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Orchesterlied
Einsätzige Gedichtvertonung für Solostimme und/oder Chor mit Begleitung eines Orchesters, durchkomponiert oder in Strophenform. Gegenüber dem Klavierlied grenzt sich das O. durch klangliche Nuancierung, Dramatisierung des Inhalts, Steigerung des emotionalen Gehalts, Hebung der interpretatorischen Anforderungen und der ausschließlichen Bestimmung für den Konzertsaal – ab dem 20. Jh. allenfalls für die Medien – ab. Während das Klavierlied durchaus von ambitionierten Liebhabern wiedergegeben werden kann, bedarf das O. bis zum Einsatz von Verstärkern geschulter Stimmen, um gegenüber der Instrumentalbegleitung bestehen zu können. Die Diskrepanz zwischen großem Aufwand und kleiner Form sowie die Bindung an große Räume sind Ursache für die späte Etablierung des O.es in der 2. Hälfte des 19. Jh.s und den Rückgang am Ende des 20. Jh.s.

Die gattungsgeschichtliche Entwicklung verläuft diskontinuierlich. Ausgehend vom barocken Generalbasslied, erhält sich im regional unterschiedlichen Alltagsgebrauch von Musik der Usus einer flexiblen Melodie-Begleitung nach Maßgabe des verfügbaren Instrumentariums bis ins 20. Jh., unabhängig von den Vorstellungen des Komponisten. Man ließ die Singstimme mitunter von Melodieinstrumenten ausführen, orchestrierte Klavierlieder oder textierte Instrumentalstücke. Hinzu kamen Wünsche der Auftraggeber. So finden sich im Œuvre W. A. Mozarts, L. v. Beethovens und Fr. Schuberts Gesänge mit kleiner Instrumentalbesetzung: Mozarts Passionslied KV 146 „Kommet her, ihr frechen Sünder“ für Sopran, Streicher und Orgel (ca. 1779), Beethovens Lieder und Gesänge mit Triobesetzung (op. 108 sowie WoO 152–158) und Schuberts Komposition op. post. 129 (D 965) „Der Hirt auf dem Felsen“, wo die Klarinette mit der Singstimme in Konkurrenz tritt.

Eines der frühesten originalen O.er stammt von Mozart: das 1788 entstandene Deutsche Kriegslied KV 539, in Strophenform, einem Vor- und Nachspiel, das allerdings kaum Vorbildwirkung entfaltete. Anders verhielt es sich mit der Integration von populären Nummern aus Opern und Singspielen in die Mischprogramme von Konzertveranstaltungen, wodurch das O. in die Nähe der Arie rückt (z. B. das populäre Auftrittslied des Papageno aus Mozarts Zauberflöte KV 620).

Mit der Gründung von marktwirtschaftlich geführten Musikkapellen und Orchestern in der 1. Hälfte des 19. Jh.s differenzierte sich bekanntlich das Konzertrepertoire in Programme mit Authentizitätscharakter und solche mit dem Ziel der Unterhaltung, die allerdings als Forum für neueste Musik unverzichtbar waren. Einem starken Konkurrenzdruck ausgesetzt, trachteten die Veranstalter nach Attraktionen. Die Synthese aus neuen Klangfarben und bekannter Musik schuf solcherart neue Impulse für das O. So instrumentierten 1860 Hector Berlioz und F. Liszt unabhängig voneinander Schuberts Erlkönig (D 328, 1815). Ebenso instrumentierte Liszt Schuberts Gretchen am Spinnrade (D 118, 1814), Die junge Nonne (D 828, 1825), das Lied der Mignon (D 321, 1815) oder den Doppelgänger (D 957/13, 1828). Mit Liszts eigenen O.ern etablierte sich die Gattung in Musikkreisen, etwa sein Lied Jeanne d’Arc au bûcher, die drei Lieder aus Schillers Wilhelm Tell oder die Drei Zigeuner, alle zwischen den 1840er Jahren und 1860 entstanden, sowie sein Melodram Vor hundert Jahren (1859). Für einzelne Solisten konzipiert, deckten diese O.er aber nicht den Bedarf an Literatur für die wachsende Zahl an neuen Chören, deren Ansprüche auf wirkungsvolle Harmonik und die Möglichkeit abzielen, mit Orchester eindrucksvolle Auftritte zu gestalten. Eine der Maßnahmen bestand in der Textierung von berühmten Instrumentalstücken mit Liedcharakter, also vornehmlich von Tänzen (z. B. Schuberts Deutsche Tänze und Eccossaisen op. 33 [D 783], die, in einen vierstimmigen Chorsatz verwandelt, durchaus mit Instrumentalbegleitung gegeben wurden).

