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Musikalität
Fähigkeit zur Musik, ein theoretisches Konstrukt, das im Kontext ästhetischer wie ideologischer Haltungen zu interpretieren ist. Demnach finden sich Konzepte, die zwischen den Extremen lokalisiert sind, die M. primär als intellektuelle Fähigkeit bzw. M. als Ausdrucksvermögen und Empfindungsqualität, als emotionale Fähigkeit sehen. Musik als Sprache bzw. Musik als Körperpraxis können als die basalen ästhetischen Haltungen erachtet werden.

„Wer ist musikalisch?“ ist eine Frage der politisch motivierten Musikpädagogik des frühen 19. Jh.s und der Genie-Diskussion des 18. Jh.s, die Th. v. Billroth erstmals 1895 einer systematischen Betrachtung unterzog. Mit der Zuwendung musikwissenschaftlicher Forschung zum Wissenschaftsbild der Naturwissenschaft, der Suche nach allgemeingültigen Gesetzen, mutierte der Gegenstand von der Frage nach einer individuellen Eigenschaft zur M.sforschung und damit von der Erforschung eines zuvor als besonders bewerteten Phänomens zur Erforschung eines allgemeinen Persönlichkeitsmerkmals: M. ist ein Merkmal, das jedem zukommt, nur der Grad der individuellen Ausprägung ist unterschiedlich. Der Wandel der Methodik reflektiert den ideologischen wie das Bemühen um die Isolation von angeborenen und Umweltbedingungen. Während die Stammbaumforschung als „Eliteforschung“ diese Bedingungen vermengt und Traditionen mitmisst, versucht die systematische Zwillingsforschung den umwelt- und anlagebedingten Anteil am Durchschnitt der Menschen zu isolieren.

Diese Wende und Adaption naturwissenschaftlicher Methoden auf humanwissenschaftliche Fragestellungen war vom Wiener Kreis getragen. Das Dritte Reich (Nationalsozialismus) brachte den Exodus dieser Wissenschaftshaltung. Realisiert wurde M.sforschung vorwiegend im angloamerikanischen Raum, als theoretisches und methodisches Derivat der Intelligenzforschung, Teil der Persönlichkeitsforschung, Lernpsychologie, Entwicklungspsychologie und Diagnostik. M. wird dabei differenziert als music ability, eine praktikable Größe an einem Außenkriterium definiert, als music capacity, dem angeborenen Teil von Fähigkeiten, music achievement als den durch (spezifische) Lernprozesse erworbenen Fertigkeiten. Music aptitude bezieht die kulturelle Sozialisation als Erfahrungshintergrund implizit mit ein. Theoretische Grundkonzepte der musikalischen Begabung orientieren sich an den beiden Grundkonzepten der Intelligenz: M. bestehe aus einem General Factor bzw. M. äußere sich in unterschiedlichen Teilbereichen unterschiedlich. Diesen Konzepten folgen die Testentwicklungen. Das General Factor-Modell erachtet M. als eine in sich geschlossene Fähigkeit (Wing), multifaktorielle Konzepte betrachten M. als ein Bündel von unabhängigen Faktoren, die in Subtests gemessen werden (Seashore).

M.stests im engeren Sinn beanspruchen, M. unabhängig von sozialisierenden und kulturellen Dimensionen zu messen. Dies bedingt meist die Bestimmung von sensorischen Fähigkeiten ohne musikalischen, somit kulturellen Bezug. Leistungstests sind explizit an Außenkriterien validiert, sie messen Vorbedingungen für das Erreichen definierter musikalischer Ziele, Diagnosen haben konkreten prognostischen Wert.

Wertende Aspekte werden in sog. Einstellungstests absichtlich mitgemessen. Solche Konzepte tragen der kulturellen und sozialen Bestimmtheit wie der Verbindung von M. zu anderen Persönlichkeitseigenschaften Rechnung. Beobachtungen der Korrelation von M. mit Intelligenz, Extra- vs. Introversion und Neurotizismus, mit Rigidität und sozialem Dominanzstreben zeigen eine Verquickung dieser Merkmale in unterschiedlicher Weise für den Erfolg in verschiedenen musikalischen Genres.

Die Intention des Tests und der zugrundeliegende M.sbegriff bestimmen die Adäquatheit der Anwendung. Die Validität bezeichnet die Gültigkeit der zu messenden Eigenschaft, die Reliabilität die Güte (Re-test oder split-half).

Die Frage, ob sich phylogenetische Aspekte oder kulturelle Entwicklung in der Ontogenese des Menschen vollziehen, ist für die Bestimmung der M. weniger interessant als für die Diskussion des methodischen Zugangs auf die Herleitung musikalischer Urformen aus der Beobachtung der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. Piagets Theorie, die die Entwicklung sensorischer und intellektueller Fähigkeiten in Phasen als Vorbedingung der Entwicklung anderer (psychischer) Merkmale erachtet, wurde auch auf die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten übertragen. Jüngere Forscher differenzieren diese Phasen aufgrund von empirischen Ergebnissen über die Entwicklung spezifisch musikalischer Merkmale.

Die Normierung von Tests nach Altersstufen trägt diesem Umstand Rechnung wie der Tatsache, dass musikalische Fähigkeiten sich im Laufe des Lebens auch durch Umweltbedingungen verändern, durch den Einfluss unterschiedlicher peer groups in unterschiedlichen sozialen Lebensaltern.

Die ideologische Basis der experimentellen M.sforschung – M. ist ein allgemeines Merkmal – sowie das durch technische Mittel ermöglichte Musizieren als allgemeine Kulturpraxis markieren (vorläufige) Eckpunkte einer kulturellen Entwicklung, die M. zunehmend in eine allgemeine Kreativitätsforschung einbinden und informelles Gestalten vor produktiver Begabung stellen, die an kulturellen Vorgaben orientiert ist. Die Beachtung von Amateurismus folgt solchen Konzepten.

Anders als das theoretische Leitbild Intelligenz hat das Konstrukt M. einen geringeren gesellschaftlichen Wert. Das Vorhandensein ist günstig, eine geringe Ausprägung kein Mangel. Dementsprechend ist die Diagnose von M. an die spezifische Pädagogik und hier an die Bestimmung nach klar definierten Außenkriterien gebunden oder sind Tests standardisierte Prüfungen in der musikalischen Ausbildung (tests of musical performance). Die Bestimmung von basaler M. ist meist Kategorisierungsmerkmal der wissenschaftlichen Forschung.


Literatur
H. Gembris, Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung 2002; K. Füller, Standardisierte Musiktests 1974; G. Kleinen (Hg.), Begabung und Kreativität in der populären Musik 2003.

Autor*innen
Werner Jauk
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Werner Jauk, Art. „Musikalität‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001da7c
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