Logo ACDH-CH
OeML Schriftzug
Logo OeML
Logo Verlag

Königgrätz (deutsch für tschechisch Hradec Králové)
Die an der Mündung des Flusses Oder (Odra) gelegene ostböhmische Stadt ist 1073 als „urbs Gradec“ zum ersten Mal belegt. 1225 wurde sie als eine der ersten in Böhmen zur königlichen Stadt erhoben; im 14. Jh. unter dem Namen Gretz geführt, erhielt sie schließlich als Witwensitz der böhmischen Königinnen den Namen Königingrätz, ab ca. 1800 K. Im 15. Jh. war K. neben Tábor und Prag ein wichtiges Zentrum der hussitischen Bewegung, im 16. Jh. ihrer gemäßigten Partei, der Utraquisten. In der Zeit der Rekatholisierung (Gegenreformation) wurde die Stadt 1664 Bischofssitz der ostböhmischen Diözese, die Hl. Geist-Kirche wurde zur Kathedrale. Die Stadt und ihre Umgebung wurden durch die Kämpfe des Siebenjährigen Krieges (1756–63), v. a. jedoch den preussisch-österreichischen Krieg 1866 in Mitleidenschaft gezogen. Am Beginn des 20. Jh.s setzte ihre Entwicklung zu einer der wichtigen Industriestädte Böhmens ein.

Die ersten die Musik betreffenden Belege sind mit der Liturgie verbunden: im 11. Jh. mit der St. Klemens-Kapelle, ab Mitte des 14. Jh.s mit der Hl. Geist-Kirche, in der 2. H. des 17. Jh.s haben die Maria Himmelfahrt-Kirche und am Beginn des 18. Jh.s die St. Nepomuk-Kirche an Bedeutung gewonnen. Während der Reformation wurde der liturgische Gesang vor allem von den Literarischen Bruderschaften (chorus bzw. fraternitates literatorum) gepflegt. Zu den wichtigsten Quellen der Kirchenmusik nicht nur für K., sondern für ganz Böhmen gehört das sog. Franus Kantional, das der Tuchweber Jan Franus im Jahre 1505 der K.er Literarischen Bruderschaft bei der Hl. Geist-Kathedrale widmete. 1719 wurde in der Druckerei Wenzel Johann Tibellis das Gesangbuch von Jan Božan Slavíček rajský (Die Paradiesische Nachtigall) gedruckt. In der katholischen Kirche wurde v. a. die 1727 ebenfalls in K. herausgegebene Cithara Nového zákona (Lob-Klingende Harffe des Neuen Testaments) des Jesuiten Antonín Koniáš verwendet.

Die Anfänge des Theaters in K. sind mit der Rekatholisierung und dem Jesuitenorden verbunden. 1632 wurde das Jesuitenkolleg Maria Himmelfahrt gegründet; 1637–1766 führten seine Studenten hier Dramen abwechselnd in lateinischer und tschechischer Sprache auf, die erste tschechische Vorstellung, ein Spiel über Christi Geburt, fand bereits 1637 in der St. Anton-Kirche statt. 1668 errichteten die Jesuiten einen Theatersaal, den ersten in der Stadt. Auf dem Gebiet des profanen Theaters ist die Tätigkeit des Domkapellmeisters Johann Franz Volkert (F. Volkert) zu nennen, der die Musik zu mehreren Lustspielen schrieb. Eine Theatergruppe von Dilettanten führte (wahrscheinlich 1805) E. Schikaneders Lustspiel Die Lyranten oder das lustige Elend auf Tschechisch (als Lautnicy anebo Weselá Bjda) mit der Musik Volkerts auf. Eine deutsche Dilettantengruppe spielte ab 1796 im Haus „Beim goldenen Adler“. Im selben Haus trat ab 1819 auch eine tschechische Theatergruppe auf, der der spätere Komponist der tschechischen Nationalhymne (nach 1918 Staatshymne) František Škroup (1801–62), damals Student am Gymnasium, angehörte und der in K. seine ersten kompositorischen Versuche unternahm. Um tschechische Vorstellungen machte sich der Theaterautor Václav Kliment Klicpera (1792–1859) verdient, der außer eigenen Stücken z. B. auch C. M. v. Webers Der Freischütz (1825) aufführte. Nach dem Abgang Klicperas nach Prag (1846) ist das Niveau des Ensembles gesunken.

