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Reichersberg
Augustiner-Chorherrenstift im seit 1779 oberösterreichischen, davor bayerischen Innviertel. Das Kloster wurde durch einen Wernher von R. gegründet, der um 1080 seine Burg in den Sitz einer geistlichen Gemeinschaft umwandelte, die allerdings in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens mehrmals wieder von hier vertrieben wurde. Erst mit der Berufung Gerhohs (Gerhoch) aus dem oberbayerischen Stift Rottenbuch zum Propst im Jahre 1132 setzte eine Periode ruhigerer Entwicklung ein. Gleichzeitig kam es zu einer engen Bindung an die durch Erzb. Konrad I. von Salzburg geprägte Regularkanonikerreform.

Mit Gerhoh begegnen auch die ältesten Zeugnisse zur Musikgeschichte von R. In den erhaltenen Handschriften seiner theologischen Werke finden sich innerhalb seines Psalmenkommentars (Tractatus in psalmos) mehrfach Zitate von Texten liturgischer Gesänge, einzelne davon mit linienlosen deutschen Neumen. Zu zwei ebenfalls darin enthaltenen Hymnendichtungen, die in R. entstanden sein dürften, bietet ein Klosterneuburger Hymnar die Melodien, und im Rahmen einer zeitkritischen Abhandlung Gerhochs findet sich die bekannte Textstelle über bestimmte Geistliche Spiele nach Art des Ludus de Antichristo.

Von den hochmittelalterlichen Musikhandschriften sind nur wenige Fragmente eines Missale und zwei Blätter eines Antiphonars erhalten. Letztere zeigen Abschnitte der Offiziumsliturgie von Weihnachten und dem Fest des hl. Evangelisten Johannes. Die beiden Blätter sind besonders bemerkenswert, weil ihre Notationsweise – vorwiegend „Metzer“ Neumen auf vier Linien – eine Verbindung zu den Klosterneuburger Antiphonaren CCl 1010, CCl 1012 und CCl 1013 und zu dem Missale Graz UB 807 aufzeigt und so in der Frage nach den Verbreitungswegen dieser in unserem Raum damals neuen Aufzeichnungsart eine Rolle spielt. Sie wurde zuletzt mit einer Herkunft dieser Handschriften aus dem Skriptorium von St. Nikola/Passau zu beantworten versucht.

Fragmente spätmittelalterlicher Choralhandschriften finden sich als Einbandmaterial von R.er Archivalien des 17. Jh.s. Im Stiftsarchiv liegt auch noch ein um ca. 1900 neu gebundenes Teilantiphonar (Cod. 60) mit lückenhaften Abschnitten der Offiziumsliturgie, lateinischen Liedern und einer Gruppe von zweistimmigen Organumsätzen (Mehrstimmigkeit), das um 1500 geschrieben wurde. Die Herkunft ist ungeklärt; in jüngster Zeit wurde eine Entstehung in Böhmen wahrscheinlich gemacht.

Orgelspiel wird durch die Nennung von Organisten schon für die Wende vom 15. zum 16. Jh. bezeugt. Vorauszusetzen ist auch eine intensive Musikpflege im Rahmen der schulischen Unterweisung. Mit der Ausbreitung der humanistischen Bewegung traten weltliche Lehrer an die Stelle der geistlichen „Scholastici“. So begegnet um die Mitte des 16. Jh.s ein Mag. Ulrich Lufftenecker, der eine Zeit lang in Wittenberg/D studiert hatte, als Lateinschulmeister. Dieser war auch für den Chorgesang der Stiftsschüler verantwortlich. Neben den traditionellen Musikformen gehörten Lutherische Lieder (Deutsche Psalmen) zum Repertoire. Aus der zweiten Hälfte des 16. Jh.s sind vier gedruckte Chorbücher aus der Reihe Patrocinium musices mit Motetten, Magnificatkompositionen, Lektionsvertonungen und einer Passion von O. di Lasso erhalten. Das früheste Zeugnis für die Übernahme der Formen der Barockmusik ist eine Notiz in den Prälaturrechnungen von 1644 über den Ankauf einer Miserere-Sammlung mit selbständig geführten Instrumentalstimmen des Ranshofener Stiftsorganisten S. Widerstain.

