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Neapel (deutsch für italienisch Napoli)
Stadt in Süditalien (Hauptstadt von Kampanien/I), im 17./18. Jh. eines der Hauptzentren der europäischen Musik. Griechische Gründung des 7. Jh.s v. Chr., blieb auch in römischer Zeit deutlich unter griechischem Einfluss (89 v. Chr. römisches Bürgerrecht). Die Reste zweier Theater und andere archäologische Funde lassen auf ein reges Musikleben schließen.

Ab dem 6. Jh. unter byzantinischer Herrschaft, erlangte N. ab dem 9. Jh. zunehmend Autonomie. Zu einem kulturellen Aufschwung kam es unter normannischer (v. a. unter Roger II., der in der Modernisierung der Verwaltung eine wesentliche Voraussetzung dafür schuf) und staufischer Herrschaft (Gründung der Univ. durch K. Friedrich II. 1224), doch blieb vorerst Palermo/I die Hauptstadt des Königreiches. 1265 kam N. unter die Herrschaft der Anjou, die die Hauptstadt von Palermo nach N. verlegten. Aus dem 6. Jh. gibt es Nachrichten über eine schola cantorum (mit engen Verbindungen zu Rom), doch werden die Quellen über Musik erst mit der Herrschaft der Anjou aussagekräftiger: Adam de la Halle hielt sich 1283–85 am Hof Roberts II. auf und schrieb hier Le jeu de Robin et Marion; Marchettus v. Padua und Philippe de Vitry widmeten Robert II. Werke; der französische Einfluss dominierte bis zum Ende der Herrschaft der Anjou das Kultur- und Musikleben N.s.

Mit der Eroberung N.s durch Alfons I. v. Aragón 1442 kam die Stadt unter den Einfluss Spaniens, das 1504–1707 N. und Sizilien in Form eines Vizekönigtums in Abhängigkeit von Spanien regierte. Die Ausweitung des Hofes im Sinne der Renaissance und ein Netzwerk mit allen Höfen Italiens und Mitteleuropas führte auch zu einem kulturellen Aufschwung: 1444 wurde die cappella reale errichtet (mit 21 Sängern), die bereits in den folgenden Jahrzehnten deutlich (v. a. für den wachsenden Bereich der Instrumentalmusik) erweitert wurde und bereits ab den 1450er Jahren zu den größten Hofmusikkapelle Italiens gehörte; 1488 wurde Giuliano de Caiacza als maestro di cappella angestellt. Die Musiktheoretiker Johannes Tinctoris und Francesco Gafori (Gafurius), die ihre Schriften u. a. Beatrice, der Tochter Ferdinands I., widmeten, hielten sich am Hof von N. auf; ebenfalls Beatrice sind die Handschriften I-MC 871 und I-Nn VI.E.40 gewidmet, die im Wesentlichen das Repertoire des Hofes von N. dieser Zeit widerspiegeln; über die Musik in N. abseits des Hofes gibt es jedoch kaum Quellen. Die wichtigsten Formen der Vokalmusik (in neapolitanischem Dialekt gesungen) waren strambotto (eine Vorform der Villanella), barzelletta und die gliommeri (auch gomitoli, eine lokale Form der Frottola); prominente Komponisten (z. B. O. di Lasso) und Drucke machten die Villanella im ganzen italienischen Einflussbereich populär; die accademia um Carlo Gesualdo und die Camerata di propaganda per l’ affinamento de gusto musicale förderten die Verbreitung der neapolitanischen Madrigale.

