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Kirchenstil
Begriff der auf die verschiedenen Funktionsbereiche von Musik abhebenden Stillehre des 17. und 18. Jh.s; insoweit damit eine bestimmte, auf die Vokalpolyphonie des 16. Jh.s und dabei besonders auf Palestrina zurückgeführte Satzweise, der sog. stile antico, identifiziert wurde, ein bis in das 20. Jh. gültiges Modell der Kontrapunktlehre und der Kirchenkomposition (Kirchenmusik) v. a. im katholischen Bereich.

Eine Reihe von Faktoren trug dazu bei, dass sich seit etwa der Mitte des 16. Jh.s in Italien die Vorstellung einer prinzipiellen Trennung von Kirchen- und weltlicher Musik auszubilden begann (u. a. bei Claudio Morales 1544, Nicola Vicentino 1555, Giaches de Wert 1566, Pietro Pontio 1588): die Entwicklung des Madrigals zu einer eigenen Gesetzen unterliegenden Gattung (deren spezifisches ästhetisches Ideal eines gesteigerten Wort- und später Affektausdrucks in letzter Konsequenz die Durchbrechung kontrapunktischer Satzregeln legitim erscheinen ließ); die Ausdifferenzierung eines Bereichs höfischer Kammermusik mit gehobenem künstlerisch-ästhetischem und sozialem Anspruch; auf den Ausschluss von „Profanem“ gerichtete Bestrebungen zur Reform der Kirchenmusik. Der Durchbruch der „neuen“ monodischen, konzertierenden bzw. auf den Generalbass gestützten Musik um 1600, die das Idiom der traditionellen Vokalpolyphonie nicht verdrängte, und die nochmalige Erweiterung des Spektrums von Aufführungs- und Funktionsbereichen durch das Aufkommen der Oper erzeugten eine „pluralistische“ Situation, auf die in der Musiktheorie mit Klassifikationen reagiert wurde, die auf dem bereits im 16. Jh. aus der Rhetorik in das Musikschrifttum eingesickerten Stil-Begriff beruhten.

Marco Scacchi (nach 1646) entwickelte mit seiner Definition von den drei Funktionsstilen Kirchen-, Kammer- und Theaterstil (stilus ecclesiasticus, cubicularis und scenicus seu theatralis) ein System, das dem Prinzip nach bis zum Ende des 18. Jh.s in Geltung blieb, von den einzelnen Autoren aber auf div. Weise modifiziert, ergänzt und spezifiziert wurde. Schon Scacchi unterschied beim K. näherhin eine Schreibart in der Tradition der Vokalpolyphonie des 16. Jh.s, bei der im Sinne der prima pratticadem perfekten, d. h. regelgetreuen Tonsatz Vorrang vor dem Textausdruck einzuräumen wäre, und ein unter dem Primat des Texts stehendes Komponieren mit modernen Stilelementen (in concerto und in stile misto). A. Kircher 1650 betonte die den einzelnen Stilen jeweils eigene Affektwirkung; der K. würde kraft seiner „majestas“ den Geist „ad res divinas graves et serias“ hinführen. Christoph Bernhard (um 1657), der die Stile anhand der jeweiligen Art des Kontrapunkts definierte, setzte den contrapunctus gravis, der sich durch eine ruhige Bewegung, eine restriktive Dissonanzverwendung und die Herrschaft der „Harmonie“, also des kontrapunktisch strikten Tonsatzes, über den Text auszeichnet, als besonders für die Kirchenmusik geeignete und in der Tradition der „klassischen“ Vokalpolyphonie stehende Satzart mit dem stylus ecclesiasticus bzw. dem stylus antiquus gleich (und vom modernen stylus luxurians ab).

