Musikverein
Vereinigung von Menschen zum Zwecke der Pflege von
Musik, entstanden aus dem Geist der
Aufklärung. Daher war ursprünglich die einzige Voraussetzung zur Teilnahme (Mitgliedschaft), besondere musikalische Fähigkeiten (ob als Sänger oder Instrumentalist) zu besitzen. Zusammenschlüsse im Zeichen der Musik wurden – damit Ideen K. Josephs II. (
Josephinismus) übernehmend – von der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft (
bürgerliche Musikkultur) als Mittel des gesellschaftlichen Ausgleichs und der Erziehung zur Toleranz angesehen und gefördert. In diesem Sinne hatten die frühen
M.e v. a. Aufführungen großer Werke (wegen der entsprechenden Entfaltungsmöglichkeiten besonders die
J. Haydnschen Oratorien, erst dann
Symphonik und
Kammermusik) im Auge, zunächst nur für sich selbst und Angehörige als Zuhörer, und erst in einem weiteren Schritt die Entwicklung einer breiteren musikalischen Öffentlichkeit (
Publikum). Daraus ergab sich nicht nur die Sicherung der notwendigen Voraussetzungen (Räume, Instrumente, Musikalien usw., Musikgeschäft,
Musikindustrie), sondern auch die Nachwuchs-Pflege in eigenen MSch.n (
Konservatorium,
Musikausbildung). Mit zunehmendem Anspruch musste sich das Schwergewicht der Ausführenden zwangsläufig allmählich von den Laien (
Kenner und Liebhaber) zu professionellen
Musikern (die von Anfang an unterstützend und z. T. auch gegen Bezahlung teilgenommen hatten) verlagern. Parallel dazu ging die Entwicklung von der aktiven Teilnahme (als Musiker) zur passiven Mitgliedschaft (auch wenn von Vereinen im bürgerlich-rechtlichen Sinn erst relativ spät, nämlich in Österreich erst nach den Vereins- und Versammlungsbestimmungen nach dem Staats-Grundgesetz von 1867 geprochen werden kann) bzw. zum bloßen Hören. Damit begründet sich auch die schrittweise Entwicklung vieler (v. a. der großen städtischen)
M.e zu Konzert-Unternehmungen, welche nur mehr die Organisationsstruktur für öffentliche
Konzerte gegen Bezahlung sicherstellen, diese aber nicht mehr selbst ausführen, vielmehr durch professionelle fremde oder allenfalls eigene (u. U. semi-professionelle, d. h. gemischte) Ensembles (Orchester) ausführen lassen.
Demgegenüber ist die Idee des Zusammenschlusses von aktiven Musikern (allenfalls mit Beihilfe durch „unterstützende“ Vereinsmitglieder) in den meisten nicht-städtischen Vereinigungen (z. B. Blasmusikkapellen, österreichischer Blasmusikverband; Gesangvereine, Singkreise usw.) erhalten geblieben. Daher heißen solche oft auch M.e, jedenfalls werden sie im Volksmund so bezeichnet. Sogar die Vorstellung von der wenigstens vorübergehenden Überwindung der Grenzen des Standes und der Ideologie im Zeichen der Musik scheint hier auch weiterhin wirksam zu sein: nur wenn es (zumal in größeren Orten) mehrere gleichartige Vereine gibt, sind sie nach Berufsgruppen (z. B. Bürgermusik, Salinenkapelle; Wiener Akademischer Gesangverein 1858, Wiener kaufmännischer Gesangverein 1862, Polytechniker-Sängerbund 1871) und/oder politischen Parteien entsprechend differenziert (insbesondere Arbeitergesangvereine, oft an den Bezeichnungen erkennbar, z. B. ein Gesangverein Morgenrot als sozialdemokratisch) bzw. von Landsmannschaften und nationalen Minderheiten ins Leben gerufen (z. B. in Wien: Zion [später: Eintracht] 1859, Zpevacky spolek slovensky [Slavischer Gesangverein] 1862, Lumir [Slowenisch-böhmischer Gesangverein] 1865, Česka Beseda 1866, Slawuy 1868).
Vorläufer der M.s-Idee kann man in barocken Akademien sehen (vgl. die Academia philharmonicorum von 1701 in Laibach mit einer wenigstens ideellen Kontinuität zur Philharmonischen Gesellschaft von 1805), weshalb denn auch die Veranstaltungen von M.en oft noch als Akademien und erst später allgemein als Konzerte bezeichnet wurden. Hingegen spielten die akademischen Collegia musica, im Gegensatz zu Deutschland, in Österreich keine besondere Rolle. Vielmehr gibt es in verschiedenen Städten z. T. recht unterschiedliche Ansätze (Adelsgesellschaft, Tonkünstlersozietät, Privatverein, Casino etc.), die erst nach 1800 im skizzierten Sinne formalisiert wurden. Die ältesten M.e sind nicht zufällig die in den heutigen Landeshauptstädten Wien (Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 1812), Graz (Musikverein für Steiermark, 1815), St. Pölten (M., 1817), Klagenfurt (Musikverein für Kärnten, 1818), Innsbruck (M. 1818) und Linz (M. 1821), denen bald analoge Einrichtungen selbst in kleineren Orten folgten (z. B. Hard/Vb 1826, [Bad] Ischl/OÖ 1838, Feldkirch 1840, Haslach/OÖ 1840, Traunkirchen/OÖ 1844, Krems 1850, Neunkirchen/NÖ 1852, Stockerau/NÖ 1853).
MGÖ 2 (1995); E. Hanslick, Gesch. des Concertwesens in WienEduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien. Wien 1869. 1869; R. Heuberger (Hg.), Musikbuch aus ÖsterreichRichard Franz Joseph Heuberger (Hg.), Musikbuch aus Österreich. Ein Jahrbuch der Musikpflege in Österreich und der bedeutendsten Musikstädten des Auslandes. 1Wien–Leipzig 1904. 1 (1904); R. Flotzinger in IRASMRudolf Flotzinger, Zum Topos von der Völker und Stände verbindenden Wirkung der Musik, in International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 12/2 (1981), 91–101. 12 (1981); R. Flotzinger in F. Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang. Österr. Kultur zwischen 1918 und 1938Rudolf Flotzinger, Musik als Medium und Argument, in: Franz Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Wien–München–Zürich 1981, 373–382., 1981; G. Tanzer, Spectacle müssen seynGerhard Tanzer, Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhundert (Kulturstudien 21). Wien–Köln–Weimar 1992. 1992; R. Flotzinger in I. Klemenčič (Hg.), [Kgr.-Ber.] 300 let / years Academia Philharmonicoum Labacensium 1701–2001. Laibach 2001, 2004.
14.12.2004
Rudolf Flotzinger,
Art. „Musikverein“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
14.12.2004, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001da99
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