf die dortigen Kirchenpatrone nachweisbar.
S.en wurden auch im Stundengebet (Offizium) anstelle von Hymnen sowie bei liturgischen Spielen (geistliches Spiel) und Prozessionen gesungen. Sie sind Anknüpfungspunkte für das deutsche Kirchenlied, das oft gewissermaßen als Tropus zwischen einzelnen S.-Strophen gesungen wurde (z. B. Victimae paschali laudes – Christ ist erstanden). Die liturgische Blüte endete mit der sukzessiven Übernahme des Missale Romanum 1570, das gemäß römischem Lokalbrauch kaum S.en kannte: Victimae paschali laudes (Ostern), Veni, Sancte Spiritus (Pfingsten), Lauda Sion Salvatorem (Fronleichnam) und das zur Toten-S. mutierte spätmittelalterliche Reimgedicht Dies irae. 1727 wurde Stabat mater (Fest der Sieben Schmerzen Mariä) hinzugefügt. Im Missale 1970 (Messbuch 1975: nach dessen Ordnung sind S.en vor dem Alleluia zu singen) sind die Oster- und Pfingst-S. vorgeschrieben, Lauda Sion und Stabat mater (Missale 2003: auch am Karfreitag am Ende der Kreuzverehrung) freigestellt. Das Dies irae – aus dem Requiem entfernt – ist heute Hymnus der 34. (letzten) Woche im Jahreskreis. Verschiedene Orden haben vereinzelt S.en ihrer Patrone beibehalten. Andere S.en können gesungen werden.
TD: Grazer Choralschola, Splendor Austriae 1998 (ORF-CD121); Grazer Choralschola, Summi regis in laude 1999 (Edition Seckau BASCD 4).
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15.5.2006
Franz Karl Praßl,
Art. „Sequenz“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
15.5.2006, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e25a
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