Ab der Jh.mitte des 19. Jh.s existieren zwei Entwicklungslinien von O.ern, eine, die dem Anspruch des Gesangskunstwerks genügt, und eine zweite, die sich auf Gefälligkeit und Praktikabilität gründet. V. a. im Wien des 19. Jh.s, wo die Grenzen zwischen Professionalität und Dilettantismus (Dilettant) fließend waren – man denke etwa an den Wiener Männergesang-Verein, wo ausgebildete Sänger mit begabten Dilettanten musizierten –, benötigte man diesbezügliche Literatur. Dass sich die Adaptierung von Tanzmusik zur Repertoireerweiterung anbot, liegt an der Struktur und am hohen Popularitätsgrad der betreffenden Stücke. Eines der frühesten Zeugnisse dieser Praxis datiert aus 1837, in Zusammenhang mit dem einaktigen Bühnenstück Strauss und Lanner (M: Joh. Strauß Vater, J. Lanner, T: Carl Toepfer). Man dramatisierte die Konkurrenzsituation der beiden Musiker, komponierte dazu aber keine eigenen Couplets, sondern adaptierte Walzer von Joh. Strauß Vater zu Gesangsnummern mit Orchesterbegleitung. 30 Jahre später beauftragte der Wiener Männergesang-Verein Joh. Strauß Sohn mit einer „Widmung“, was bedeutete, dass Strauß einen Walzer komponierte, der danach textiert wurde. Besagtes Werk, der Walzer An der schönen blauen Donau (1867), wird heutzutage (2004) hauptsächlich instrumental gespielt. 1874 widmete Strauß der Sängerin Adelina Patti den Frühlingsstimmenwalzer, andere Walzer wurden nach Bedarf mit Texten versehen. Dass sich diese Entwicklungslinie nicht mit der Vorstellung vom O. im emphatischen Sinne deckt, liegt weniger an der Musik, deren Kunstfertigkeit heute nicht mehr angezweifelt wird, sondern an Unkenntnis historischer Zusammenhänge und ebenso unhaltbaren Abwertungen.

Einer der namhaftesten Liedkomponisten, H. Wolf, setzte mit Selbstverständlichkeit das Orchester ein und orientierte sich klanglich bewusst an der Neudeutschen Schule. Erfunden durch Improvisation am Klavier, schrieb Wolf eine Reihe von Liedern für Singstimme und Orchester, so die Vertonungen nach Gedichten von Johann Wolfgang v. Goethe, Eduard Mörike und dem Spanischen Liederbuch und v. a. für Chor und Orchester, außerdem Christnacht für Soli, Chor und Orchester (1886–89), Elfenlied für Sopran, Frauenchor und Orchester (1889–91), Der Feuerreiter für Chor und Orchester (1892), den Hymnus Dem Vaterland für Männerchor und Orchester und nicht zuletzt den Morgenhymnus und den Frühlingschor (aus Manuel Venegas) für Chor und Orchester (beide 1897). In die erste Phase von Wolfs Auseinandersetzung mit dem O. entstand F. Weingartners Die Wallfahrt nach Kevelaar op. 12 (1887).

