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Kopisten
Hersteller von Notenabschriften (gegen Entgelt oder ehrenamtlich). Bei gewisser Varianz im Sprachgebrauch betrifft „Copiatur“ in der Regel das Herausschreiben eines Stimmensatzes, „Spartitura“ die Anlage einer Partitur. Die Feststellung der Schreiber (= K.) dient im Rahmen der musikalischen Quellenforschung dazu, die Authentizität, Provenienz und Chronologie handschriftlicher Musikalien näher zu bestimmen, Veränderungen eines lokalen Repertoires und Überlieferungswege musikalischer Werke aufzuzeigen. Selbst wenn es in vielen Fällen nicht gelingt, K. namentlich zu identifizieren und die zahlreichen anonymen Schreiber mittels Nummerierung erfasst werden, ist anhand von Schriftuntersuchungen meist ein ergiebiger philologischer Befund möglich.

Die Ausprägung der Notenschrift (Notation) vollzieht sich in steter Wechselwirkung mit der Entwicklung von Beschreibstoff und Schreibgerät. Solange Pergament benutzt wurde, konnte sich eine individuelle Schriftcharakteristik kaum entfalten. Klösterliche Schreibschulen des Mittelalters lassen sich deshalb aufgrund lokal gebräuchlicher Schriftzeichen, doch selten durch Eigenheiten der Schriftzüge unterscheiden. Erst durch die Verwendung von Papier traten im Spätmittelalter persönliche Züge der Handführung hervor. Zwar tritt im Lauf der Zeit allmählich eine Konventionalisierung der Notenschrift ein, doch manche Schriftzeichen – insbesondere Notenschlüssel, Taktvorzeichnung, Pausenzeichen, Kustoden (Zeichen, welche die Tonhöhe der ersten Note in der folgenden Zeile anzeigen), der Ansatz der Notenhälse, das Stimmschlusszeichen – ergeben in der Zusammenschau ein spezielles Bild, das zudem durch die Schreibschrift in Stimmbezeichnungen, Spielanweisungen und Textunterlegungen unterstützt wird. Die Deutlichkeit der Noten- und Textschrift, eine geringe Zahl von Fehlern, Rasuren (das Abschaben des Papiers mit einer Klinge bot lange Zeit die einzige Möglichkeit, Korrekturen vorzunehmen) und Streichungen, die geschickte Anbringung von Wendestellen kennzeichnen die Qualität einer Abschrift. War das Werk zu einem besonderen Anlass gedacht – wurde es z. B. einem Widmungsträger übergeben –, wurde auf die Gestaltung des Titelblattes besonderer Wert gelegt und die Handschrift entsprechend pretiös gebunden.

Diese generellen Gegebenheiten treffen auch auf das heutige Österreich zu. Z. B. überreichte J. J. Froberger Kaiser Ferdinand III. 1649 und 1656, dessen Nachfolger Leopold I. als Wahlgeschenk 1658 prachtvoll aufgemachte Musikhandschriften mit seiner Claviermusik. Aufzeichnungen für Tasteninstrumente bilden im Rahmen der Überlieferung allerdings eine eigenständige Quellengruppe und stehen wegen des Notats in zwei Systemen abseits der üblichen Anlage. In der kirchenmusikalischen Praxis hielt man für a-cappella-Werke bis ins 18. Jh. teils an der Verwendung von Chorbüchern fest, deren Fertigung besonderen Geschicks bedurfte und von sog. Ingrossisten besorgt wurde. Zu den Besten dieses Faches zählte Georg Moser († 1654?), der 1622–49 ca. dreißig Chorbücher für den Salzburger Fürsterzbischof Paris Graf Lodron lieferte, die letzten zu einem Zeitpunkt, als er bereits im Dienst von Kaiser Ferdinand III. stand und für dessen Hofmusikkapelle, daneben auch für Erzhzg. Leopold Wilhelm tätig war. Dass Mosers Sohn Johann Christoph 1654 die Agenden seines Vaters übernahm, belegt eine mehrfach unter K. zu beobachtende Familientradition.

Mit der weitgehenden Akzeptanz der modernen Notenschrift zu Beginn der Neuzeit und infolge der Tendenz zu größeren Besetzungen lag die hauptsächliche Arbeit der K. indes darin, Stimmensätze für die musikalische Praxis anzufertigen. Zwar gab es an den Hofmusikkapellen sog. „Hofkopisten“, doch war diese Tätigkeit für gewöhnlich ein Nebenverdienst für einige schreibbegabte Musiker der Kapelle. Unter Umständen wurde sie auf mehrere Anwärter verteilt. An der kaiserlichen Hofmusikkapelle in Wien waren im 17. und 18. Jh. zuweilen eigene K. für die Kirchen-, die Kammer- bzw. die Theatralmusik beschäftigt. Hier konnte es sogar vorkommen, dass sich ein K. nur einer spezifischen Gattung (z. B. Marianischen Antiphonen) widmete. Auch außerhalb der institutionellen Musikpflege kamen die guten K. zu Aufträgen. A. Vivaldi ließ aufgrund schlechter Erfahrungen mit eigenmächtigen Verlegern seine neuesten Kompositionen lieber von K. vervielfältigen, um dann selbst die Handschriften zu verkaufen, als sie in Druck zu geben und dabei vom Verleger hintergangen zu werden. Bewusst nahm Vivaldi damit das Risiko von „Raubkopien“ auf sich. Denn obwohl es die Komponisten zu verhindern trachteten, etwa indem sie die wesentlichen Stimmen im eigenen Haus abschreiben ließen und nur den Rest zur Heimarbeit mitgaben, stellten die K. immer wieder zusätzliche Abschriften der Werke her, die sie dann auf eigene Rechnung veräußerten. W. A. Mozart schrieb 1784 aus Wien an seinen Vater, „ich weis ganz zuverlässig, daß [Felix] Hofstetter [1744?–1814, ein Kopist der Salzburger Hofmusikkapelle] des Haydn Musique [J. M. Haydn] dopelt copiert – ich habe seine Neuesten 3 Sinfonien wirklich“. Interessenten konnten also über K. Werke aus Musikarchiven erhalten, deren Fundus sonst hermetisch abgeriegelt war. Neben den Berufs-K. waren es v. a. Angehörige des Konventes, die bei Aufenthalten in Residenzstädten oder anderen Klöstern musikalische Werke für die heimische Musikpflege kopierten. Wer Noten abschrieb, führte überdies – sofern dies vorgesehen war – zumeist auch das Musikinventar.