Obwohl N. mit der Errichtung des spanischen Vizekönigtums seine Souveränität einbüßte, gilt doch dieser Zeitabschnitt als das „Goldene Zeitalter“ N.s, ein Topos, der sich auch auf die Musik in Form der sog. „Neapolitanischen Schule“ und N.s Ruf als „Königreich der Musik“ niederschlug. Auch im 16. und 17. Jh. blieb die cappella reale die führende musikalische Institution N.s und eine der führenden Italiens; unter den Hofkapellmeistern sind v. a. Diego Ortiz (1555–70), Giovanni de Macque (1599–1614), Andrea Falconieri (1648–56), Filippo Coppola (1658–80), P. A. Ziani (1680–84) und 1684–1702 bzw. 1707–25 A. Scarlatti zu erwähnen; Scarlatti reformierte nicht nur die cappella reale, sondern spielte auch im Opernbetrieb der Stadt eine wichtige Rolle. Auch in der Erziehung des Adels war Musik unverzichtbar, sodass es nicht verwunderlich ist, dass unter den Komponisten der Stadt ca. 25 dem Adel angehörten. Neben der königlichen Kapelle waren die der Hauptkirchen der Stadt (SS. Annunziata und der Dom mit der cappella del tesoro di San Gennaro) und das Oratorio dei Filippini von Bedeutung. SS. Annunziata verfügte seit dem 15. Jh. über eine Musikkapelle, der u. a. Tinctoris vorgestanden haben soll, und über ein Waisenhaus, das bereits ca. 100 Jahre vor den berühmten Konservatorien eine Stätte für hochqualifizierte Musikausbildung war. Das Oratorio wurde 1586 eingerichtet und war (wie sein römisches Vorbild, von dem es sich jedoch 1612 abkoppelte) eine wichtige Pflegestätte für das frühe Oratorium und die Pflege von Lauden und Frottole. Ergänzt wurde die geistliche Musikpflege durch zahlreiche Bruderschaften.

Mit Ende des 15. und Beginn des 16. Jh.s beginnen Nachrichten über die Aufführung von farse, Theateraufführungen, in denen die Musik bereits einen wesentlichen Anteil hatte. Diese fanden meist im Rahmen von Akademien in Adelshäusern statt (z. B. L’Alessandro von Enea Silvio Piccolomini 1558). Opern im engeren Sinn wurden hingegen erst ab 1640 in N., ausgehend von der Residenz des Vizekönigs, im venezianischen Stil gepflegt (z. B. F. Cavallis Didone 1650 oder Claudio Monteverdis L’incoronazione di Poppea unter dem Titel Nerone 1652). Obwohl die Häuser des Adels auch weiterhin eine wichtige Stätte der Pflege der musikdramatischen Gattungen blieben, begann mit der Errichtung des ersten öffentlichen Opernhauses S. Bartolomeo 1620/21 durch die Santa Casa degli Incurabili eine neue Phase in der Opernpflege, die mit der Errichtung des Teatro di San Carlo ihren Höhepunkt erreichte (S. Bartolomeo wurde 1737 abgerissen). Bespielt wurde S. Bartolomeo durch die Truppe febi armonici (dieser Name wurde später für alle anderen in N. wirkenden Operntruppen verwendet), die ab 1675 auch mit der cappella reale kooperierten (Aufführung von A. Cestis La Dori). Mit dem steigenden Interesse der Vizekönige an der großen höfischen Oper stand die Berufung A. Scarlattis in Zusammenhang, dessen groß angelegten pathetischen Werke dem Repräsentationsbedürfnis entgegenkamen. Im Zuge des Spanischen Erbfolgekrieges eroberten österreichische Truppen 1707 N. Die Hofmusik blieb davon fast unbeeinflusst, da auch die österreichischen Vizekönige bzw. Statthalter das Musikleben der Stadt und einen kulturellen Austausch mit den österreichischen Ländern förderten. Auch die Namen der Komponisten, deren Werke in dieser Zeit in N. zur Aufführung kamen, weisen auf eine enge Verbindung zwischen den Höfen in Wien und N. hin: A. Draghi, C. Fr. Pollarola G. B. Bononcini und M. A. Ziani; der Aufstieg des späteren poeta cesareo P. Metastasio begann ebenfalls in N. (1724 wurde Metastasios erstes Drama, Didone abbandonata, in S. Bartolomeo aufgeführt).

Eng mit dem Aufschwung N.s als Musikzentrum ist die Gründung der vier Konservatorien der Stadt verbunden: Conservatorio S. Maria di Loreto (1537), S. Onofrio (1576), S. Maria della Pietà dei Turchini (1583) und dei Poveri di Gesù Cristo (1590), die direkt dem Vizekönig bzw. dem Erzbischof unterstanden und ihren Unterhalt durch Spenden bzw. musikalische Darbietungen der Kinder verdienten. Daher spielte eine gründliche musikalische Ausbildung der Waisen von Anfang an eine wichtige Rolle. Das Engagement berühmter Musiker der Stadt als Lehrer wie Komponisten (N. Porpora, Francesco Feo, Leonardo Leo, Francesco Durante) an die Konservatorien bzw. deren berühmte Absolventen führten bald zu dem legendären Ruf weit über die Grenzen N.s . Italiens. 1743 wurde das Conservatorio dei Poveri di Gesù Cristo geschlossen, 1797 die Konservatorien S. Onofrio und S. Maria di Loretto, 1806 Pietà dei Turchini und S. Maria di Loreto zum Real Collegio di Musica (später Conservatorio di Musica S. Pietro a Majella) vereint.

