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Politische Musik
Musikalische Hervorbringungen, die entweder von der Intention des Produzenten her bewusst und gewollt politisch gemeint sind oder in der Rezeption eine explizite politische Aufladung erfahren, wobei der Begriff p. M. definitorisch nichts über die Art der vermittelten politischen Inhalte und Wertungen aussagt.

Als kulturelle und soziale Praxis kann Musik immer auch in einem Zusammenhang von Macht und Herrschaft, sozialer Zugehörigkeit und Verfügungsgewalt über Ressourcen, mithin politisch aufgefasst werden: Wie jede Form soziokultureller Praxis ist Musik also immer latent politisch, manifest politisch wird sie bei unmittelbarer Einbeziehung in die soziokulturellen Handlungsfelder von Staat, Machtausübung, sozialen Konflikten und Artikulation kollektiver Interessen oder bei der gezielten Einsetzung von mobilisierender Wirkungsmacht (z. B. Marschrhythmus). Die politische Intention kann sich in der Art der Bearbeitung des musikalischen Materials ausdrücken, musikalische Zitate oder Verweise benutzen oder in der Vertonung politischer Texte bestehen. Wesentlich ist dabei, dass sich die politische Dimension, unabhängig von der Intention des Produzenten, niemals unmittelbar im musikalischen Material selbst ausdrückt, sondern erst aus dem Kontext – programmatische (politische und/oder ästhetische) Erklärungen (Programmeinführung) der Produzenten, Art der Aufführungspraxis, Organisationsformen, Texte etc. – ergibt und notwendig immer den Rezipienten einbezieht, dem konkrete politische Inhalte bzw. Identifikationsangebote vermittelt werden sollen. P. M. strebt bestimmte Formen der Wirkung beim Rezipienten an und versteht sich mithin immer als Form der Kommunikation. Da sich die politische Geladenheit von Musik nicht allein aus der Intention des Produzenten, sondern auch aus der Interpretation des Rezipienten herleitet, können Musikstücke mit ursprünglich politischer Bedeutung diese im Laufe der Zeit verlieren oder ursprünglich nicht explizit politisch intendierte Kompositionen durch ihre spätere Einbeziehung in politische Zusammenhänge eine nachträgliche politische Aufladung oder Kontamination erfahren. Bezüglich des politischen Charakters der Komposition von intendiert p.r M. lassen sich allgemein zwei Auffassungen unterscheiden: Zum einen kann im Besonderen auf wirksamkeitssteigernde Einfachheit und Verständlichkeit Wert gelegt werden, zum anderen kann die Avanciertheit im Bereich des musikalischen Materials und der Kompositionstechnik selbst als politische Aussage aufgefasst werden. Im ersten Fall wird auf unmittelbare Eingängigkeit und gleichsam pädagogische Wirksamkeit abgezielt, im zweiten Fall steht die Idee eines gerichteten und sinnhaften historischen Prozesses (Fortschritt) und oftmals ein marxistischen Quellen entlehntes Schema der Korrespondenz zwischen sozioökonomischem „Unterbau“ und kulturellem „Überbau“ Pate (musikphilosophisch ausformuliert bei Th. W. Adorno). Die vermutlich einflussreichste Form p.r M. ist in seiner Verbindung von verbalem und musikalischem Text das Lied, wobei sich der Rahmen von staatstragenden Nationalhymnen (Hymnen) bis hin zu revolutionären Kampfliedern erstreckt und im weiteren Sinn auch die Bereiche von Scherz-, Rüge- und Spottliedern, von sozialromantischen Vaganten- und Wildererliedern u. dgl. mehr, sowie von Protestsongs und auch von Parodien umfasst. Eine Sonderform stellt v. a. die Staats- oder Nationalhymne (Bundeshymne) mit ihrer unmittelbar angestrebten emotionalen Bindung an den Staat und die Gemeinschaft der Staatsbürger dar, wobei sich hinsichtlich der Genese eine Unterscheidung zwischen „Hymnen von Unten“ (z. B. Marseillaise) und „Hymnen von Oben“ (z. B. österreichische Kaiserhymne) treffen lässt, woraus jedoch keine Unterschiede in der politischen Bedeutung oder Funktion abgeleitet werden können. Am Rande können auch die Militärmusik (von taktischen Signalfunktionen über den Bereich mobilisierender Wirkungsmacht [Marsch] bis hin zum Genre der zuweilen auch kritischen Soldatenlieder), dazu politisch, meist im Sinne eines rückwärtsgewandt-antimodernen und nationalistischen Denkens instrumentalisierte, sog. „Volkslieder“ (rege Sammlungstätigkeit und Normierung im 19. und frühen 20. Jh.) und Formen der öffentlichen Inszenierung musikalischer Ereignisse (z. B. Neujahrskonzert, politisch motivierte Konzertereignisse, Salzburger Festspiele, Aufführungen der Wiener Staatsoper etc.) als spezifische Formen der politischen Instrumentalisierung von Musik aufgefasst werden.

