
Lieder der Lovara
Wichtigste musikalische Ausdrucksform der Roma-Gruppe der Lovara. Die Lovara sind Teil der Volksgruppe der Roma/Romnja und eine der vielen verschiedenen Roma-Gruppen in Österreich. Traditionell als Pferdehändler tätig, leitet sich ihr Name vom ungarischen ló [Pferd] ab. Die österreichischen Lovara kommen ursprünglich v. a. aus Ungarn und der Slowakei. Lovara leben heute in vielen Ländern Europas und in Nord- und Südamerika. In Österreich sind zwei große Migrationswellen der Lovara zu verzeichnen, die erste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die zweite in Folge des Ungarnaufstandes 1956. Die österreichischen Lovara siedelten sich primär im Großraum Wien und im Burgenland an. Die musikalische Ausdrucksform dieser Roma-Gruppe ist primär vokal und lässt sich als Gruppenstil charakterisieren (d. h. von den Lovara weltweit praktiziert). Anhand von musikalischen und textlichen Kriterien lassen sich die L. d. L. grundsätzlich in drei Gattungen unterteilen: loke gila [langsame Lieder] oder mesaljake gila [Tischlieder], khelimaske gila [Tanzlieder] und neve gila [neue Lieder]. Die beiden älteren Gattungen der langsamen Lieder und der Tanzlieder stellen die Inspiration für die neuen Lieder dar. Es handelt sich um eine gewachsene Liedtradition, die über viele Generationen hinweg weitergegeben wurde und Teil des kulturellen Gedächtnisses der Lovara ist. Die Überlieferung erfolgte schriftlos. Die L. d. L. unterscheiden sich deutlich von den Musikstilen anderer Roma-Gruppen in Österreich. Der Vortrag der Lieder ist grundsätzlich solistisch. Die Instrumentalbegleitung spielte traditionell eine untergeordnete Rolle, insbesondere bei den langsamen Liedern. Inhaltlich nehmen die L. d. L. Bezug auf die Familie, die Gemeinschaft sowie die Rolle des Individuums in ihr und auf die frühere Lebensweise der Gruppe. Insofern dienen sie als Ausdruck der Identität und stellen einen wertvollen Einblick in die Kulturtradition der Lovara dar. Sie fungieren in gewissem Sinne als deren ‚Geschichtsschreibung‘ und als Mittel zur Verarbeitung von kollektiven und individuellen Erfahrungen.
Aufführungskontext: intern und öffentlich
Traditionell sind die L. d. L. gemeinschaftsbezogen und dialogisch. Sie wurden also im Kreis der Familie bei Tisch gesungen – und zwar nur nach Aufforderung. Hinweise darauf gibt der Name mesaljake gila [Tischlieder]. Man wurde um ein Lied ‚gebeten‘, also zum Singen aufgefordert. Das Singen war neben dem Essen das zentrale Ereignis bei einem Fest. Die Teilnehmer:innen kommentierten, bewerteten und sprachen noch Wochen danach darüber. Sowohl für die Singenden als auch die Zuhörenden war das Fest ein intensives Erlebnis und wurde als gemeinschaftliche Interaktion verstanden: Insbesondere bei den langsamen Liedern war es Teil der Musizierpraxis, dass das Publikum und Ausführende miteinander interagierten. Durch Gestik, Mimik und Zwischenbemerkungen bezogen die Solist:innen die Zuhörenden mit ein und passten den Text spontan an die Gegebenheiten und die anwesenden Personen an. Oft baute man auch die Namen der Anwesenden in die Texte ein. Das Publikum wiederum reagierte mit formelhaften Zurufen, Kommentaren und Zwischenfragen und sang die Zeilenschlusstöne mit. Durch die Präsentation dieses Stils in der österreichischen Öffentlichkeit seit Ende der 1980er Jahre ist ein Veränderungsprozess eingeleitet worden, der noch andauert. Insbesondere die Tanzlieder, bei denen der Text unwesentlich ist und die meist in geraden Rhythmen stehen, und die neuen Lieder, die durch verschiedenste Popularmusikstile beeinflusst sind, eignen sich besser für ein Publikum, das Romanes nicht versteht, weshalb sie die Konzerte dominieren. Dadurch veränderte sich auch die Interaktion zwischen Ausführenden und Zuhörenden wesentlich. Die musikalische Entwicklung von R. Nikolić-Lakatos als einer Protagonistin dieses Öffnungsprozesses zeigt die notwendigen Anpassungen sehr gut. Sie musste sich zu Beginn ihrer Bühnenkarriere erst daran gewöhnen, dass die typischen Reaktionen, die sie von Familienfesten kannte, durch Applaus subsituiert wurden. Bei vielen Auftritten erklärte sie dem gaže [Nichtroma]-Publikum den Inhalt ihrer Lieder. Außerdem inkludierte sie bei ihren öffentlichen Performances immer mehr Tanzlieder, die weniger textgebunden waren und durch Melodie und Rhythmus eine Verbindung zum Publikum herstellten. Die Sängerin forderte ihr Publikum darüber hinaus zum Tanzen auf. Das wurde von den Zuhörenden oft wahrgenommen. Miteinander zu tanzen stellte eine andere Form der Partizipation, die nicht von der Sprachkompetenz abhängt, dar.