1735 fiel N. an eine Nebenlinie der spanischen Bourbonen, die es – abgesehen von einem Intermezzo während der Napoleonischen Kriege 1806–15 – bis zum Anschluss an das neue Königreich Italien 1860 als Königreich beider Sizilien regierten. Obwohl die HMK unter A. Scarlatti, Pasquale Cafaro und Vincenzo Orgitano bzw. G. Paisiello einen letzten Höhepunkt erreichte, wurde der Ruf N.s als führende Musikmetropole Europas auch zu dieser Zeit v. a. durch die musikdramatischen Produktionen, die Opernhäuser und die Konservatorien der Stadt geprägt. 1737 hatte der erste Bourbonen-König mit dem Bau des Teatro S. Carlo begonnen, das erstmals auch dem Bürgertum Zutritt zur Oper ermöglichte und bald zum führenden Theater der Stadt bzw. Italiens wurde (für die höfische Produktion errichtete man 1768 ein kleines Hoftheater). Auch nach Metastasios Berufung nach Wien dominierten seine Libretti die Bühnen N.s in Vertonungen durch L. Vinci, N. Jommelli, N. Porpora, G. Paisiello, Domenico Cimarosa, J. A. Hasse und Ch. W. Gluck (die Verbindung mit dem Wiener Hof bzw. den österreichischen Ländern blieb durch zahlreiche Heiraten zwischen beiden Dynastien weiterhin sehr eng). Neben der opera seria erlebte die im Dialekt gesungene bzw. gesprochene neapolitanische opera buffa mit Beginn des 18. Jh.s eine Renaissance. 1718 wurde dafür das Teatro della Pace o della Lava errichtet, das bis 1751 bespielt wurde, 1724 das Teatro Nuovo sopra Montecalvario; 1779 bzw. 1790 erfolgte die Erbauung des Teatro del Fondo di Separazione bzw. des Teatro San Ferdinando. Die Basis der neapolitanischen buffa bildeten die Stoffe der commedia dell’arte; in Form der Intermedien fand sie auch Eingang in die opera seria (z. B. La serva padrona von G. B. Pergolesi). Die Charakteristika der neapolitanischen commedia in musica – Dreiaktigkeit, einsätzige Sinfonia, Auseinandersetzung mit den Libretti der seria, Auflösung der traditionellen Arienformen, zahlreiche Ensembles und die Vorliebe für ausgedehnte Finali – fanden ab der Mitte des 18. Jh.s auch in den opere buffe und semiserie in Oberitalien und im österreichisch-deutschen Raum zunehmend Verbreitung (z. B. in den Opern W. A. Mozarts). Hingegen fand der Plan des Librettisten Giovanni de Gamerra, 1786 ein tragikomisches Nationaltheater zu errichten (als Pendant zum Singspiel), keine Verwirklichung. Instrumental- und Kirchenmusik (Entwicklung der messa di Gloria) spielten in dieser Zeit eine untergeordnete Rolle und standen unter dem Einfluss der Oper.