Musikalische Formen der Herrscherhuldigung (z. B. zur Geburt, Heirat oder Krönung von Herrschern, weiters in Form von Sieges- oder Friedenfeiern, bzw. Auftragskompositionen zur Verherrlichung typischer „Herrschertugenden“; Huldigungsmusik) sind traditionelle Formen p.r M., die jedoch im Prinzip bis in die Gegenwart (z. B. Huldigung totalitärer Herrscher) hereinreichen, wobei sich u. U. auch der Form nach religiöse Kompositionen, z. B. Messen, als politische Formen musikalischer Komposition und Aufführungspraxis verstehen lassen. Die Entstehung einer von Ziel und Zweck her politisch intendierten Musikkultur fällt in den Bereich der Politisierung fast aller Bereiche des soziokulturellen Lebens in Europa im Zeitalter der französischen Revolution (1787–95), in dem auch die Idee nationaler Hymnen entwickelt wurde. Beispiele explizit oder auch implizit politisch konnotierter Kompositionen im Bereich der Musikgeschichte der Habsburgermonarchie in dieser Zeit sind neben J. Haydns Kaiserhymne u. a. W. A. Mozarts Oper Le Nozze di Figaro (1786) mit ihrer von K. Joseph II. ausdrücklich geförderten Kritik des Adels im Libretto, J. Haydns Nelson-Messe (musikalische Verherrlichung des militärischen Sieges Lord Horatio Nelsons über Napoleon, 1798–1800) sowie weiters L. v. Beethovens 3. Symphonie (Eroica, 1804) mit ihrer später getilgten Widmung an Napoleon und das humanistisch-völkerverbindende Pathos des abschließenden, auf einem Text von Friedrich v. Schiller beruhenden Chorsatzes von Beethovens 9. Symphonie (1824; heute Europahymne). Die bürgerliche Revolution von 1848/49 brachte ein reichhaltiges Repertoire heute, nicht zuletzt aufgrund des politischen Scheiterns der Revolution, größtenteils vergessener Revolutionslieder mit sich, darunter zahlreiche Kontrafakturen. Ungleich bekannter, wenngleich kaum mehr in seiner ursprünglichen politischen Konnotation präsent, ist z. B. der von der Intention her konterrevolutionäre Huldigungs-Marsch von Joh. Strauss Vater auf einen der militärischen Überwinder der Revolution, Johann Joseph Wenzel Graf Radetzky (vgl. auch den weniger bekannten Jellacic-Marsch desselben Komponisten).

Die 2. Hälfte des 19. Jh.s bietet zahlreiche Beispiele des Bemühens um die Entwicklung explizit nationaler Musikstile (in Form von „inventions of tradition“), die im habsburgischen Vielvölkerstaat staatspolitisch brisant waren (Nationalstil). Dabei wurden zum einen Einflüsse der als national codierten Volksmusiken (deren eindeutige nationale Zuordnung für sich oft schon auf einem konstruktiven Akt beruhte) verarbeitet, andererseits aber auch avancierte Formen der Behandlung des musikalischen Materials als spezifisch national konnotiert. Auffallend ist dabei, dass sich die verschiedenen „nationalen“ Musikstile zumeist stark ähneln und eine konkrete nationale Zuordnung nur durch ihre Kontextualisierung möglich ist. Einen für die Habsburgermonarchie bedeutsamen Sonderfall stellt die Rich. Wagner-Verehrung dar, die – auch gestützt auf theoretische Schriften des Komponisten – weit über den musikalischen Bereich hinaus ideologisch und politisch (deutschnational, z. T. antisemitisch, aber auch republikanisch und lebensreformerisch) wirksam wurde (Wagnerianismus). Die Ablehnung dieser Musik durch das bürgerlich-liberale Publikum der Ringstraßenära wurde von E. Hanslick philosophisch-ästhetisch begründet, wobei anzumerken ist, dass natürlich auch die Auffassung einer unpolitischen „reinen“ (absoluten) Musik eine der Form nach politische Stellungnahme zu Musik darstellt.