Nach dem großen Stiftsbrand des Jahres 1624 wurde 1638 eine neue Orgel aufgestellt, die A. Butz angefertigt hat. Als Organisten wirkten weltliche Musiker, später auch einzelne Chorherren. Der bekannteste von ihnen war A. Estendorffer, von dem Orgelwerke in einer Ottobeurener Handschrift (HS.MO 1037) erhalten sind. Auch das Amt des Chorregenten, der neben der Kirchenmusik die Stiftsschule leitete, lag damals in zunehmendem Maße wieder in den Händen eines Chorherren. Einer dieser geistlichen Chorregenten war Gabriel Adler (1663–1744). Von ihm nennt ein Mattighofener Musikinventar von 1726 ein Miserere. Bereits 1665/66 hatte der zehnjährige J. Beer ein Schuljahr in R. verbracht. Als Musicus insignis wird in den Archivakten der weltliche Schullehrer und Organist A. Hirschberger (zwischen 1723/36 in R.) qualifiziert. Er war ein Sohn des Passauer Domorganisten Amand Hirschberger. 1774 zerstörte der Einsturz des Turmes der Stiftskirche die Orgel. Mit ihrem Neubau wurde Johann Michael Herberger aus Stadt am Hof bei Regensburg/D beauftragt. Organist war 1759–1810 A. C. Hirschberger, ein Sohn des früheren Stiftsorganisten.

Das Stift wurde dann 1810 unter Administration gestellt und sollte aufgehoben werden, widerstand jedoch der Auflösung, und mit dem Chorregenten Joseph Pöll (1780–1830) begann nach 1817 zugleich mit der Restauration des Klosters der Neuaufbau der Stiftsmusik und des Musikarchivs. Zu den im Stift noch vorhanden gewesenen älteren Noten – die breitere Überlieferung beginnt um 1780 – besorgte er teils neue Musikdrucke, teils Abschriften von fremder Hand. Viele Werke wurden auch von ihm selbst kopiert. Ein thematischer Katalog erschloss das Ganze für den praktischen Gebrauch. Sein Hauptaugenmerk galt dabei den Kompositionen von J. und M. Haydn, W. A. Mozart und deren Zeitgenossen, daneben aber auch den durch die Romantik wiederbelebten Werken der Renaissance und des Barock. Besonderes Interesse verdient eine mit 1776 datierte Abschrift der Großen Orgelsolomesse (Hob. XXII:4) von J. Haydn. Bemerkenswert im Blick auf die Rezeption der Vokalmusik von J. S. Bach ist auch der Erwerb des Erstdrucks von dessen Motette Singet dem Herrn, alle Heiden und der Kantate Ein feste Burg ist unser Gott.

Pölls Nachfolger, der Chorherr E. Zöhrer, hat die Bestrebungen seine Vorgängers fortgeführt. Besonders bekannt wurde er durch die Vertonungen von Mundartgedichten seines Freundes F. Stelzhamer. Über 70 Lieder, Duette und Chöre sind – größtenteils in Autographen – in R. vorhanden.

Die Reformideen des Cäcilianismus bestimmten seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s die Kirchenmusik im Stift. Der Chorregent Peter Altwirth (1841–1914) hatte gute Kontakte zum Hauptrepräsentanten der österreichischen Richtung dieser Bewegung, dem Gmundener Lehrer und Organisten J. E. Habert, der 1882 auch die Disposition für den erweiternden Umbau der Stiftskirchenorgel entworfen hat. Ähnliche Tendenzen lassen sich unter Altwirths Nachfolgern – sie waren teils Chorherren, teils Schullehrer in R. – bis in die Mitte des 20. Jh.s beobachten, wobei ein allmähliches Einschwenken auf die Regensburger Richtung des Cäcilianismus festzustellen ist.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Musikleben im Stift durch die Persönlichkeit des Stiftsrentmeisters Roman Foissner (* 1924, Chorregent seit 1956) geprägt. Neben den eigenen Aufführungen mit dem Chor der R.er Stiftskirche sind v. a. seine Initiativen bei der Planung und Durchführung der Konzertveranstaltungen im Rahmen des Musischen Sommers R. zu würdigen. Hervorzuheben ist schließlich auch sein Eintreten für den neuerlichen Umbau der Stiftskirchenorgel (1981 durch die Schweizer Orgelbaufirma Metzler). Ende 2001 hat er die musikalischen Aufgaben dem Lehrer Walter Druckenthaner (* 1947) übergeben.


Literatur
R. W. Schmidt in [Fs.] 900 Jahre Stift R. 1983; [Kat.] 900 Jahre R. 1984; R. Flotzinger in Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 31 (1989); F. Celestini in StMw 44 (1995); St. Engels in MusAu 14/15 (1996); F. Celestini in Quaderni di „Musica e Storia“ 3 (2002).

Autor*innen
Rudolf W. Schmidt
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Rudolf W. Schmidt, Art. „Reichersberg‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00035dd7
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


DOI
10.1553/0x00035dd7
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