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Mythen, Märchen und Sagen
Erwartungsgemäß reflektieren alte wie junge Mythen sowie die unterschiedlichsten Volkserzählungen – bekanntlich selten streng von einander zu trennen, jedoch vielfach ineinander verschränkt – auch im heutigen Österreich v. a. traditionelle Ansichten über Aufgaben und Möglichkeiten der Musik bzw. das jeweilige Bild von den Musikanten. Außerdem steht in diesen Zusammenhängen oft der Klang (z. B. von Glocken nicht nur zur Zeitmessung) vor dem Musikalischen im engeren Sinn. Eigene Schöpfungen oder auch nur Besonderheiten sind von vornherein nicht zu erwarten, vielmehr Varianten einer ebenso reichen wie weit verbreiteten Fülle von Stoffen, Motiven und Symbolen. In Letzteren jedoch Hinweise für die spätere Behauptung einer besonderen Affinität der Menschen in Österreich zur Musik zu sehen (Klischee), wäre gänzlich unangemessen. Im Folgenden sollen lediglich einige charakteristische Beispiele angeführt und muss auf Interpretationen oder die Feststellung rezenter Nachwirkungen weitgehend verzichtet werden.

Der Klang von Musikinstrumenten vermag Tote zu erwecken, wohlwollende Helfer aus dem Jenseits schenken den Menschen an magischen Gegenständen u. a. auch Instrumente (v. a. Pfeifen, Flöten), die besondere Fähigkeiten verleihen. Sänger und Spielleute (Spielmann) hören wundersame Klänge, die sie in die jenseitige Welt bringen. Hörner, Posaunen und Trompeten galten, wie im Altertum und in der Bibel, vorerst als Verkünder der göttlichen (nicht wie erst sehr viel später: der weltlichen) Macht. In Volkserzählungen wird nicht aus künstlerischen Gründen gesungen oder gespielt. Musik bleibt magische Handlung, die meist auch eine entsprechende Wirkung erzielt. Sofern nicht Numinoses oder Apotropäisches bereits mit der Herstellung von Musikinstrumenten verbunden ist, sind diese austauschbar. In der Regel verbinden sich mit den Instrumenten selbständige Motive, u. zw. oft so weitgehend, dass das Instrument selbst im Mittelpunkt der betreffenden Erzählung steht (z. B. von selbst tönende, wandelnde oder verschwundene Glocken).

Schöpfungsmythen von Musik finden sich hier nicht, immerhin sind vielfach Erzählungen von Wesen der sog. niederen Mythologie (Berggeister, Riesen und Zwerge) in Verbindung mit musikalischen Momenten in Umlauf. Die Musik bzw. die Instrumente werden jedoch ebenfalls als göttlichen Ursprungs angesehen, die den Menschen durch höhere oder durch Wesen aus dem Zwischenreich vermittelt werden: Eine jüngere Kärntner Sage berichtet z. B. von einer gütigen Bergfee, die den Gesang in das Maltatal gebracht habe. Und einen Montafoner, der vom Nachtvolk das Spiel der Schwegelpfeife erlernen wollte, drückte Einer aus dem „schwarzen Zug“ mit solcher Gewalt an das Instrument, dass Blut floss. Nachdem er sich von diesem Schock erholt hatte, konnte er wunderbar darauf spielen. Jüngeren Ursprungs ist wohl die aitiologische Sage von der Erfindung der Maultrommel, die, wie auch in anderen von der Erfindung von Musikinstrumenten handelnden internationalen Beispielen, eine verzweifelte Situation zum Ausgangspunkt hat: Eine zum Tode verurteilte Verbrecherin versprach man zu begnadigen, wenn sie etwas Nützliches erfände. In ihrer Not verfertigt sie eine Maultrommel aus Holz und bezaubert damit ihre Richter. (Der Name der Delinquentin soll dazu geführt haben, die Hl. Barbara zur Schutzpatronin der zuständigen Zunft zu erwählen.)

Besonders in Zusammenhang mit dem Vorstellungskreis „wilde Jagd“ (v. a. in den sog. Raunächten) und dem Nachtvolk ist viel von Klängen, musikähnlichen Geräuschen und zauberischer Musik die Rede. Neugierige Beobachter begeben sich der Gefahr, mitgerissen, verletzt oder gar getötet zu werden. Später werden auch die Hexen als von zauberischer Musik begleitet geschildert. Zahlreiche Sagen erzählen von nächtlichen Begegnungen mit Hexenvolk, das einen Musikanten durch die Luft entführt, weil es ihn für ihre ausgelassenen Feste benötigt. Entweder verdirbt er den Spaß durch das unvorsichtige Aussprechen eines heiligen Namens oder es geht alles glatt und das Glockenläuten lässt den Spuk verschwinden.