Politisch bedeutsam war überdies auch die sozialdemokratische Arbeitermusikbewegung, die ihr Zentrum in Österreich und Deutschland hatte und ihre Blütezeit in der Ersten Republik (1918–34) erlebte. Institutionelle Träger sowohl der nationalen als auch der sozialen Musikbewegungen waren Laienmusikvereinigungen und Laienchöre, deren Repertoire stets zu einem großen Teil dem internationalen traditionellen Kanon bürgerlicher Musik- und Chorliteratur entsprach und nur im Einzelfall, etwa in den Sprechchören der Arbeitermusikvereine, zu neuen Formen explizit politischer Musik führte. Eine extreme Form der Politisierung erfuhr das österreichische Musikleben in den Jahren des Nationalsozialismus (1938–45), als alle sozialen und kulturellen Lebensbereiche nach ideologischen Kriterien ausgerichtet wurden. (Vertreibung [Exil] und Ermordung jüdischer und politisch unerwünschter Komponisten und Interpreten, Ausgrenzung sog. „entarteter“ Musik wie Zwölftonmusik, Jazz etc., Bekenntnis zu einem konservativ-reaktionären Musikverständnis, Förderung bestimmter Formen der Volksmusikpflege, Einbeziehung bestimmter Musikstücke, z. B. von Wagner und F. Liszt, in Formen der Massenmobilisierung und -inszenierung). Musikalische Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Verbrechen stellen u. a. das Dachaulied (1938, T: J. Soyfer, M: H. Zipper) und A. Schönbergs op. 46 A Survivor from Warsaw (1947) dar.

Im nach der militärischen Niederlage des Dritten Reiches (1945) wiedererrichteten republikanischen österreichischen Staat konnte sich eine bewusst politisch intendierte Musik nicht durchsetzen: Im Konzertleben blieb der Kanon klassischer Werke dominant, auf personeller und institutioneller Ebene des Musiklebens stellte das Jahr 1945 nur insofern einen spürbaren Einschnitt dar, als kriegsbedingte Einflüsse (z. B. Zerstörung der Staatsoper) wirksam waren. Allerdings wurde Musik, konkret Komponisten der Vergangenheit, v. a. W. A. Mozart, Fr. Schubert und Joh. Strauss Sohn, zur gezielten Stiftung einer harmonisierenden, vorgeblich entpolitisierten österreichischen Identität instrumentalisiert, wobei auf Traditionen der Habsburgermonarchie und v. a. der Ersten Republik zurückgegriffen werden konnte und übrigens auch Innovationen der nationalsozialistischen Kulturpolitik (z. B. das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker) im Sinne der bewussten Stiftung einer österreichischen „Kulturnation“ uminterpretiert wurden. Kennzeichnenden Ausdruck fand diese Rolle „klassischer“ Musik als Identität stiftendes Element in der als Staatsakt begangenen, mit der Bundeshymne eingeleiteten Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper (5.11.1955) mit Beethovens Fidelio, die auch als Festakt der wieder gewonnenen Unabhängigkeit Österreichs durch den Staatsvertrag und den damit verbundenen Abzug der alliierten Besatzungstruppen inszeniert wurde. Wie bereits in der Ersten Republik (1920) wurde auch in der Zweiten Republik Österreich eine neue Bundeshymne eingeführt: Aus einem Wettbewerb ging der Text von Paula von Preradović, gesungen auf ein W. A. Mozart zugeschriebenes „Bundeslied“ der Freimaurer, als Sieger hervor (offizielle Einführung: 25.2.1947).