Die Identifizierung eines Schreibers wirft vielfältige Probleme auf. So ahmen Gehilfen gerne das Schriftbild ihres vorgesetzten Hofkopisten nach, ebenso wie sich innerhalb einer Kapelle die Schriftzüge der Schreiber manchmal ähneln. Auch vermag sich eine Notenschrift bei lange Zeit aktiven K. erheblich zu verändern, wie beispielsweise bei dem Salzburger Hofkopisten Ferdinand Jakob Sebastian Samber (1685–1742) und dessen „Lehrling“, späteren Schwiegersohn und schließlich Nachfolger Johann Jakob Rott (1682?–1766). Zuweilen geben ergänzende Quellen wie Rechnungsbücher, Ausgabelisten, Eingaben bei Hof u. dgl. die Namen von K. preis, doch nicht immer gelingt deren Zuordnung zu einer bestimmten Notenschrift. Mit dem Geiger und K. Andreas Abendt (1656–1729) und dem ebenfalls als K. belegten „Konzertdispensator“ (d. h. Archivar und Notenwart) K. Reinhardt verfügte die Wiener Hofmusikkapelle in den ersten Dekaden des 18. Jh.s über zwei Schreiber, von denen jeder den damaligen Hauptkopisten für die Werke des Ersten Kapellmeisters J. J. Fux abgeben könnte.

Während manche musikalische Werke häufig kopiert wurden, blieb die Weitergabe von einmal erstelltem Notenmaterial über lange Zeit selten. Doch konnten handschriftliche Musikalien als Aussteuer bei einer adeligen Hochzeit, als Erbgut eines geistlichen Herrn, bei Reisen der Musiker als Dank für Kost, Logis und Gage oder zum gezielten Aufbau der Musikpflege in einer neu errichteten Residenz, einem neu gegründeten Kloster, einem jüngst eroberten Gebiet den Besitzer wechseln. So wurde das Zisterzienserstift Lilienfeld nach einem Brand, dem das Musikarchiv zum Opfer fiel, mit Notenmaterial aus Heiligenkreuz – ebenfalls einem Zisterzienserstift – versorgt. Musikalische Werke gelangten in Abschriften Wiener Provenienz nach den Türkenkriegen in zurückgewonnene Teile Ungarns, um an dortigen Kirchen eine entsprechende Musikpflege zu gewährleisten.

Im Lauf des 18. Jh.s etablierten sich in Zentren des Musiklebens neben Musikverlagen auch professionelle K. Vereinzelt wurden sog. K.-Werkstätten gegründet, gewerbliche Betriebe zur Herstellung von handschriftlichem Notenmaterial, das dann auch Kompositionen betraf, für die sich aufgrund ihrer großen Besetzung (wie z. B. bei Opern) oder funktionellen Bestimmung (wie z. B. bei Kirchenmusik) eine Drucklegung nicht lohnte. In Wien dominierten Simon Haschke, J. Traeg, Wenzel Sukowaty und L. Lausch diesen Markt. Bis in die ersten Dekaden des 19. Jh.s rechnete sich der Handel mit Abschriften. Nachdem sich im Angebot der Musikverlage infolge kostengünstigerer Drucktechniken die Werkbreite erweitert hatte, bot der Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel im Verzeichniss geschriebener und gedruckter Musikalien aller Gattungen [...] (Leipzig 1836) musikalische Werke in handschriftlicher Vervielfältigung zur Versteigerung an.

Als im 19. Jh. vermehrt Notenbestände von privaten Sammlern zusammengetragen bzw. in den Besitz von Vereinen, Museen, Archiven und Bibliotheken übernommen wurden, streute sich die Überlieferung musikalischer Werke umso mehr, indem die Quellen von ihrem ursprünglichen Standort entfernt und in gänzlich anderem Zusammenhang aufbewahrt wurden. Die Feststellung der Schreiber von Notenmaterial bietet daher der musikalischen Quellenforschung die Möglichkeit, die Herkunft von handschriftlichen Musikalien zu orten und das musikalische Repertoire einzelner Aufführungsorte zu rekonstruieren. Lokale Konsistenz bewahren dagegen die Notenarchive von Kirchenchören, Musikkapellen und Gesangvereinen, wo der Kapellmeister selbst oder Mitglieder mit besonders schöner Notenschrift für das benötigte Notenmaterial sorgten. Nach dem Zweiten Weltkrieg öffneten sich neue Möglichkeiten der Beschaffung, welche die handschriftliche Verbreitung stark einschränkten: im Musikalienhandel sind vermehrt Ausgaben mit Stimmensätzen erhältlich, hinzu kommen das mit den gesetzlichen Bestimmungen kollidierende Kopieren mithilfe von Kopiergeräten und in letzter Zeit die Verwendung von Notensatzprogrammen auf Personalcomputern.


Literatur
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Autor*innen
Thomas Hochradner
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Thomas Hochradner, Art. „Kopisten‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d589
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