Inhalt und musikalische Gestalt
Die langsamen Lieder (loke gila) oder Tischlieder (mesaljake gila, s. Tbsp. 1) zeichnen sich durch eine textlich beeindruckende Poesie aus. Sie nehmen inhaltlich auf die wesentlichen Aspekte im Leben der Sänger:innen Bezug und drücken so Erfahrungen und Gefühle aus. Sie erzählen Geschichten, die auf diese Weise den Zuhörenden, typischerweise der Familie, kommuniziert werden. Die Lieder fungieren als kulturelles und historisches Gedächtnis der Lovara und geben Aufschluss über den Alltag der Vorfahren, gruppeneigene Werte, Regeln des Sitten- und Ehrenkodex und überlieferte Schicksale von Einzelpersonen. Die Texte sind voller poetischer Stilmittel und Redewendungen, lassen aber auch spontan eingefügte und veränderte Verse zu. Sie haben somit auch improvisatorischen Charakter. Die Strophen der langsamen Lieder bestehen jeweils aus vier Zeilen zu sechs bis acht Silben, zu denen häufig charakteristische Füllsilben, etwa jaj, joj, aj und de, hinzukommen. Den musikalischen Aufbau der langsamen Lieder charakterisieren Gerüsttöne, die von Strophe zu Strophe gleich bleiben. Die Zwischentöne können variieren. Improvisation ist ein wesentliches Element. Die Bedeutung der Zeilenschlusstöne lässt sich einerseits durch ihre Längen in den durchwegs frei rhythmisch (parlando-rubato) gesungenen Liedern und andererseits durch das starke Vibrato, mit dem sie versehen werden können, ablesen. Ein besonders auffallendes Charakteristikum ist die Handhabung der Finalis. Der Schlusston, fast immer die melodische erste Stufe, wird entweder durch die melodische siebte oder die zweite Stufe eingeführt. Dies geschieht so, dass der vorhergehende Ton lange ausgehalten und decrescendo gesungen wird, wonach eine Pause folgt. Der Schlusston erklingt sehr leise und oft verhauchend. Der Vortrag erweckt den Eindruck, dass er gar nicht zum Lied gehört, wenn man nicht mit dieser Art des Singens vertraut ist. Die Pause vor dem Schlusston ist ein sinntragendes Element, also ein Charakteristikum dieser Lieder, und gehört zum Vortrag.
Bei den Tanzliedern (khelimaske gila, s. Tbsp. 2) spielen Rhythmusinstrumente eine wichtige Rolle. Der Text ist untergeordnet und besteht oftmals aus Silben ohne Bedeutung, da die Hauptfunktion darin besteht, den Tanz zu begleiten. Typisch lautmalerische Silben sind beispielsweise hip hop, hoppa oder la, la, la. In der tradierten Musikausübung wurde als Instrumentarium verwendet, was an Gebrauchsgegenständen vorhanden bzw. leicht zugänglich war, etwa Kannen, Kochlöffel und Wassergefäße. Oft wurden sie auch durch Fingerschnippen oder Händeklatschen begleitet. Bei den Tanzliedern ist insbesondere der Mundbass hervorzuheben, der mit der Stimme erzeugt, in Silben artikuliert und zur rhythmischen Begleitung verwendet wird. Der Mundbass stellt eine Kombination von rhythmischem Akzent und Funktionsbass dar und gilt als wesentliches Charakteristikum dieser Lieder. Die rhythmische Steigerung durch Tempo und Klangfülle im Verlauf des Liedes ist ebenfalls typisch für die Gattung.