1809–40 übernahm D. Barbaja die Leitung der beiden königlichen Theater (S. Carlo und Fondo); 1815 wurde G. Rossini an das Teatro S. Carlo verpflichtet, ihm folgte nach Giovanni Pacini 1828–38 Ga. Donizetti; in den 1840er und 1850er Jahren beherrschten die Werke von Saverio Mercadante und Pacini den Spielplan. Durch den Verlust der Souveränität aufgrund der Eingliederung in das neue Königreich Italien erlitt auch der Theaterbetrieb einen deutlichen Einbruch, der 1874–76 sogar zur Schließung des Teatro S. Carlo führte. Dadurch wurde das Repertoire der 2. Hälfte des 19. Jh.s in N. erst verspätet rezipiert (Rich. Wagner, P. Mascagni, Umberto Giordani, Ruggiero Leoncavallo). Als Pflegestätten der opera buffa florierten hingegen die Theater de’ Fiorentini und Nuovo; Parodien auf die an S. Carlo gespielten Opern brachten die Theater S. Carlino, alla Fenice, Mezzocannone und Partenope. An neuen Theatern wurden ab 1860 erbaut: Teatro Goldoni, Teatro Rossini, Teatro Bellini, Teatro Mercadante, Teatro Politeama Giacosa, Teatro Sannazaro und Teatro Filarmonica, von denen jedoch nur wenige sich über einen längeren Zeitraum behaupten konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Teatro S. Carlo mit italienischen EA.en von Werken Alban Bergs bzw. A. Schönbergs einen neuen Aufschwung; 1987 wurde auch das Teatro Mercadante wiedereröffnet, es wird aber nur gelegentlich bespielt; das 1954 wiedereröffnete Teatro di Corte dient hingegen wieder durchgehend als Spielstätte, ebenso wie das Teatro Bellini seit 1988.

Obwohl zu Beginn des 19. Jh.s die Musik der Wiener Klassik durch Mercadante in N. bekannt wurde, pflegte man sie bis zur Jh.mitte fast nur in privaten Kreisen, bis der Thalberg-Schüler Beniamino Cesi ihr auch in der Öffentlichkeit zum Durchbruch verhalf. 1880 wurden die Società del Quartetto und die Società Orchestrale, die ersten Musikvereine N.s, gegründet. Erst die Gründung der Società dei Concerti 1902 führte jedoch zu einer Auseinandersetzung mit dem symphonischen Repertoire der Spätklassik (L. v. Beethoven) und Romantik. 1918 wurde die Associazione Scarlatti gegründet, die 1948 in das Orchestra Scarlatti überging, das 1957 der RAI (Radiotelevisione Italiana) angegliedert wurde (pflegte v. a. Musik des Barock, der Klassik und des 20. Jh.s); 1992 geschlossen, wird das Orchester heute als Associazione dei Professori dell’ Orchestra Scarlatti und Nuova Orchestra Scarlatti weitergeführt; als zweites ständiges Orchester N.s ist das Orchestra di S. Carlo anzuführen. Als Zentrum der Alten Musik hat sich in den letzten Jahren das 1996 gegründete Centro di Musica Antica Pietà di Turchini (in Berufung auf das alte Conservatorio) international einen Namen gemacht (in Zusammenarbeit mit der 1987 gegründeten Cappella della Pietà di Turchini, die sich v. a. der unbekannten Musik N.s des 15. bis 18. Jh.s widmet).

Mit dem Beginn der Musikgeschichtsschreibung im 19. Jh. entstand durch den Marquis von Villarosa, Francesco Florimo und Nicola d’Arienzo der Begriff der sog. „Neapolitanischen Schule“ als Konzept einer eigenständigen, auf ganz Europa übergreifenden Komponistenschule vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jh.s, ein Konzept, das erst von der modernen Musikwissenschaft ab den 1970er Jahren zunehmend kritisch hinterfragt wird. 1852–68 erschien mit der Gazzetta musicale di Napoli ein erstes (wöchentlich erscheinendes) Musikperiodikum, dem jedoch erst ab 1914 weitere folgten (L’arte pianistica, später Vita musicale italiana). Erst 1981 wurde an der Univ. von N. ein Lehrstuhl für Musikgeschichte errichtet, den Agostino Ziino innehatte, seit 1997 Renato Di Benedetto.


Literatur
NGroveD 17 (2001); MGG 7 (1997); A. Ziino/B. Cagli (Hg.), Il Teatro di San Carlo 1737–1987, 3 Bde. 1987; L. Bianconi/R. Rossa (Hg.), Musica e cultura a Napoli dal XV als XIX secolo 1983; F. Cotticelli/P. Maione, Le istituzioni musicale a Napoli durante il Viceregno austriaco (1707–1734), 1993; MGÖ 2 (1995); R. Flotzinger in H. Kremers (Hg.), Marie Caroline Herzogin von Berry 2002.

Autor*innen
Elisabeth Th. Hilscher
Letzte inhaltliche Änderung
16.5.2004
Empfohlene Zitierweise
Elisabeth Th. Hilscher, Art. „Neapel (deutsch für italienisch Napoli)‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 16.5.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001dae6
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