Zu einer verstärkten Diskussion über die gesellschaftspolitische Funktion von Musik kam es auf internationaler Ebene im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Reformbewegungen der 1960/70er Jahre: Diese Diskussionen über die politische Funktion avancierten musikalischen Materials (im Sinne einer Korrespondenz von künstlerischer und politischer „Avantgarde“) wirkten auch nach Österreich, ihre Rezeption blieb jedoch weitestgehend auf einen engen Kreis von Spezialisten beschränkt. Als ungleich einflussreicher erweisen sich andere Formen politischer bzw. politisierter Musik, vorerst aus dem politischen Kabarett hervorgehend, später im Bereich der aus dem angelsächsischen Bereich übernommenen Formen der Pop- und Rockmusik (teilweise auch beeinflusst durch das französische politische Chanson), die zumindest Anfangs als politisch progressiv eingestuft wurden, und im Rahmen des Austro-Pop u. a. auch spezifische Formen des (sozial)politischen Protestsongs (zumeist sozialistischer oder „alternativer“ Ausrichtung) übernahmen und hervorbrachten (bzw. im Einzelfall auch zu größeren Kompositionen zusammenfügte, z. B. Proletenpassion [1977] der Folkrock-Band Die Schmetterlinge).


Literatur
(Chronologisch:) H. Gerstenberg, Deutschland, Deutschland über alles 1933; Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik 1958; J. Wulf, Musik im Dritten Reich 1963; W. McGrath, Wagnerianism in Austria, Diss. Berkeley 1965; S. Denisoff in Sociological Quarterly 9/1968; F. Grasberger, Die Hymnen Österreichs 1968; L. Lammel, Das Arbeiterlied 1970; H. Pauli, Für wen komponieren Sie eigentlich? 1971; R. Stephan (Hg.), Über Musik und Politik 1971; C. Dahlhaus in NZfM 133 (1972); O. Kolleritsch (Hg.), Musik zw. Engagement und Kunst 1972; C. Dahlhaus in Darmstädter Beiträge zur neuen Musik 13 (1973); W. McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Austria 1974; H. J. Hansen, Heil Dir im Siegerkranz 1978; H. Haid/G. Haid (Hg.), Politisches Lied 1980; W. Jank, Arbeitermusik zw. Kunst, Kampf und Geselligkeit, Diss. Wien 1982; F. K. Prieberg, Musik im NS-Staat 1982; Ph. Maurer, Kritische Lieder. Ein Beitrag zur Gesch. und Theorie alternativer Kultur in Wien 1968–1983, 1984; K. Mellacher, ... und das Herz rot-weiß-rot 1984; H. W. Heister/G. Klein (Hg.), Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland 1984; B. Fuchs/C. Stadelmann, Straßenmusik in Wien 1987; Ph. Maurer/G. Jatzek, Gegentöne 1987; A. Riethmüller in Funkkolleg Musikgesch. 1988; F. Schneider, Welt, was frag ich nach Dir? Politische Portraits großer Komponisten 1988; A. Dümling/W. Girth (Hg.), Entartete Musik 1988; O. Kolleritsch (Hg.), Die Wr. Schule und das Hakenkreuz 1990; O. Rathkolb, Führertreu und Gottbegnadet 1991; R. Denselow, The Beat goes on. Popmusik und Politik 1991; F. K. Prieberg, Musik und Macht 1991; H. Steinert, Die Entdeckung der Kulturindustrie 1992; H. Brenner, Musik als Waffe? 1992; R. Noltenius, Illustrierte Gesch. der Arbeiterchöre 1992; H. W. Heister et al. (Hg.), Musik im Exil 1993; R. Braun/D. Gugerli, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen 1993; C. Juhasz, Kritische Lieder und Politrock in Österreich 1994; Orpheus im Exil 1995; P. Ebner, Strukturen des Musiklebens in Wien 1996; MGG 7 (1997); J. Steinbauer, Land der Hymnen 1997; M. H. Kater, Die mißbrauchte Muse 1998; F. Geißler/M. Demuth (Hg.), Musik Macht Mißbrauch 1999; J. M. Fischer, Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“ 2000; M. Walter, Hitler in der Oper 2000; M. Permoser, Die Wr. Symphoniker im NS-Staat 2000; T. Plebuch in Merkur 8/2002; B. Hamann, Winifried Wagner oder Hitlers Bayreuth 2002.

Autor*innen
Peter Stachel
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Peter Stachel, Art. „Politische Musik“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001dd66
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10.1553/0x0001dd66
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