Zwerge, in vielen Lebensbereichen Abbild menschlicher Verhältnisse, werden als besonders musikbegeistert und -begabt dargestellt. Auch Tote belohnen Musikanten, die ihnen um Mitternacht auf dem Friedhof aufspielen. Allerdings geht die Begegnung mitunter nicht glimpflich ab. Sagen um den im Untersberg (Salzburg) schlafenden Kaiser Friedrich Barbarossa erwähnen kriegerische Musik, die vom Berginneren nach außen dringe.

Tänze begleitet (gemäß einem mittelalterlichen Bannspruch: „chorea est circulus cuius centrum est diabolus“) oft der Teufel selbst, in diesem Sinne werden Spielleute auch als dessen Helfershelfer angesehen. Christliche Dämonisierung der Tanzmusik im Allgemeinen bzw. das Musikverbot zu gewissen „heiligen Zeiten“ steht hinter einer auch in Österreich umlaufenden Petrus-Legende: Der Heilige sei mit seiner Bassgeige (! Kontrabass) bei einem Fest der heidnischen Älpler erschienen. Als sie ihn erblickten, wollten sie, dass er für sie aufspiele. Da sie ihn außerdem als Himmelspförtner erkannt hatten, wies er sie mit dem Bemerken zurück, er werde sie erst nach ihrer Bekehrung in den Himmel aufnehmen. Die missverständliche Weigerung führte zu einer Prügelei, bei der auch die Bassgeige in Brüche ging. Die Strafe für den Frevel folgte in Form eines verheerenden Unwetters auf dem Fuß.

Das Dämonisch-Verführerische der Musik tritt besonders in Fischersagen in Zusammenhang mit Nixen und Wassergeistern (auch in Form von Liedern, Volkslied) in den Vordergrund. In Tiroler und steirischen Erzählungen von Irrwurzeln, die ein Tor ins Jenseits auftun, wird der Wanderer durch zauberische Klänge verlockt und eines Hauses ansichtig, das jedoch trotz seines darauf-Zugehens stets in gleicher Entfernung bleibt. Erst beim Glockengeläut verschwindet der Spuk.

Auch in anderer Weise ist die Macht der Musik belegt: z. B. durch einen Pfeifer, der in eine Wolfsgrube gefallen war und dort durch sein Spiel die hier bereits gefangenen wilden Tiere zum Tanzen gezwungen habe, bis er befreit werden konnte. Dahinter steht der nicht nur vom griechischen Sänger Orpheus her, sondern z. B. auch im Fernen Osten bekannte Mythos von der Wirkung der Musik auf Menschen und Tiere. In ersterem Zusammenhang könnte man auch die oben erwähnte Maultrommel-Sage sehen: Das Instrument spielte beim nächtlichen „Gasslgehen“ der Burschen und ihren Versuchen, die Mädchen wenigstens ans Fenster zu locken (Fensterllied), eine große Rolle. Und in letzterem Zusammenhang, wie sich in mehreren Varianten einer Kärntner Sage ein Handwerksbursche (oder ein Italiener namens Fridelo) erbötig macht, die Bevölkerung von einer Schlangenplage zu befreien. Er lockt mit seinem Flötenspiel die Tiere in ein Feuer, doch reißt ihn zuletzt die Schlangenkönigin selbst mit sich in den Flammentod.

Ebenfalls um eine Tierplage geht es in der durch die Brüder Grimm mit dem Beispiel Hameln/D berühmt gewordenen Sage von der Rache des übervorteilten Rattenfängers (s. Abb.). Sie ist in Österreich sowohl an der Donau (Korneuburg/NÖ, s. Abb.) als auch im oberen Trauntal (Ebensee/OÖ) angesiedelt. Als die Ratten überhand nehmen, verdingt sich ein geheimnisvoller Fremder, die Bürger von dieser Plage zu befreien. Es gelingt ihm mithilfe seines Flötenspiels (das im einen Fall als unangenehm, im anderen aber – vielleicht auch nur in jüngerer Zeit – als hell und lustig bezeichnet wird) die Ratten in die Donau bzw. Traun zu locken, wo sie ertrinken. Die Rache für den nicht angemessenen Lohn ist unterschiedlich.

