So ist auch keine Frage, dass die abendländische, wesentlich durch Mehrstimmigkeit, Schriftlichkeit (Notationen), unveränderbaren Werkcharakter usw. bestimmte Kunstmusik das Ergebnis von Entwicklungen ist, die ab dem Hochmittelalter v. a. im Rahmen der (westlichen, römischen) Kirche, nämlich als kunstvolle Ausführungsformen des gregorianischen Chorals grundgelegt wurden. Deshalb, d. h. keineswegs nur wegen der Beherrschung der Entstehungsbedingungen (Gottesdienste, geistliche und weltliche Höfe) und der Verbreitungsmedien (Schrift) durch die Geistlichkeit, überwiegt in Europa bis zum Beginn der Neuzeit die Überlieferung der geistlichen Musik die der weltlichen sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht und waren bis dahin die wichtigsten kompositorischen Entwicklungen in und mit geistlichen Formen (Organum, Messe, Motette usw.) erfolgt. Als konkrete Beispiele der S. können die meisten Anlass-bezogenen Kompositionen ab dem Spätmittelalter (Ansingen, sog. Staatsmotette, Applausus, Huldigungswerke etc.) angesehen werden. Auch die Entstehung (14. Jh.) und Entwicklung genuin weltlicher Gattungen wie der mittelalterlichen mehrstimmigen frz. Liedformen und des ital. Madrigals sind ohne diese Erfahrungen kaum denkbar, wie auch der geistliche Seitenzweig der letzteren, der seinen Höhepunkt durch den Hofkapellmeister K. Maximilians II. und Rudolphs II., Ph. de Monte, finden sollte, gewissermaßen als gegenläufiges Beispiel zur S. verstanden werden kann. Ja, das erinnert an die nicht zu leugnende Tatsache, dass mit zunehmender Verselbständigung des Konzertwesens ab dem späten 18. Jh. (absolute Musik, bürgerliche Musikkultur, Konzert [II]) sowohl die hier präsentierte Musik als auch deren Ausführung geradezu pseudo-religiöse Formen annahm (der Musiker als „Priester am Altar der Kunst“, Bühnenweihespiele, Festspiele [Festivals], Rich. Wagner). In gewissem Sinne bereits ein S.s-Produkt ist der Begriff „geistliche Musik“.
Abgesehen von der nach wie vor diskutierten Rolle der Gegenreformation für die Entstehung des musikalischen Barocks, sind unter dem Gesichtspunkt der S. in besonderer Weise sowohl der Generalbass als auch Gattungen zu sehen, die eigentlich aus dem geistlichen (katholische Oratorien, protestantische Kantaten, Passionen) oder höfischen Bereich (insbesondere Opern) stammen, heute (2005) aber ausschließlich losgelöst von diesen sowie von ganz anderen Trägern ausgeführt werden. Sogar im engeren Sinn liturgische Kompositionen erklingen eher im Konzertsaal oder in Kirchenkonzerten, jedoch nur mehr ausnahmsweise in ihren angestammten Bereichen: z. B. Messen wie W. A. Mozarts Fragment in c-Moll KV 427, dessen Requiem oder die Missa solemnis von L. v. Beethoven. Im Besonderen werden in Österreich die großen Requien von Mozart, L. Cherubini, Hector Berlioz, G. Verdi u. a. gewissermaßen wie Oratorien mit fixem (und damit weitgehend geläufigem = verständlichem) Text angesehen; auch das Deutsche Requiem von J. Brahms ist in dieser Tradition zu sehen, ähnlich A. Bruckners Te Deum anstelle eines Schlusssatzes seiner 9. Symphonie (wenn man nicht auch deren Widmung „Dem lieben Gott“ als S. verstehen will) u. a. Dem gegenüber sind Werke wie K. Schiskes Vom Tode (1947) oder Fr. Schmidts Das Buch mit sieben Siegeln (1937) von vornherein für den Konzertsaal komponiert und ist allenfalls die Verwendung eines Texts aus dem Neuen Testament als ein S.s-Produkt anzusehen. Ganz eindeutig der Fall ist dies z. B. bei dem aus dem Choral stammenden Dies-irae-Motiv, das zum allgemeinen musikalischen Todessymbol geworden ist (F. Liszt, R. Strauss, G. Mahler u. a.).