Bei den neuen Liedern (neve gila, s. Tbsp. 3) handelt es sich um Neuschöpfungen, die auf dem Repertoire der Tanzlieder und der langsamen Lieder aufbauen. Sie knüpfen an überlieferte musikalisch-textliche Strukturelemente an und integrieren moderne Musikstile wie Jazz, Latin oder Schlager. R. Nikolić-Lakatos z. B. kreierte gemeinsam mit ihrem Mann M. Nikolić, der sie auf der Gitarre begleitete, mehrere neve gila, die besonders bei öffentlichen Auftritten einen großen Stellenwert hatten. In späteren Jahren, als das Ehepaar gemeinsam mit den Söhnen S. und M. Nikolić unter dem Namen Ruzsa Nikolić-Lakatos & The Gypsy Family auftrat, dominierten die musikalischen Einflüsse der jungen Generation. Charakteristisch für die neve gila sind melodische Übernahmen aus verschiedenen musikalischen Genres. Sie sind meist rhythmisch geprägt und nach der Veränderung des Aufführungskontextes in den frühen 1990er-Jahren an das erweiterte Publikum angepasst. Musikalisch sind sie sehr unterschiedlich und weisen eine große stilistische Bandbreite auf. Inhaltlich geht es oft um die Liebe, insbesondere die unglückliche Liebe, und die Texte werden festgelegt und auch schriftlich festgehalten. Die Lieder variieren nicht je nach Aufführungskontext und Publikum.
UNESCO-Anerkennung
Im Jahr 2011 wurden die L. d. L. in das UNESCO-Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich aufgenommen. R. Nikolić-Lakatos war die Antragstellerin und wurde durch Gutachten von Christiane Fennesz-Juhasz und Mozes F. Heinschink unterstützt. Die L. d. L. sind seitdem in den mündlich überlieferten Traditionen und Ausdrucksformen des immateriellen Kulturerbes in Österreich registriert. Als Begründung wird einerseits die Einzigartigkeit dieser Liedtradition hervorgehoben, andererseits ihre internationale Verbreitung als Gruppenstil, da diese Liedkultur bei allen Lovara in verschiedenen Ländern der Welt praktiziert wird. Die Rolle der Lieder bei der Erhaltung der bis vor einigen Jahrzehnten mündlich tradierten Romanes-Variante der Lovara wird ebenfalls in der Begründung genannt. Politisch bedeutet der Eintrag die Anerkennung einer Minderheitenkultur als österreichisches Kulturerbe, was ein wichtiges Zeichen der Bewusstmachung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen dieses Landes ist.
Tondokumente
TD: Amare gila – Unsere Lieder – Our Songs. Ruža Nikolić-Lakatos et al., eine Dokumentation der Lovaraliedkultur in Österreich, CD mit Begleitbuch, hg. v. U. Hemetek 1994 (Neuaufl. 1997).
TD: Amare gila – Unsere Lieder – Our Songs. Ruža Nikolić-Lakatos et al., eine Dokumentation der Lovaraliedkultur in Österreich, CD mit Begleitbuch, hg. v. U. Hemetek 1994 (Neuaufl. 1997).
Literatur
Empfehlungsschreiben von M. F. Heinschink 2010 (PDF) u. Ch. Fennesz-Juhasz 2011 (PDF) an die UNESCO Österreich (3/2024); U. Hemetek in Amare gila – Unsere Lieder – Our Songs, CD mit Begleitbuch, hg. v. U. Hemetek 1994 (Neuaufl. 1997); U. Hemetek, Mosaik der Klänge 2001; U. Hemetek (et al.), Ružake gila (Ružas Lieder): Aufarbeitung des musikalischen Erbes der Roma-Sängerin Ruža Nikolić-Lakatos als digitale Ausstellung 2024 (https://doi.org/10.21939/23dv-v776).
Empfehlungsschreiben von M. F. Heinschink 2010 (PDF) u. Ch. Fennesz-Juhasz 2011 (PDF) an die UNESCO Österreich (3/2024); U. Hemetek in Amare gila – Unsere Lieder – Our Songs, CD mit Begleitbuch, hg. v. U. Hemetek 1994 (Neuaufl. 1997); U. Hemetek, Mosaik der Klänge 2001; U. Hemetek (et al.), Ružake gila (Ružas Lieder): Aufarbeitung des musikalischen Erbes der Roma-Sängerin Ruža Nikolić-Lakatos als digitale Ausstellung 2024 (https://doi.org/10.21939/23dv-v776).
Autor*innen
Ursula Hemetek
Letzte inhaltliche Änderung
8.5.2025
Empfohlene Zitierweise
Ursula Hemetek,
Art. „Lieder der Lovara“,
in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
8.5.2025, abgerufen am ),
https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_L/Lieder_der_Lovara.xml
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