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Reformation
Durch Martin Luthers Wittenberger Thesenanschlag 1517 ausgelöste religiöse Bewegung (von lat. reformatio = Umgestaltung, Erneuerung), deren theologische Rechtfertigung geistesgeschichtlich mit der Ausbreitung des Humanismus zusammenfällt und die durch die Erfindung der Buchdruckerkunst die neuen Möglichkeiten massenhafter Verbreitung nutzen kann. Der Zerfall der konfessionellen Einheit des Abendlandes ergab sich aus der raschen Ausbreitung und unterschiedlichen Gewichtung der reformatorischen Ideen (Ulrich Zwingli und Johannes Calvin in der Schweiz, Thomas Müntzer, bis zu den Wiedertäufern und der aus den Böhmischen Brüdern hervorgegangenen Confessio Bohemica) sowie deren staatskirchliche Festigung in Dänemark, Norwegen, Island, Schweden, England u. a. im Verlauf der 1. Hälfte des 16. Jh.s. Seit der feierlichen „Verwahrung“ der evangelischen Reichsstände gegen die kaiserliche Religionspolitik auf dem Reichstag zu Speyer/D, 1529, bezeichnet man die Gesamtheit der aus der R. hervorgegangenen christlichen Kirchen und Bewegungen als Protestantismus.

Für die Geschichte der Musik in Europa bedeutet die R. eine wesentliche Neubewertung der Funktion geistlichen Singens und Musizierens. Im Sinne der aktiven Mitgestaltung der Liturgie durch die Gemeinde übersetzt Luther nicht allein die Bibel ins Deutsche, er beteiligt sich persönlich an der Schöpfung landessprachlicher Lieder, denen nun im Gottesdienst erstmals liturgisch-konstitutive Funktion zukommt und die zudem in der Öffentlichkeit „politisch“, für den neuen Glauben werbend wirken. Man denke nur an das Spottlied „Nun treiben wir den Papst hinaus“. Mehr als alles Predigen hat das Singen deutscher geistlicher Lieder (Kirchenlied) die Menschen der neuen Lehre gegenüber aufgeschlossen gemacht, in der Sprache des Jesuiten Adam Conzenius: Luthers Lieder hätten dem Katholizismus mehr Seelen geraubt als seine Theologie. In dem auf Einblattdrucken und Flugschriften (Flugblatt) verbreiteten Liedern, vielfach geistliche Kontrafakturen, d. h. in alten, allgemein bekannten „Tönen“ zu singen, vollzogen sich wesentliche Auseinandersetzungen zwischen altem und neuem Glauben. Infolge der verfeinerten drucktechnischen Möglichkeiten entstanden bald offizielle, kirchlicherseits approbierte Liederbücher in hohen Auflagen, doch daneben lebte das persönliche, individuell gestaltete handschriftliche Liederbuch bis in das 19. Jh. weiter, oft auch als Mischform, in dem gedruckte und handgeschriebene Liederblätter, geistlicher oder weltlicher Provenienz, in bunter Reihenfolge zu einem Buch gebunden wurden.

