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Phonographie, Phonogrammarchiv
Im Gegensatz zum Englischen, das mit phonogram, phonographic etc. auch die Produkte der Tonträgerindustrie (phonographic industry) einschließt, versteht man im Deutschen unter Phonographie im Allgemeinen die Herstellung akustischer Quellen für Forschungszwecke. Im Unterschied zur gängigen ästhetisch überformenden Praxis der Tontechnik bei Rundfunk-, Fernseh- und Schallplattenaufnahmen bedient sich die wissenschaftliche Phonographie spezifischer methodischer und technischer, dem jeweiligen Forschungsziel angepasster Verfahren. Phonogramm bezeichnet im Deutschen üblicherweise historische mechanische Schallträger (Zylinder sowie plattenförmige Träger, die nicht das Seitenschriftverfahren des Grammophons anwenden). Phonogrammarchiv (Ph.A.) war ursprünglich ein Gattungsbegriff für (wissenschaftliche) Schallarchive. Die Archive in Wien (Ph.A. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) sowie Zürich/CH (Ph.A. der Univ. Zürich) behielten bis heute (2004) ihre historischen Namen, die Archive in Berlin (heute Musikethnologische Abteilung des Museums für Völkerkunde) und St. Petersburg/RUS (heute Institut für Russische Sprache der Russischen Akademie der Wissenschaften) benützen für ihre Schallträgersammlungen zunehmend wieder ihre historischen Namen (Berliner bzw. St. Petersburger Ph.A.).

Das Interesse der Wissenschaft am systematischen Studium akustischer Phänomene durch zeitversetzte Wiedergabe begann 1890 unmittelbar mit der praktischen Verfügbarkeit von Schallaufzeichnungsgeräten. Österreicher waren zunächst nicht unter den Pionieren der phonographischen Aufzeichnung für wissenschaftliche Zwecke (USA 1890: Jesse Walter Fewkes, Sprach- und Musikaufnahmen bei den Passamaquoddy in Maine; Europa 1892: Béla Vikár, ungarische Volkslieder), setzten jedoch 1899 auf Initiative von Mitgliedern beider Klassen der damaligen kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien unter der Führung des Physiologen Sigmund Exner den weltweit ersten Schritt zur Gründung eines Schallarchivs. Der Aufgabenbereich wurde zunächst mit Sammlung und Bewahrung sprach- und musikwissenschaftlicher Schallaufnahmen aus aller Welt sowie sog. „Stimmporträts“ berühmter Persönlichkeiten umrissen, sehr bald aber auch auf naturwissenschaftliche Bereiche (besonders Tierstimmen) ausgedehnt. An Stelle der damals gebräuchlichen Edison-Zylinderphonographen wurde ein eigenes Aufnahmesystem, der „Wiener Archivphonograph“, entwickelt, der durch seine plattenförmigen Phonogramme die Herstellung dauerhafter Metallnegative (Matrizen) auf einfache Art gestattete. Die Sammlungsbestände kamen im Wesentlichen durch die Ausrüstung von Forschungsunternehmungen österreichischer Wissenschaftler zustande, die ihre Feldaufnahmen dem Archiv zur Archivierung (= technische Sicherung und inhaltliche Erschließung) überließen. So entstanden in der Frühzeit des Archivs zahlreiche, mittlerweile z. T. international wohlbekannte Sammlungen, u. a. R. Pöch (Neuguinea 1904–06 und südliches Afrika 1907–09), Rudolf Trebitsch (keltische Völker, Basken und Grönland-Inuit 1906–13), Abraham Z. Idelsohn (Palästina 1911–13), die systematischen Aufnahmen deutscher Dialekte der Akademie der Wissenschaften sowie die „Gesänge russischer Kriegsgefangener“ (1915–17, auch R. Lach). Die historischen Bestände haben beide Weltkriege im Wesentlichen verlustfrei überlebt. Als frühe Zeugnisse von universaler Bedeutung wurden sie seitens der UNESCO mit der Eintragung in das Internationale Register von Memory of the World ausgezeichnet. Seit 1999 werden sie in einer Gesamtausgabe auf CD sukzessive herausgegeben (Projektabschluss voraussichtlich 2015). Durch seine frühe Gründung und seine Politik der Unterstützung von Forschungsvorhaben Außenstehender hatte das Ph.A. in der 1. Hälfte des 20. Jh.s in Österreich eine Monopolstellung, die neben ihm keine anderen nennenswerten Bestände wissenschaftlicher Schallaufnahmen entstehen ließ. Lediglich im steirischen Volksliedwerk sind Feldaufnahmen auf ca. 300 Zylindern erhalten, die von Volksmusikforschern ohne Unterstützung durch das Ph.A. hergestellt wurden.