Auch in der Oper (bei Oratorien liegt es auf der Hand) sind z. B. aus der Bibel stammende Themen fallweise aufgegriffen worden, doch sind nicht alle unter dem Gesichtspunkt der S. zu verstehen: z. B. generell nicht in der Barock-Zeit (z. B. Reinhard Keisers Nebucadnezar, 1704) oder durchaus als religiös-politische Manifestationen aufzufassende (wie z. B. A. Schönbergs Moses und Aron, 1930), wohl aber besonders im 19. und frühen 20. Jh., d. h. seit der Aufklärung (von G. Rossinis Mosè in Egitto [1818] und Jacques Fromental Halévys La Juive [Die Jüdin, 1835] über G. Verdis Nabucco [1842] und Camille Saint-Saëns Samson und Dalila [1877] bis Rich. Wagners Parsifal [1882] und R. Strauss´ Salome [1905]). So sind, um nur österreichische Beispiele zu nennen, Samson oder die Süße von dem Starken (1775) und Il Giuseppe riconosciuto (1777) des Klosterkomponisten G. Pasterwiz inhaltlich in barocker Tradition zu sehen, während Die christliche Judenbraut (1790) von J. B. Paneck, Babylons Pyramiden (1797) von J. G. Mederitsch und P. Winter oder J. Weigls Baals Sturz (1820) unter aufgeklärtem Gesichtspunkt zu verstehen sind (d. h. religiöse Momente geben nur mehr den – allenfalls kritischen – Hintergrund ab, vergleichbar dem der W. A. Mozartschen Zauberflöte [1791] und somit auch mit der österreichischen Tradition des Zauberspiels konvergierend) wie K. Goldmarks Königin von Saba (1875) unter dem des Historismus, während Fr. Schuberts Die Freunde von Salamanca noch in klösterlicher Tradition steht und heute eher naiv oder W. Kienzls „Volksoper“ (Volkstheater) Der Evangelimann (1895) volkstümelnd erscheinen. Bekannt ist aber auch, dass z. B. der Bau von eigenen Opernhäusern im Zuge der Moderne um 1900 für die Identität größerer Städte von besonderer Bedeutung, ja der Bedarf wohl nicht zufällig in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ab 1870 zum Großteil von nur einem Wiener Architektenteam (F. Fellner & H. Helmer) befriedigt wurde. Andere, zumal extremere Formen von Re-Sakralisierung (wie z. B. Alexander Skrjabin in Russland in den ersten oder Karl-Heinz Stockhausen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh.s) haben in Österreich nicht Fuß gefasst. Nur z. T. mit S. erfasst wäre der Erfolg von „Kirchenopern“ des Carinthischen Sommers in Ossiach/K (in welchem Zusammenhang auch G. v. Einems Jesu Hochzeit [1980] zu verstehen ist). Vielmehr ist allein diesen wenigen Beispielen zu entnehmen, dass S. sich auf alle Religionen beziehen kann, v. a. aber offenbar kein linearer Prozess in der Geschichte ist, sondern mehrfach durch Sakralisierungsprozesse unterbrochen und/oder konterkariert wurde. Ob diese nun abwechselnd oder gegenläufig abliefen: das Verhältnis S. – Sakralisierung dürfte einem Geben und Nehmen (ähnlich dem zwischen Volks- und Kunstmusik) vergleichbar sein.
G. Marramao, Die S. der westlichen Welt 1999; H. de la Motte-Haber (Hg.), Musik und Religion 22003; W. Suppan, Der musizierende Mensch 1984; R. Flotzinger in C. Ottner (Hg.), [Kgr.-Ber.] Apokalypse. Wien 1999 , 2001; G. M. Dienes (Hg.), Fellner & Helmer. Die Architekten der Illusion 1999.