Neudeutsche Schule
Bezeichnung für eine Gruppe von Komponisten um
F. Liszt in Weimar/D, 1859 eingeführt von Franz Brendel (1811–68), um die Diskussion um den musikalischen „Fortschritt“ zu versachlichen.
N. Sch. sollte den polemisch gebrauchten Ausdruck „Zukunftsmusik“ ersetzen und zugleich als Bezeichnung für die neueste musikalische
Epoche seit
L. v. Beethoven verstanden werden. Als das materielle Zentrum dieser musikalischen „Fortschrittspartei“ galten F. Liszt und der „Neu-Weimar“-Kreis, der sich während Liszts Weimarer Hofkapellmeisterzeit (1848–61) zu einem Fokus der neuen Musik in Deutschland entwickelt hatte. Neben Liszt selbst hatten v. a.
Rich. Wagner und Hector Berlioz, die durch Liszt in Weimar bevorzugt gefördert wurden, einen Nimbus als die Gründerfiguren dieser Bewegung erlangt. Während Brendels Vorschlag die Gegensätze nicht nur nicht überbrücken konnte, sondern die Polemik sogar neu anfachte (1860 erschien im Berliner
Echo das von
J. Brahms mit unterzeichnete Manifest gegen die „Fortschrittspartei“), ging Brendels Terminus
N. Sch. auf die von Liszt initiierte Bewegung über. Diese verlor durch Liszts Weggang aus Weimar (1861) zwar ihre bisherige Basis, fand jedoch eine neue Trägerinstitution im
Allgemeinen Deutschen Musikverein (ADMV), der auf der zweiten deutschen Tonkünstlerversammlung im August 1861 in Weimar ins Leben gerufen wurde. Als „Neudeutsche“ im engeren Sinn gelten v. a. Liszts „Neu-Weimar“-Schüler
H. v. Bülow,
J. Raff, Alexander Ritter,
F. Weingartner, Felix Draeseke, der Theoretiker Carl Friedrich Weitzmann; publizistische Unterstützung fand die Bewegung durch Brendel,
R. Pohl, Louis Köhler u. a. Wagner, obwohl einer der Ahnherren der „Schule“, begründete mit den
Bayreuther Festspielen eine eigene, von den „Neudeutschen“ der Liszt-Nachfolge unabhängige Tradition. Mit
R. Strauss, der bereits der Enkelgeneration angehört, trat nach Liszt und Wagner wieder ein Komponist von Rang an die Spitze des musikalischen „Fortschritts“; mit ihm ging die neudeutsche Richtung um 1900 zugleich in die Phase der musikalischen
„Moderne“ über, die dann ihrerseits durch die
Neue Musik „überholt“ wurde.
Während sich durch die Härte der Parteifronten das neudeutsche Ideengut in Deutschland nicht spontan entfalten konnte, fiel es außerhalb, z. B. in Frankreich (Vincent d’Indy), auf fruchtbaren Boden und stand teilweise Pate bei der Entwicklung der „Nationalen Schulen“ (Nationalstil) Osteuropas: Böhmen (F. Smetana), Finnland (Jean Sibelius), Russland (César Antonowitsch Cui, Milij Alexejewitsch Balakirew u. a.).
Der Parteienstreit zeitigte auf österreichischem Boden eine folgenreiche Sonderentwicklung: Wien, wo noch in den späten 1850er Jahren mit Rudolf Alexander Zellner eine kleine, aber rege publizistische Lobby für Liszt tätig war, entwickelte sich neben Leipzig immer stärker zum Hauptsitz der gegen die „Neudeutschen“ gerichteten konservativen „Partei“. Der Schriftsteller und Musiktheoretiker E. Hanslick und der Komponist Brahms, der zu Beginn der 1860er Jahre seinen Wohnsitz in Wien aufschlug, repräsentierten nicht nur deren prominenteste Wortführer, sondern besetzten wichtige Schlüsselstellen im Musikleben im bürgerlichen Wien der sog. „Ringstraßen-Ära“. Der musikalische „Fortschritt“, der sich ab ca. 1870 formierte und nach wie vor im Zeichen Liszts und (nun v. a.) Wagners stand („Wagnerianer“ gegen „Brahminen“), ist auch als Protest der um 1860 Geborenen (H. Wolf, H. Rott, G. Mahler, auch W. Kienzl) gegen das durch Brahms verkörperte musikalische Establishment der Ringstraßen-Zeit lesbar. Auch A. Bruckner, der zwar einer älteren Generation angehört, aber erst kurz vor 1870 nach Wien gekommen war, oder K. Goldmark, der sich aus den Fronten heraushalten wollte, konnten sich dem Konflikt nicht entziehen. Die musikgeschichtliche Konstellation „Wagner – Brahms“ bildete noch um 1900 gleichsam die Hintergrundfolie für die Formierung von A. Schönbergs Neuer Musik.
Der musikästhetische Streit um den „Fortschritt“, für den die „Neudeutschen“ standen, entzündete sich v. a. an Liszts Konzeption des „Poetisch-Musikalischen“ bzw. der sog. Programmmusik (der Frage, inwieweit Musik fähig sei, außermusikalische Inhalte und Ideen wiederzugeben) und an der Anwendung neuer harmonischer Mittel bzw. ungewöhnlicher formaler Lösungen. Als „neudeutsche“ Hauptgattungen gelten neben dem Musikdrama Wagnerscher Prägung v. a. die Programmsymphonie und die von Liszt entwickelte einsätzige Symphonische Dichtung bzw. „Tondichtung“ (R. Strauss).
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16.5.2004
Gerhard J. Winkler,
Art. „Neudeutsche Schule“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
16.5.2004, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001db12
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