Auf den – vom affektreichen Kammer- und Theaterstil abgehobenen – K. ist die Stillehre von J. J. Fux 1725 konzentriert. Auch Fux unterscheidet zwischen dem (ausdrücklich auf Palestrina bezogenen) stile antico (stylus a Capella oder des vollen Chors) und dem moderneren, konzertierenden und obligate Instrumente verwendenden stylus mixtus. Der prominenten Stellung des stile antico innerhalb der musiktheoretischen Bestimmung des K.s entspricht der doppelte Funktionswandel, dem die aus dem 16. Jh. überkommene vokalpolyphone Musiksprache im 17. Jh. unterlag: Einerseits hatte sie sich im Bereich der Kirchenkomposition halten können, nicht zuletzt dank der liturgischen Vorschrift, wonach in der Advent- und Fastenzeit auf (obligate) Instrumente zu verzichten sei; andererseits etablierte sich der stile antico (neben und im Unterschied zur Generalbasslehre) als das wesentliche Modell der Kontrapunktlehre.

Zu den Zentren der theoretischen und praktischen Pflege des stile antico zählte im 17. und 18. Jh. neben Rom und Bologna (G. B. Martini) Wien. Institutionelle Grundlage dafür war die liturgisch-musikalische Ordnung der Hofkapelle, in der zu einer Reihe von Zeiten bzw. Anlässen im Kirchenjahr rein vokal besetzte Musik in contrapunto zu erklingen hatte, was eine Pflege von Repertoire aus dem 16. Jh. und Neukompositionen im stile antico (u. a. Fux, A. Caldara, M A. Ziani) nach sich zog. Fux legte mit seinen Gradus ad parnassum ein auf dem stile antico beruhendes Kontrapunkt-Lehrbuch vor, das durch seine tiefgehende und langanhaltende Wirkung entscheidend zur herausragenden Rolle beitrug, die der „strenge Palestrina-Stil“ bis in die jüngste Zeit in der Musiklehre spielt. In der kompositorischen Praxis des 17. und 18. Jh.s wurde die den alten Stil weiterführende vokale Kirchenmusik mehr oder weniger stark von Prinzipien oder Elementen der modernen Musiksprache erfasst (Generalbass-mäßige bzw. akkordische Satzauffassung, regelmäßige metrische Schwerpunkte im Sinne des Akzentstufentakts, periodische bzw. auf rhythmisch-motivischer Korrespondenz beruhende Melodiebildung). Umgekehrt strahlte der stile antico auf nicht-kirchliche bzw. instrumentale Gattungen aus (wie z. B. das Ricercar oder die Kirchensonate). Vor dem Hintergrund dieser weiter reichenden Geltung des stile antico und seines besonderen Stellenwerts in der Wiener Musikkultur erklären sich auch seine nicht unbedeutenden indirekten wie direkten Wirkungen auf die Musik der Wiener Klassik.

Historismus und frühromantische Musikästhetik lösten eine erneute Beschäftigung mit der (nunmehr teilweise zum Inbegriff von Kirchenmusik schlechthin erhobenen) Vokalpolyphonie des 16. Jh.s und dabei besonders der Musik Palestrinas aus und waren damit Ausgangspunkt für kirchenmusikalische Reformbewegungen wie den Cäcilianismus bzw. eine Produktion liturgischer Musik, die auf den „alten Kirchenstil“ rekurrierte (u. a. auch bei F. Liszt und A. Bruckner).


Literatur
MGG 8 (1998) [Stil]; NGroveD 24 (2001) [stile antico]; E. Katz, Die musikalischen Stilbegriffe des 17. Jh.s 1926; K. G. Fellerer (Hg.), Gesch. der katholischen Kirchenmusik 2 (1976); F. W. Riedel, Kirchenmusik am Hofe Karls VI. (1711–1740), 1977; F. A. Gallo et al., Italienische Musiktheorie im 16. und 17. Jh. 1989; J. Garratt, Palestrina and the German romantic imagination 2002.

Autor*innen
Markus Grassl
Letzte inhaltliche Änderung
25.4.2003
Empfohlene Zitierweise
Markus Grassl, Art. „Kirchenstil‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 25.4.2003, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d460
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