Nach dem Tod des Gründers Sigmund Exner 1926 wurde im Ph.A. unter den Leitern Leo Hajek (Physiker, 1927–38) und Walter Ruth (Anglist und Phonetiker, 1938–56) die apparative Auswertung vorwiegend linguistischer Schallaufnahmen gefördert. Eine Belebung der Sammlung erfolgte einerseits durch die Einführung der magnetischen Bandaufzeichnung ab 1950/51, insbesondere aber durch W. Graf, der die Leitung 1957 nach dem Tod Ruths übernahm. In Besinnung auf die Sammlungspolitik der Frühzeit schaffte Graf eine Reihe tragbarer Tonbandgeräte zur Unterstützung österreichischer Forscher an, die ihre Feldaufnahmen im Gegenzug dem Archiv übergaben. Dies führte zu einem sprunghaften Anstieg des Sammlungsstandes und zu Schwerpunkten gemäß den österreichischen Forschungsinteressen. Besonders stark sind Afrika, hier nicht zuletzt dank der Forschungen G. Kubiks, Afghanistan und der indische Subkontinent vertreten.

Mit der Gründung der Kommission (seit 2000 Institut) für Schallforschung der ÖAW unter W. Graf 1972 übernahm D. Schüller die Leitung. Zur fortgesetzten Unterstützung von Fremdprojekten gesellten sich in der Folge eigene Aufnahmeprojekte der Kustoden, die neben der Behandlung bisher unbetreuter Themen auch der Weiterentwicklung der technischen und methodischen Aspekte der phonographischen Feldforschung dienten. Abgesehen von der umfangreichen Dokumentation aktuellen Musizierens in ausgewählten österreichischen Regionen sind auf musikalischem Gebiet eine Reihe seitens der Gemeinde Wien unterstützter Dokumentationen des Wiener Musiklebens (u. a. Hausmusik, Hauskonzerte, Jazz, traditionelle Volksgruppen [Volksmusik] und Neuzuwanderer [Multikulturalität]) sowie die von Helmut Kowar initiierte Aufnahme mechanischer Musikinstrumente, eine bisher noch nicht systematisch erfasste musikwissenschaftliche Quellengattung, zu nennen. Auf technischem Gebiet widmet sich das Ph.A. dem Re-recording, der wissenschaftlich einwandfreien Übertragung historischer Tondokumente sowie Fragen der Erhaltung audiovisueller Datenträger einschließlich der digitalen Archivierung. Es ist, z. T. federführend, in die namhaften internationalen technischen und organisatorischen Gremien des audiovisuellen Archivwesens (insbesondere IASA, Association of Sound and Audiovisual Archives) eingebunden sowie innerhalb der UNESCO auf mehreren Ebenen (u. a. Memory of the World- Programme) aktiv. In dieser Kompetenz wird das Ph.A. regelmäßig zur Beratung von Schwesterinstituten, für Schulungen von audiovisuellen Archivaren sowie für die Übertragung von historischen Beständen international herangezogen.

Ihrer zunehmenden Bedeutung für viele Disziplinen Rechnung tragend, wurde der Tätigkeitsbereich des Ph.A.s seit 2001 auf videographische Dokumente ausgeweitet. Die bisher an österreichischen universitären und außeruniversitären Einrichtungen angesammelten Bestände an videographischen Originalaufnahmen (research footage) werden selektiv einer für wissenschaftliche Zwecke kompromisslosen (linear video file archiving) und dauerhaften Archivierung zugeführt. Gleichzeitig wird das bewährte Muster der Unterstützung von Feldforschern sukzessive auch auf die Videographie ausgeweitet, was insbesondere von Ethnomusikologen zunehmend in Anspruch genommen wird.

Der Sammlungsstand betrug Mitte 2004 rund 60.000 Einzelaufnahmen im Ausmaß von rund 8.000 Stunden (Audio) sowie rund 250 Stunden an Videoaufnahmen. Die Sammlungen sind teils über gedruckte Kataloge, teils über eine Datenbank zugänglich.


Tondokumente
Tondokumente aus dem Ph.A. der ÖAW (insgesamt 25 Titel), darunter GA der Historischen Bestände (bisher 8 von insgesamt ca. 17 Serien).
Schriften
Mitt.en der Ph.A.s-Kommission (später: des Ph.A.s).
Literatur
W. Graf in Biuletyn Fonograficzny 6 (1964); D. Schüller in W. Deutsch et al. (Hg.), Volksmusik in Österreich 1984; H. Kowar in StMw 31 (1980); Das audiovisuelle Archiv 45/1999 (zum 100-jährigen Bestehen des Ph.A.s. Elektronisch verfügbar unter www.pha.oeaw.ac.at (9/2004; Institutsbibliographie ebenda).

Autor*innen
Dietrich Schüller
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Dietrich Schüller, Art. „Phonographie, Phonogrammarchiv“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001dcf9
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.

MEDIEN

DOI
10.1553/0x0001dcf9
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