Reflektiert wird auch die Stellung der Spielleute: in allen genannten Erzählformen sind sie arm, oft ebenso geldgierig wie leichtfertig, gelegentlich auch unverdorben. Verachtet werden sie v. a. wegen ihrer Verbindung zum verteufelten Tanz (z. B. Der Hexenspielmann von Hötting, Tanz auf dem Eis). Sogar die Möglichkeit ihres Sesshaftwerdens wird thematisiert (z. B. in Haslach: Das Mühlmännlein und der Spielmann). Die berühmteste österreichische Musikersage ist wohl die vom Sackpfeifer Augustin. Weniger in ihren musikalischen Bezügen, sondern in ihrer Verantwortung für die Allgemeinheit werden in verschiedensten Zusammenhängen die Türmer (Thurner) geschildert.

Musikinstrumente spielende Tiere und singende Pflanzen (z. B. Rose) erinnern an die Grotesk- und mittelalterliche Buch-Malerei. Ebenso sind Bezüge zu Musik und Tanz in vielen Flur- und Hausnamen zu finden (z. B. Tanzboden, Tanzlacke, Tanzenberg, Pfeiferhäusl).

Unter den als historische Sagen zu bezeichnenden Erzählungen sei z. B. die vom Minnesänger Neidhart erwähnt. Seine Feindschaft zu den Bauern reflektieren nicht nur viele seiner Lieder, sie bildet auch ein zentrales Element der Neidhart-Sagen, z. B. vom Veilchenfest: Als Neidhart das erste Veilchen findet und die Hofgesellschaft unter Musik ins Freie zieht, um dies zu feiern, findet sie unter Neidharts Hut anstelle der Blume nur mehr den von den Bauern hinterlassenen Unrat. Wie hier, spielt im österreichischen Märchen die Musik v. a. als Festmusik eine Rolle (z. B. auch in dem bekannten König Eisenhut, einer Aschenbrödel-Variante). Außerdem weicht das Märchen, im Unterschied zur Sage, die durchaus österreichische Varianten ausgebildet hat, in seiner Motivik nicht wesentlich vom internationalen Überlieferungsgut ab.


Literatur
A. Aarne/S. Thompson, The types of the folktale 1928 u. ö.; MGG 6 (1996) [Musikmythen]; W. Laade, Musik und Musiker in Märchen, Sagen und Anekdoten der Völker Europas 1: Mitteleuropa 1988; K. Leidecker, Zauberklänge der Phantasie. Musikalische Motive und gesungene Verse im europäischen Märchengut, Diss. Saarbrücken 1981; W. Suppan in Enzyklopädie des Märchens 9 (1999) [Musik, Musikinstrumente]; E. Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung 1963 u. ö.; verschiedene Hg., Sagen aus Österreich [zahlreiche Sammlungen und Ausgaben]; J. Hasslwander (Hg.), Sagenschatz aus dem Salzkammergut [o. J.]; A. Schlossar (Hg.), Johann Gabriel Seidl, seine Sagen und Gesch.n aus Steiermark 1881; I. V. v. Zingerle (Hg.), Kinder- und Hausmärchen aus Tirol 1852.

Autor*innen
Christa Tuczay
Rudolf Flotzinger
Letzte inhaltliche Änderung
30.3.2022
Empfohlene Zitierweise
Christa Tuczay/Rudolf Flotzinger, Art. „Mythen, Märchen und Sagen“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 30.3.2022, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001dac0
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.

MEDIEN
Der Rattenfänger von Korneuburg. Keramikrelief (unbezeichnet) an Kindergarten und Hort der Stadt Wien (erbaut 1913). Hetzendorfer Straße 57, Wien XII© Ewald Judt, CC BY 4.0, via Austria-Forum
© Ewald Judt, CC BY 4.0, via Austria-Forum
Theodor Igler, Der Rattenfänger zu Hameln (1953/54). Gemeindebau Erlachgasse 53–57 (Ecke Mundygasse 2–10), Wien X© Björn R. Tammen
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Spielmann und Königstochter aus dem Märchen Drosselbart. Keramiktafeln (bezeichnet „Krali 40“ [1940?]). Gemeindebau ‚Mithlingerhof-Rasenstadt‘, Neilreichgasse 104, Wien X© Björn R. Tammen
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DOI
10.1553/0x0001dac0
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