Das musikhistorische Bild der Situation zwischen R. und Gegenreformation in Österreich, von der Veröffentlichung der Thesen Luthers 1517 bis zum Ende des 1. Drittels des 17. Jh.s, und weiter bis zum Toleranzpatent K. Josephs II. 1781, ergibt sich aus einer Fülle einzelner Daten. Treffend hat der Gesellpriester Andre aus St. Lorenzen im steirischen Mürztal im Jahr 1528 die Stimmung unter der Bevölkerung charakterisiert: „Es wäre besser, wenn man die Messe deutsch singe, so verstünde der gemeine Mann, was man singe“. Damals hatte sich der Adel in Innerösterreich ebenso wie in Tirol, Nieder- und Oberösterreich schon den Lehren Luthers zugewandt, aber auch Bürger und Bauern waren von der Idee fasziniert, in „ihrer Sprache“ singend mit Gott in Kontakt treten zu können. Von der Hinrichtung Kaspar Taubers, des frühesten evangelischen Blutzeugen Wiens, im Jahr 1524, berichtete bereits ein Jahr später das Lied: „Nun hört, ich will euch singen aus trauriglichem Mut“. 1527 wurde der Protomartyr des Evangeliums in Oberösterreich, der Waizenkirchener Pfarrer Leonhard Kaiser, zu Schärding verbrannt. Der Sterbende bat das umstehende Volk, jenes „Komm, heiliger Geist, Herre Gott“ zu singen, das Luther drei Jahre zuvor „christlich gebessert“ hatte. Vom gewaltsamen Sterben der zwölf Wiedertäufer in Bruck an der Mur 1529, wobei neun Männer enthauptet und drei Mädchen ertränkt wurden, erzählt das 16-strophige Brucker Täuferlied. Als 1530 der Wiedertäufer Georg Grünwald in Kufstein verbrannt wurde, sang er auf die Lindenschmiedweise sein noch heute lebendiges „Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn“, das der Wiener Hofkapellmeister Arnold von Bruck 1544 für Georg Rhaw in Wittenberg vierstimmig setzen sollte. In Liedertexten spiegelt sich so die dramatische Geschichte der Verbreitung des Protestantismus. Doch die Entwicklung erschien zunächst nicht umkehrbar: Visitationen in Tirol und in Oberösterreich vermerkten seit den 1530er Jahren, dass an vielen Orten während des Gottesdienstes „allerlai teutsche Bsalmen und Lieder“ (1536) sowie „Lutterische Psalmen“ gesungen würden; aus Oberösterreich wird um die Jh.mitte von den weit verbreiteten Liedern „Aus tiefer Not“, „Dies sind die heiligen zehn Gebot“, „Eine feste Burg“, „Es wollt uns Gott gnädig sein“ berichtet. Auch die Schulen des Meistersangs in Schwaz in Tirol, in Steyr und in Wels in Oberösterreich gediehen im protestantischen Umfeld.

Während Flugschriften und bald auch Gesangbücher aus deutschen Offizinen die vielfach bereits schriftkundigen Adeligen, Bürger und selbst Bauern in österreichischen Ländern seit den 1520er Jahren erreichten, setzten Gesangbuchdrucke in Österreich erst später ein. Der von der Liedforschung zunächst dem alten Glauben zugeordnete „Hymnarius: durch das ganntz Jar verteutscht nach gewödlicher weyß vnnd Art zw synngen so yedlicher Hymnus Gemacht ist“, 1524 bei Josef Piernsider gedruckt und von dem Gewerken Georg Stöckl auf Schloss Siegmundslust bei Schwaz in Tirol verlegt, kann nicht als erstes deutsches katholisches Gesangbuch qualifiziert werden, sondern entspringt, ohne dies dezidiert zu vermerken, protestantischer Geisteshaltung. Dies gilt auch noch für viele spätere Drucke, wie die von Andreas Franck in Graz hergestellte Gesang Postill von A. Gigler, 1574, in der sich Zeugnisse des katholischen wie des evangelischen Kirchengesanges ineinander verschachteln, wie dies in Übergangszeiten vielfach anzutreffen ist. Dagegen setzte 1567 mit J. Leisentrits Bautzener Druck „Geistliche Lieder vnd Psalmen der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen“ der neue Typ des gegenreformatorischen Liederbuches ein, in dem sich eine Fülle älterer und neuerer deutscher geistlicher Lieder findet, die – und das bleibt bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil so – „vor vnd nach der Predigt auch bey der heiligen Communion vnd sonst in dem haus Gottes zum theil in vnd vor den Heusern doch zu gewönlichen zeitten durchs gantze Jar ordentlicher weiß mögen gesungen werden“. Das bedeutet, dass im katholischen Gottesdienst das deutsche geistliche Lied zwar weiterhin keine liturgisch-mitgestaltende Funktion einnehmen kann, dafür aber – als Reaktion auf die evangelische Haltung – abseits der Liturgie eine reiche paraliturgische Spielwiese im „volksbarocken Brauchtum" der häuslichen und öffentlichen Andachten, der Prozessionen und Wallfahrten sich auftut. Auch N. Beuttner betont im Vorwort seines Grazer katholischen Gesangbuchs (1602) diese Funktion geistlichen Singens.

