Während frühere Epochen „alte“ Musik schnell als verzopft oder sogar als nicht hörenswert ansahen (Johannes Tinctoris etwa befand 1477, dass es überhaupt erst seit 40 Jahren eine hörenswerte Musik gebe), ist mit dem Aufkommen des Begriffs „klassisch“ eine hohe Wertschätzung des damit Bezeichneten verbunden, während „klassizistisch“ im Deutschen – im Gegensatz zu zahlreichen anderen Sprachen – sehr oft pejorativ gemeint ist und/oder den Beigeschmack von epigonal, unselbständig oder eklektisch besitzt. Dabei wird vergessen, dass schon in frühen Epochen aus gattungsbedingten oder stilistischen Überlegungen immer wieder „klassizistische“ (vielleicht besser: „historistische“) Elemente eingesetzt werden. Das gilt zunächst v. a. für die Kirchenmusik des 17. und 18. Jh.s, die meist bewusst dem alten Kontrapunkt (und somit der „prima pratica“) huldigt, nur selten hingegen der homophon-deklamatorisch vorgebrachten Affektdarstellung. Dementsprechend richtet auch J. J. Fux seine Gradus ad Parnassum („Schritte zum Parnass“, Wien 1725) am Ideal des kirchlichen Palestrina-Stiles aus, der dann im 19. und 20. Jh. auch den Bestrebungen des Cäcilianismus (und somit Kompositionen von Peter Griesbacher, V. Goller oder J. Lechthaler, ja selbst A. Bruckner) Pate steht, während die Kontrapunktik der „Wiener Klassiker“ eher eine Weiterführung (und kein ideologisch gesteuertes Wiederaufgreifen) barocker Polyphonie darstellt. In gleicher Weise ist das erneute Arbeiten mit Elementen des Gregorianischen Chorals eine Art von K. wie das häufige Zurückgreifen auf polyphone Gattungen und Satzschemata in der Klavier- und Orgelmusik des 18. bis 20. Jh.s oder die Vorliebe für modale Wendungen und Melodiebildungen in der Gegenwart.
Die Gepflogenheit, eine Anlehnung an „klassische“ Gattungen, Strukturen und Stilphänomene als „klassizistisch“ anzusprechen, entwickelt sich Hand in Hand mit der vermehrten Kanonisierung der „Klassik“ im Verlaufe des 19. und frühen 20. Jh. Das zeigt sich auch am Beispiel L. v. Beethovens, der oft als Begründer oder doch zumindest früher Vertreter der Romantik gesehen wird und dessen fallweise stilistische Rückwärtsgewandtheit folglich eine Deutung als „Historismus“ (oder K.) erfährt; hier wird aber übersehen, dass dieser Meister seine „alten“ Stilelemente noch aus erster Hand bezog und diese von seinen Jugendwerken an sein Œuvre latent durchziehen. Ähnliches gilt für den Salieri-Schüler Fr. Schubert, während viele Kompositionen von Felix Mendelssohn Bartholdy oder J. Brahms mit Recht als „klassizistisch“ bezeichnet werden können, wenngleich man sich hier oft vor diesem Begriff scheut und ihn durch das positive „klassisch“ ersetzt.
Im frühen 20. Jh. propagieren dann eine Reihe von Komponisten eine „neue Klassizität“ bzw. „neue Klassik“ als Gegenkonzept gegen die ausufernde Spätromantik, v. a. aber auch, um damit eine Absage an den übersteigerten Subjektivismus sowie an eine allzu komplizierte motivisch-thematische Arbeit zu verbinden. F. Busoni etwa forderte (1920) von der „jungen Klassizität“ „die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente: ihre Hineintragung in feste und schöne Formen“ sowie den Primat der Melodie, eine Forderung, die auch vom französischen „néoclassicisme“ eines Darius Milhaud oder Francis Poulenc sowie von Igor Strawinsky vertreten wird. Ähnliche Tendenzen machen sich aber auch bei Komponisten wie Paul Hindemith und Alfredo Casella sowie partiell bei Claude Debussy, Maurice Ravel, Manuel de Falla, Béla Bartók oder Sergej Prokofjew bemerkbar. In Österreich huldigen (zumindest zeitweise) J. Bittner, E. Wellesz, H. Gál, P. A. Pisk, J. N. David oder E. Krenek dieser Ästhetik. Ein Expressionist wie A. Schönberg kann dieser neuen Entwicklung hingegen nichts abgewinnen, und er schreibt 1925 eine bittere Satire für Chor, Der neue K., in welcher er die Ästhetik dieser Stilrichtung sarkastisch brandmarkt, da er sie als nicht zeitgemäß, als der prononciert fortgeschrittenen Sprache des 20. Jh.s nicht angemessen empfindet. Die Parameter von Form und Gattung allerdings handhaben gerade Schönberg, Alban Berg und A. Webern in oft ausgesprochen „klassizistischer“ Weise.
„(Neo)klassizistische“ Elemente durchdringen auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Œuvres vieler Komponisten, v. a. Werke von (dem Milhaud-Schüler) M. Rubin und F. Wildgans, bisweilen etwa aber auch von K. Schiske oder G. v. Einem, wenngleich dies in den 1950er bis 1970er Jahren von einer gewissen ästhetisierenden Musikerschicht nachgerade verpönt wird. Speziell in den letzten Jahrzehnten, nach dem Ende der Vorherrschaft der an seriellen Techniken ausgerichteten „Darmstädter Schule“ bzw. mit dem Aufkommen der pluralistisch eingestellten „Postmoderne“, entsinnt man sich aber wieder häufiger der Möglichkeit des Einbringens von „alter“ Idiomatik und somit von nicht zuletzt auch bedeutungstragendem „Vokabular“ aus dem Fundus der Musikgeschichte, wodurch das „Sprachvermögen“ der Musik erneut eine sowohl stilistische als auch semantische Verbreiterung erfährt.
E. T. A. Hoffmann in AmZ 16 (1814); A. Fr. J. Thibaut, Über Reinheit der Tonkunst 1824; F. Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst 1907; F. Busoni, Von der Einheit der Musik 1922; L. Finscher in Dt. Jb. f. Musikwiss. 11 (1967); W. Wiora (Hg.), Die Ausbreitung des Historismus über die Musik 1969; MGG 5 (1996); H. Krones in G. Ueding (Hg.), Histor. Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998); R. Flotzinger in G. Gruber (Hg.), Wr. Klassik 2002.