Motivisch-thematische Arbeit
Kompositionsverfahren, innerhalb dessen von einer Themengestalt abgeleitete oder aus einem Motiv gebildete Ton- und Rhythmusfolgen dergestalt verwandelt, umgruppiert oder neu kombiniert werden, dass der Zusammenhang mit dem Ausgangsmaterial gewahrt bleibt und dennoch als beständige Veränderung erfahrbar werden kann.
M.-th.s Denken findet sich zwar bereits in nicht gebundenen Formabschnitten der streng kontrapunktischen Musik des 17. und 18. Jh.s vorgebildet. Geschichtlich aber wird es erst mit dem Zurücktreten der von Melodie und
Generalbass gestützten Gerüststrukturen zugunsten einer durchgängig mit selbständigen Einzelstimmen arbeitenden Kompositionsweise seit der Mitte des 18. Jh.s breitenwirksam. Seine angemessene Gestaltungsform findet das Verfahren hierbei in der
Sonate: Heinrich Christoph Koch verwendet die Formulierung
„thematisch gearbeitet“ 1802 im Hinblick auf Werke
J. Haydns und
W. A. Mozarts für
„mannigfaltige Wendungen und Zergliederungen“ eines
„Hauptsatzes, ohne Beymischung vieler Nebengedanken“ (Koch). Bereits wenig später wird der Begriff auf die Ausarbeitung zumeist zweier, in der Exposition aufgestellter gegensätzlicher Gedanken beschränkt und beispielhaft auf
L. v. Beethovens Klavierwerk angewendet. Hiermit zeigt er sich zunehmend auf dynamisch wirksame Formabschnitte (Durchführungen, Überleitungen, Steigerungen, Schlussabschnitte) verdichtet. Johann Christian Lobe unterscheidet um die Jh.mitte erstmals zwischen
„thematischer“ und
„motivischer Arbeit“ (Lobe). Seit dieser Zeit und bis ins 20. Jh. hinein wurde die „thematische Substanz“ eines Satzes vorrangig im Hinblick auf ihre Intervallfolge, der Terminus „Motiv“ dagegen als in erster Linie rhythmusbezogenes Mittel der Zusammenhangbildung bestimmt (
E. Ratz).
Ausgehend hiervon glaubte man auch einer geschichtlichen Entwicklung gewahr werden zu können: der allmählichen Vernachlässigung von rhythmusbestimmter Motivarbeit in der Formbildung (Haydn, Beethoven) zugunsten einer vorwiegend auf Tonhöhenverhältnissen beruhenden thematischen Vernetzung (J. Brahms, A. Schönberg). Die Analysetechnik war dabei zunehmend bestrebt, Werkstrukturen idealiter aus einer einzigen, organisch sich erweiternden Intervallzelle abzuleiten (R. Réti). Solche für den Hörer nachverfolgbaren „Prozesse” in der Musik des 19. und 20. Jh.s wurden auf „teleologische“ Ideen des Zeitgeistes zurückgeführt (K. H. Wörner). Kaum zufällig hat man schließlich auch nahegelegt, dass sich mit der Zwölftontechnik im 20. Jh. ein über 150 Jahre währender Anspruch m.-th.n A.ens auf Systematik und rationale Durchdringung des Tonsatzes in Österreich vollendet habe. In der Reihentechnik erscheint ein vorgeordnetes Bezugssystem von Toneigenschaften anstelle eines Themas; es werden dabei bereits wesentliche Verarbeitungsmöglichkeiten in seiner Grundgestalt erkennbar. Verallgemeinern lassen sich solche Betrachtungsweisen für das praktische Komponieren zwischen Haydn und Schönberg freilich kaum: So zeigen Erscheinungen wie ein richtungslos ausgreifendes Netzwerk motivischer „Varianten“ (etwa bei Fr. Schubert, G. Mahler oder A. Zemlinsky) oder die oftmals nur in Tiefenschichten des Tonsatzes „entwickelnde Variation“ (wie sie Schönberg benannt hat) Alternativen zur zielgerichteten und fasslichen m.-th.n Formgliederung auf. Zudem findet sich m.-th. A. vorrangig nur als handwerkliches Mittel einer „bewußt begrenzten Integralität“ eingesetzt (H. Kaufmann). Sie dient zumal bei Komponisten wie Mozart, Schubert oder Mahler oftmals lediglich dazu, einer ausgeprägt heterogenen Gestaltvielfalt angemessene Anschaulichkeit verleihen zu können.
HmTChristoph von Blumröder, Thematische Arbeit, motivische Arbeit, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Loseblatt-Ausgabe Stuttgart 1991. 1991 [Thematische Arbeit, motivische Arbeit]; H. Ch. Koch, Musikalisches Lex. 1802, 1533; J. Ch. Lobe, Compositionslehre 1844, 16ff bzw. 67; E. Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre 1951, 45; L. Schmidt, Organische Form in der Musik. Stationen eines Begriffs 1795–1850Lothar Schmidt, Organische Form in der Musik. Stationen eines Begriffs 1795-1850 (Marburger Beiträge zur Musikwissenschaft 6). Kassel 1990., 1990; S. Mauser in ÖMZSiegfried Mauser, Zum Begriff des Themas und der thematischen Arbeit in beiden Wiener Schulen, in Österreichische Musikzeitschrift 43/11 (1988), 585–591. 43 (1988); R. Réti, The Thematic Process in MusicRudolph Réti, The Thematic Process in Music. New York 1951. 1951; K. H. Wörner, Das Zeitalter der thematischen Prozesse in der Gesch. der MusikKarl Heinrich Wörner, Das Zeitalter der thematischen Prozesse in der Geschichte der Musik (Das Zeitalter der thematischen Prozesse in der Geschichte der Musik 18). Regensburg 1969. 1969; H. Kaufmann, FingerübungenHarald Kaufmann, Versuch über das Österreichische in der Musik, in: Harald Kaufmann, Fingerübungen. Musikgesellschaft und Wertungsforschung. Wien 1970, 24–43. 1970, 42.
14.3.2004
Matthias Schmidt,
Art. „Motivisch-thematische Arbeit“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
14.3.2004, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001da26
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