Hinzuweisen ist schließlich auf die Musikpflege in der früh dem Luthertum sich zuneigenden adeligen und städtisch-bürgerlichen Gesellschaft. Damit verbunden erschien die Einrichtung eines qualitativ hochwertigen Schulwesens, als dessen Folge bedeutende Theologen und Komponisten in die österreichischen Länder gelangten oder von hier aus Ansehen gewannen. Unter diesen David Chyträus (1530–1600, ab 1569 in Wien, seit 1573 in der Steiermark, um die 1578 auf dem Generallandtag in Bruck an der Mur angenommene protestantische Kirchenordnung auszuarbeiten), J. Brassicanus, J. F. Fritzius, J. C. Gallus, S. Hasenknopf, A. Haslmayr, J. Herold, Wendelin Kessler, D. Lagkhner, L. Lechner, Johannes Muling (Mulinus oder Stomius), P. Peuerl, I. Posch, A. Rauch, E. Widman, die sich vielfach auch als Komponisten hervorgetan haben. Auf der Basis des reformatorischen Liedgutes entstanden Chor- und Instrumentalwerke: Choralbearbeitungen, Kantaten, Motetten, Kantionalsätze, Orgelmusik, die den Gesang der Gemeindemitglieder – vielmals gegen den Willen der Kirchenoberen – ersetzen konnten, denen aber auch künstlerisch-identitätsstiftende Kraft zukam. Begräbnisgesänge Nürnberger Meister für Exulanten aus der Steiermark weisen auf das Nachleben des „steirischen Protestantismus“ in Deutschland hin. Schließlich unterrichtete J. Kepler an der evangelischen Stiftsschule in Graz und wirkte später als Landschaftsmathematiker der oberösterreichischen Stände in Linz.

Als der musikalische Historismus zu Beginn des 19. Jh.s in Wien und von dort weiter in der österreichischen Provinz im bürgerlichen Konzertleben Fuß fasste, kam es nicht zu einer Renaissance des Schaffens österreichischer katholischer Barockmeister, etwa eines J. J. Fux, sondern von evangelischen Komponisten Mittel- und Norddeutschlands; voran die Angehörigen der Bach-Familie sowie G. F. Händel, fanden begeisterte Aufnahme.


Literatur
[Kat.] Bibel und Gesangbuch im Zeitalter der R. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1967; Jb. für Liturgik und Hymnologie 1956ff (mit einer Fülle von einschlägigen Aufsätzen sowie alljährlicher Bibliographie); Jb. für die Gesch. des Protestantismus in Österreich 1880ff; RISM B/VIII/1–2: K. Ameln et al. (Hg.), Das Dt. Kirchenlied (DKL), Kritische GA der Melodien, Bd. 1: Verzeichnis der Drucke (Register) 1975/1980; R. W. Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jh.s, 2 Bde. 1974/75; H. Federhofer, Musik und Gesch. 1996 (u. a. mit dem Aufsatz über Die Musikpflege an der evangelischen Stiftskirche in Graz [1570–1599]); W. Pass in MGÖ 3 (1995); MGG 5 (1996) [Kirchenlied]; W. Lipphardt in G. Schumacher (Hg.), [Fs.] Traditionen und Reformen in der Kirchenmusik 1974; W. Lipphardt, Hymnologische Quellen der Steiermark und ihre Erforschung 1974; G. Mecenseffy, Gesch. des Protestantismus in Österreich 1956; D.-R. Moser, Verkündigung durch Volksgesang 1981; H.-J. Moser, Die Musik im frühevangelischen Österreich 1954; H.-J. Moser in H. Becker/R. Gerlach (Hg.) [Fs.] H. Husmann 1970; W. Pass (Hg.), Thesauri musici. Musik des 15., 16. und beginnenden 17. Jh.s 1973; W. Suppan, Dt. Liedleben zwischen Renaissance und Barock 1973, v. a. 43–53; W. Suppan in B. Sutter (Hg.), Die Steiermark im 16. Jh. 1979 (ND in W. Suppan, Werk und Wirkung 2000); W. Suppan in M. Sammer (Hg.), [Fs.] D.-R. Moser 1999; W. Suppan in K. Drexel/M. Fink (Hg.), Musikgesch. Tirols 1 (2001).

Autor*innen
Wolfgang Suppan
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Wolfgang Suppan, Art. „Reformation‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001de99
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