Sich vom Wolf’schen Stil distanzierend und auch die Joh. Strauß’sche Virtuosität in der Handhabung von Melodik und Orchester meidend, strebte G. Mahler nach Schlichtheit im Ausdruck, Ökonomie im Umgang mit der Klangfarbe, aber Tiefe der Empfindung. Seine ersten O.er datieren aus 1883–95, konkret die Instrumentierung seiner Lieder eines fahrenden Gesellen (1883–85), weitere Werke dieser Gattung sind die Zwölf Lieder aus des Knaben Wunderhorn (1892–95), die Kindertotenlieder (1901–04) sowie die Sieben Lieder aus letzter Zeit (1899–1903).

Zur Zeit der Jh.wende häufen sich O.er infolge der Vorbildwirkung namhafter Komponisten: S. v. Hausegger schrieb 1902 mehrere Lieder für Gesang und Orchester. Fast gleichzeitig mit Mahler schrieb A. Zemlinsky sein erstes O. (Waldesgespräch, 1895). Ein Jahr später entsteht das große Frühlingsbegräbnis für Soli, Chor und Orchester; die Vertonungen der Psalmen 13, 23 und 83 sind für Chor und Orchester gedacht und zwischen 1900/35 entstanden. Der alte Garten sowie Die Riesen oder Symphonische Gesänge op. 20 von 1929 zeigen die Gattung auf der Höhe der Zeit, stark der Symphonik angenähert und im Gegensatz zu Mahler mit durchaus instrumentaler Führung der Singstimme, eine Technik, die von der Schönberg-Schule übernommen wurde. Davon zeugen A. Schönbergs 6 O.er op. 8 (1903–05), die Gurrelieder für Soli, Chor und Orchester (1900–03, 1910/11) die Herzgewächse mit Ensemblebesetzung op. 20 (1911), Pierrot Lunaire op. 21 (1912) und die Vier O.er op. 22 (1912–16). A. v. Weberns Werdegang als Vokalkomponist nimmt bei Wolf seinen Ausgang, mit dessen Werk er sich auch in seinem späteren Leben befassen sollte: Er orchestrierte Knabe und das Immlein, Denk es, o Seele! und Lebe wohl. Seine Werke op. 8 und op. 13–18 sind jeweils für Singstimme und Ensemble gesetzt, seine Zwei Lieder nach Goethe op. 19 für gemischten Chor und Ensemble (1926). Wolfs Schaffen faszinierte auch Alban Berg, besonders vor seiner Ausbildung bei Schönberg. Seine Sieben frühen Lieder nahmen dabei einen besonderen Stellenwert ein, denn er orchestrierte sie und gab sie 1928 in beiden Fassungen heraus. Den berüchtigten Skandal 1913 lösten u. a. seine Fünf O.er nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg op. 4 (1912) aus.

In ganz anderer Weise prägte Wolf das Schaffen J. Marx, der nicht nur einige seiner Lieder instrumentierte, sondern in seinem Geist zwischen 1908/14 eine Reihe von O.ern schrieb. Marx bediente sich Wolf’scher Verfahrensweisen, ohne die Tonalität zu verlassen. Im gleichen Zeitraum entstanden die Werke op. 5 und 7 von E. Wellesz, Gedichtvertonungen für Singstimme und Orchester bzw. Ensemble. 1909 komponierte F. Schreker seine Fünf Gesänge, die er 1922 orchestrierte, ebenso einige Lieder von Wolf.

Der Erste Weltkrieg führte zwar zu einer gewissen Zäsur, markierte aber keinesfalls das Ende der Gattung. 1918 schrieb H. Eisler den Gesang des Abgeschiedenen für Alt und Kammerorchester, 1919 Lieder nach altchinesischen Texten für Stimme und Kammerorchester. Wellesz komponierte 1936 zwei Lieder für Alt und Orchester op. 55 Leben, Traum und Tod, und E. W. Korngold befasste sich 1941 im Angesicht des Zweiten Weltkriegs mit religiösen Inhalten, die er einerseits als O.er setzte (Passah Psalm op. 30), andererseits für Tenor, Frauenchor, Harfe und Orgel (op. 32).