K. wurde unter Joseph II. zur Festung erklärt, sodass in den folgenden Jahren verschiedene Regimenter in der Stadt stationiert waren, deren Militärkapellen sich am lokalen Musikleben beteiligten. Es wurden unter Mitwirkung wandernder Theatergesellschaften und mit der Aushilfe von Dilettanten auch Opern gespielt, so z. B. in der Wintersaison 1839/40 G. Rossinis Aschenbrödel, G. Donizettis Liebestrank oder Škroups Dráteník (Der Rastelbinder) unter Mitwirkung der Kapelle des IR.s Nr. 25 unter ihrem Kpm. Anton Stolz. Der Theaterdirektor Carl Friedrich Knispel, der in der Saison 1842/43 in K. spielte, brachte zusammen mit der Kapelle des IR.s Nr. 20 A. Lortzings Der Wildschütz und Zar und Zimmermann sowie Die Regimentstochter und Belisar von Donizetti zur Aufführung. Im Jahre 1851 gastierte in K. die Theatergesellschaft der Brüder Zöllner, deren Vorstellungen von der Kapelle des IR.s Nr. 43 mitbestritten wurden. 1868–94 war im Konvikt Borromäum, einer Knabenschule, ein Studententheater tätig, das 1878–84 J. Nešvera leitete und z. B. Alessandro Stradella von F. v. Flotow und Donizettis Lucrezia Borgia aufführte, ebenfalls mit Begleitung einer Militärkapelle. Auch in den folgenden Jahren zogen die Theaterprinzipale immer wieder die Militärkapellen aus der Stadt oder der nahen Umgebung heran. Als Militärkapellmeister diente 1906–10 in K. R. Manzer d. Ä., ab 1910 bis zu seinem Tod Dirigent des Karlsbader Kurorchesters. Bei den Opernvorstellungen wirkten auch die Gesangsvereine Dobroslav, Vina u. a. mit.

Mit der Militärmusik hängt indirekt die von V. F. Červený 1842 gegründete Werkstatt für Blasinstrumente zusammen. Červený spezialisierte sich v. a. auf die tiefen Instrumente. Sein 1844 gebautes Cornon (Horntuba) führte R. Wagner auf seiner Suche nach neuen Klangmöglichkeiten dazu, die sog. Wagner-Tuba im Ring des Nibelungen zu verwenden. Červenýs Subkontrabasstuba und Subkontrafagott (1873) setzten sich nicht durch. 1864 wurde in K. eine weitere Instrumentenfabrik gegründet, die Klavierfabrik Petrof. Ihr Gründer, Anton Petrof (1839–1915), hatte in Wien bei den Klavierbauern Heitzmann, Ehrbar und Schweighofer gelernt. Ab 1895 wurden seine Klaviere für den Export gebaut.

Der Sohn von V. F. Červený, Jiří Červený (1887–1962), gründete gemeinsam mit anderen K.er Studenten das Kabarett Mansarda (Mansarde), das ab 1909 eine Fortsetzung in Prag im Kabarett Červená sedma (Die rote Sieben) fand und bis 1922 spielte.

Das Gebäude des Stadttheaters, das heutige Klicperovo divadlo (Klicpera-Theater), wurde am 24.3.1884 mit F. Smetanas Der Kuss eröffnet, es diente auch Vereinen, lokalen Dilettantengruppen und für Gastspiele. Es wurde 1905–48 von der Východočeská společnost (Ostböhmische Gesellschaft) als ein Theater der vereinigten Städte Ostböhmens (d. h. Chrudim/CZ, K. und Pardubitz [Pardubice/CZ]) mit professionellem Ensemble betrieben. Die Gesellschaft spielte vor allem Schauspiel und Operetten, die Versuche des Direktors und ehemaligen Tenors Vladimír Wuršer, der die Gesellschaft 1926–40 leitete, die Oper zu fördern, scheiterten. Erst 1949 wurde in K. ein eigenes stabiles Schauspielensemble zusammengestellt. Die Oper blieb weiterhin Sache von Amateuren: So gründete Karel Schejbal 1950 das Ensemble Lidová opera (Volksoper), das bis 1961 aktiv war. Es wurden z. B. Georges Bizets Carmen, Rossinis Der Barbier von Sevilla, A. Dvořáks Rusalka, J. Strauss’ Die Fledermaus, Smetanas Der Kuss u. a. aufgeführt, oft mit professionellen Gästen (Zdena Hrnčířová, Vilém Přibyl, Eduard Haken u. a.).

