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Protestsong
Der Terminus impliziert die Zuschreibung authentizitätstheoretischer Konzepte zu jener Pop-Musik, die explizit in Wort und Verhalten geäußerte Gegenhaltung zur vorrangig amerikanisierten Nachkriegsgesellschaft ausdrückt, zumindest die Annahme, dass durch die gewinnbringende Distribution als Massengut dessen Inhalt gegen das herrschende politische Gefüge wirksam wird. Der P. erwächst im Umfeld der Beatniks, dem „Geschlagen-Sein“ entzieht man sich durch die Flucht vor dem beherrschenden System, symbolisiert in der Metapher „on the road“; die Inhalte sind durchsetzt mit existenzialistischem Gedankengut, dem starken Geformt-Sein des Individuums durch soziale und politische Prozesse. Ursprünglich in der Nähe der schwarzen politischen Außenseiter solidarisch gelebt, fand die literarische Bewegung im Folk ein Sprachrohr, das Pop-Lied wurde als massenhaft rezipierte Ware adaptiert, um Botschaften gegen Rassendiskriminierung in der Bürgerrechtsbewegung, das soziale Ungleichheit affirmierende kapitalistische System und dessen menschliches Leben wie Natur gefährdende Politik (atomare Aufrüstung im Kalten Krieg, imperialistische Kriege in Korea und Vietnam, wie die Gewinnung von Energie aus Atomkraftwerken) zu veröffentlichen. Singer-Songwriter bezeichnet jene politischen Akteure: Woody und Arlo Guthrie, Joan Baez, Bob Dylan, McGuinnes und Donovan kleideten diese Idiome in angloamerikanischen Pop.

Die kontinentaleuropäische Liedermacherszene popularisiert das französische Chanson mit explizit existenzialistischem Gehabe; in der Pariser Studentenrevolte von 1968 vermischt sich politische Schreibtischagitation mit Straßenschlacht, der P. ist medialer Teil dieser politischen Agitation einer Jugendbewegung. Der aufklärerischen Haltung der 1960er Jahre entnommen, bekannte sich der P. klar zum linken Flügel einer sozialdemokratischen Haltung, aus dem alternative politische Haltung geworden ist; aus der Suche nach sanften Alternativen im Rückzug aus dem kapitalistisch bestimmten Stadtleben der 1960er Jahre in die ländliche und Phantasie-Welt ist der grüne Ast genährt.

Der politisch bestimmte Terminus P. mutierte damals bereits in den handlungsorientiert definierten des Singer-Songwriter, den deutschen Terminus Liedermacher (Wolf Biermann), der populären Version der deutschen Singebewegung, die auf den Festivals Chanson Folklore International 1964–69 auf Burg Waldeck im Baybachtal/D die demokratischen sozialistischen Kampflieder erprobten.

Das Kabarett als initiierender Teil des Austro-Pop weist diesem von seinem Beginn (z. B. W. Ambros’ Da Hofa) explizite gesellschaftliche Protesthaltung zu. Die Vertreter des klassischen P.s in Österreich sammeln sich im Wiener Folk Club Atlantis im September 1968 von Rudolf Tietze als Verein Golden Gate Club gegründet, mitorganisiert von Erich Demmer, von F. Bilik und den Mitgliedern der Gruppe Worried Men Skiffle Group wesentlich getragen, nach dem Ende 1977 in den Verein Kritischer Liedermacher [VERKL] übergegangen, in steter Nähe zur Autorenszene, zu Literaturproduzenten und den Zeitschriften Wespennest, Frischfleisch), sie finden sich in der deklarierten Nähe zur sozialdemokratischen (Schmetterlinge) und kommunistischen Partei Österreichs (S. Maron) und werden zur Vorhut der „grünen Welle“. Der als Aktivist aus dem Paris der späten 1960er Jahre heimgekehrte Maler und Sänger A. Brauer hat die intellektuellen politischen Manifeste auf die Ebene ihrer Alltagsbedeutung zurückgeführt: der explizite P. mutiert zum basispolitischen Instrument, der impliziten politischen Haltung von Pop allgemein. Die Arena, die Besetzung und damit Inanspruchnahme staatlichen Eigentums durch die Öffentlichkeit, ist der Ort der politischen Selbstdarstellung, aus dem Feldzug gegen das geplante Atomkraftwerk Zwentendorf/NÖ (LP-Sampler: 1. Österreichische Anti-AKW-Platte 1977 von Kurt Winterstein [* 1948]) und die projektierte Zerstörung der Hainburger Auen durch ein Donaukraftwerk ist eine politische Kraft hervorgegangen. Die Flucht in die Alternative zur Realität proklamiert A. Heller mit der Inszenierung phantastischer Welten – die Vielfalt von liedhaft geäußerten Protesthaltungen solidarisiert sich vorerst in der Grün-Alternativen Partei.

V. a. das grüne Gedankengut der Liedermacherszene nährt weiterhin eine politische Wende, die dem Begriff Heimat und seinem Lied nach dessen Gebrauch im Dritten Reich (Nationalsozialismus) neue Bedeutung zuspricht. Der Gebrauch nicht nur städtischer Sprach- und die Thematisierung nicht nur städtischer Lebensformen „protestiert“ gegen zentralistische politische Tendenzen. Dieser Protest findet in den Avantgarden des älpischen Rock (Broadlahn, Attwenger, Neue Volksmusik) eine neue ästhetische Form, er zieht mit dem allgemeinen politischen Wechsel in den Mainstream ein ( H. v. Goisern).

Möglicherweise in einem allgemeinen Revival der 1960er Jahre und ihrer Singer-Songwriter (vgl. eine entsprechende Edition von Time Life) entdecken hedonistische technoide Formen des Pop die ihm fremden liedhaften Formen und politischen Aussagen; v. a. die heimische Hip-Hop- sowie eine junge Frauen-Szene ist in dieser neuen Mischform hörbar.


Literatur
Ph. Maurer, Danke, man lebt. Kritische Lieder aus Wien 1968–1983, 1987; E. Larkey, Pungent Sounds. Constructing Identity with Popular Music in Austria 1993; MGÖ 3 (1995), 312–321.

Autor*innen
Werner Jauk
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Werner Jauk, Art. „Protestsong‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001ddfb
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


DOI
10.1553/0x0001ddfb
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