Stärker als der Erste Weltkrieg veränderte der Zweite das Musikleben: einerseits vereinnahmte das NS-Regime (Nationalsozialismus) alle traditionellen Gattungen für ideologische Zwecke, also auch das O., andererseits wurde das in der Zwischenkriegszeit wieder florierende Musikleben auf lange Zeit zerstört. In der Phase zwischen 1945/90 entstanden zahlreiche O.er, die allerdings nur mehr in den seltensten Fällen als solche bezeichnet wurden. Dem Trend der Zeit folgend, wurde mit wenigen Ausnahmen auf Hinweise zur Gattungszugehörigkeit verzichtet. Aus den 1940er Jahren datieren etwa einige O.er von P. Angerer (z. B. Die heilige Unrast, Trost der Philosophie). Da alle Komponisten, die in das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg involviert waren, über ihr Kriegs- und Nachkriegsschaffen kaum Auskunft gaben, finden sich Zeugnisse für das O. erst wieder in den 1960er Jahren. Wellesz komponierte 1961 Four Songs of Return für Singstimme und Kammerorchester, 1963 die Duineser Elegien und 1966 das Lied Vision für Sopran und Orchester. O.er stammen weiters von G. v. Einem (op. 30 1961, op. 32 1966, op. 40 1973). In den 1970/80er Jahren befassten sich L. Alcalay, G. Andergassen, F. Cerha, R. Jahn, G. Kühr, K. Rapf, A. Seidelmann, B. Strobl u. a. mit der Gattung O., wobei der Stilpluralismus der Ära entspricht. Mit Reform und Rückgang des Subventionswesens in den 1990er Jahren reduzierten sich einschlägige Kompositionen dramatisch.

Abgesehen von der Kunstmusik entwickelte sich das O. im Bereich der Unterhaltungskultur (Unterhaltungsmusik) kontinuierlich aus der Tradition des 19. Jh.s: Der vitalen Musikpraxis des Alltagslebens folgend, übernahm der Hörfunk (Rundfunk) die Praxis von Mischprogrammen und benötigte permanent O.er. Zudem erhielt das O. einen neuen Kontext im Tonfilm ab 1929 (Film), denn häufig ließ man Protagonistinnen und Protagonisten mit Liedern für Stimmung sorgen. Sofern nicht das Klavier als handlungsspezifisches Statussymbol fungierte, orchestrierte man diese Lieder und konnte sie – als Werbung für den Film – auch in Hörfunk-Programme integrieren. Als Beispiel sei einer der ersten Tonfilme Europas erwähnt: Der verlorene Walzer (1930) mit dem Walzerlied Zwei Herzen im Dreivierteltakt von R. Stolz. In diesem Genre hielt sich das O. bis zum Eintritt der amerikanischen Popularmusik in den Film (etwa 1970). Danach galten Gesangseinlagen in Filmen als deplatziert.


Literatur
Lit (alphabet.): O. Bie, Das dt. Lied [ca. 1931]; U. Dannoritzer, Studien zum instrumentalbegleiteten Sololied um 1900, 1987; W. Dürr, Das dt. Sololied im 19. Jh. 1984; M. Just/R. Wiesend (Hg.), [Fs.] W. Osthoff 1989; A. Meyer, Ensemblelieder in der frühen Nachfolge (1912–17) von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire op. 21, 2000; W. Wiora, Das dt. Lied 1971; eigene Recherchen.

Autor*innen
Margareta Saary
Letzte inhaltliche Änderung
30.6.2004
Empfohlene Zitierweise
Margareta Saary, Art. „Orchesterlied‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 30.6.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001dbe2
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