1958 wurde das Marionettentheater DRAK gegründet, ursprünglich als Theater für Kinder, später für alle Altersgruppen. Das Ensemble experimentierte später mit verschiedenen Arten des Puppentheaters, verwendete Elemente der Clowniade, kombinierte Marionetten mit Schauspielern (z. B. Smetanas Die verkaufte Braut, 1986) und suchte weitere alternative Formen.

Der Ursprung der heutigen Filharmonie Hradec Králové (Philharmonie K.) reicht in das Jahr 1920 zurück, als im Turnverein Sokol das Amateurorchester Sokolská filharmonie (Sokol Philharmonie) gegründet wurde. Der Turnverein war während des nationalsozialistischen „Protektorats Böhmen-Mähren“ ab 1939 aufgelöst, das Orchester bestand aber unter dem Namen Hradecká filharmonie (K.er Philharmonie) bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs weiter. Nach dem Krieg änderte es den Namen mehrmals und fungierte auch als Opernorchester der Lidová opera. 1978 wurde ein professionelles Opernorchester der Stadt K. gegründet, das seit 1993 den Namen Filharmonie Hradec Králové trägt. 1991–2001 stand an der Spitze dieses Orchesters František Vajnar, 2001–12 Ondřej Kukal, sein Nachfolger ist Sebastian Weiser. Seit 2005 veranstaltet die Filharmonie Hradec Králové das Festival Hudební fórum Hradec Králové (Musikforum K.), in dessen Rahmen u. a. die tschechischen Erstaufführungen von Werken Alfred Schnittkes, Sofia Gubajdulinas, Luciano Berios, H. W. Henzes u. a. stattfanden.


Literatur
(Chronologisch:) A. Rybička in Památky Archeologické a místopisn [Archäologische und topographische Denkmäler] 2 (1856/57); J. Jireček, Dějiny církevního básnictví českého až do XVIII. stolet [Die Geschichte der tschechischen Kirchendichtung bis zum XVIII. Jahrhundert] 1878; J. Mikan, Divadlo a hudba v Hradci Králové v 1. pol. 19. stolet [Theater und Musik im K. in der 1. H. des 19. Jh.s] 1930; B. Dobiáš, Šest set let latinských škol v Hradci Králov [600 Jahre Lateinschule in K.] 1936; J. Mikan, Jesuitské divadlo v Hradci Králové [Das Jesuitentheater in K.] 1939; P. Hartmann in Práce Krajského muzea v Hradci Králové [Arbeiten des Kreismuseums in K.] 3 (1959); Československý hudební slovník osob a institucí [Tschechoslowakisches Musiklex. Personen und Institutionen], 2 Bde. (1963–65); J. Černý, Soupis hudebních rukopisů muzea v Hradci Králové[Verzeichnis der Musikhandschriften des Museums K.] 1966; J. Černý et al., Hudba v českých dějinách od středověku do nové doby [Die Musik in der Gesch. Böhmens vom Mittelalter bis in die heutige Zeit] 21989; E. Šormová (Hg.), Česká divadla. Encyklopedie divadelních soubor [Tschechische Theater. Enzyklopädie der Theaterensembles] 2000; LdM 2000; Místopis českého amatérského divadla [Topographie des tschechischen Amateurtheaters] 1 (2001); J. Hilmera in J. Bajgarová (Hg.), Vojenská hudba v kultuře a historii českých zemí [Militärmusik in der Kultur und Gesch. der böhmischen Länder] 2007; L. Dvořáková, Český kancionál II A 14 literátského bratrstva v Hradci Králové jako hymnologický pramen [Das tschechische Kantional II A 14 der Literarischen Bruderschaft in K.als hymnologische Quelle], Dipl.arb. Brno 2009; St. Tesař, Kancionál literátského bratrstva při chrámu Svatého Ducha v Hradci Králové sign. II A 1 [Das Kantional der Literarischen Bruderschaft an der Hl. Geist-Kirche in K., Sign. II A 12] 2009: D. Brandenburg et al., Das Wagner-Lex. 2012; Databáze českého amaterského divadla [Datenbank des tschechischen Dilettantentheaters] (www.amaterskedivadlo.cz, 3/2015).

Autor*innen
Vlasta Reittererová
Letzte inhaltliche Änderung
13.4.2015
Empfohlene Zitierweise
Vlasta Reittererová, Art. „Königgrätz (deutsch für tschechisch Hradec Králové)“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 13.4.2015, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00323f0a
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


DOI
10.1553/0x00323f0a
ORTE
Orte
LINKS
ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft

Publikationen zur Musikwissenschaft im Verlag