Die nach 1900 explosionsartige Verbreitung der Rhythmusbewegung von J.-D. sowohl in kulturelle als auch pädagogische Bereiche erklärt sich aus der Tatsache, dass die von ihm entwickelte „Rhythmische Gymnastik“ die Forderung nach einer Vereinigung von Musik und Bewegung einlöste, die nicht nur Teil von Lebensreformbestrebungen, sondern auch des Theaters gewesen war. Hatten sich die Forderungen aus Ermangelung einer verfügbaren Körpertechnik in theoretischen Formulierungen erschöpft, so war durch die Rhythmische Gymnastik die gewünschte Verquickung tatsächlich körperlich möglich geworden. J.-D. hatte seine Methode am Genfer Konservatorium zu entwickeln begonnen. Diese war dann in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden/D in dem für ihn eigens errichteten Institut für angewandten Rhythmus (Architekt: Heinrich v. Tessenow) derart weitergeführt worden, dass die Namen des Schöpfers und des Ortes 1911–14 zentrale Bedeutung für das geistige und gesellschaftliche Europa erlangten (s. Abb.). Da die Rhythmusbewegung mit ihrer angewandten Körperlichkeit ein echtes Bedürfnis der Zeit zu befriedigen vermochte, strahlte sie von Hellerau aus nicht nur in die Welt, sondern bahnte sich auch über die Jahre hin und zum Teil bereits losgelöst von J.-D. eigene Wege. Als „Rhythmik“ fand das Gedankengut J.-D.s sowohl Eingang in Musikpädagogik (Musikausbildung) wie in therapeutische Arbeit, als „technische“ Basis wurde es zunächst in ursprünglicher, sehr schnell in individuell veränderter Gestalt eine körperliche Grundlage für den sich zu dieser Zeit formierenden Ausdruckstanz.
Wien gibt Zeugnis für diese Entwicklung. Schon 1912 eröffneten die Hellerauer Pädagogen Eduard Favre und Suzanne Perrottet eine Zweiganstalt in Wien, 1913 brachte Perrottet mit ihrer Choreographie des Tannhäuser-Bacchanals für die Wiener Hofoper erstmals eine auf J.-D. basierende Realisation auf die Bühne. 1925 etablierte sich in Laxenburg das Nachfolge-Institut Hellerau-Laxenburg, das sich, mit verändertem Lehrangebot und mit R. Chladek als wesentlichster künstlerischer und pädagogischer Persönlichkeit zu einem europäischen Zentrum des Ausdruckstanzes entwickelte. Das Institut wurde 1939 geschlossen, Chladek führte ihre Arbeit am Konservatorium der Stadt Wien und an der Akademie für Musik und darstellende Kunst weiter. Die weltweit angebotene Arbeit Chladeks ist heute Basis der Abteilung für Pädagogik für Modernen Tanz am Konservatorium der Stadt Wien, die Rhythmik ist in allen wichtigen pädagogischen Institutionen fest verankert.
Offizier der französischen Ehrenlegion 1929; Genfer Musikpreis 1947; Dr. h. c. mult.
Bühnenwerke, Orchestermusik, Oratorien u. Kantaten, über 1.000 Lieder.
Erster Teil. Rhythmische Gymnastik 1907; Méthode J.-D. Die Rhythmik. Unterricht zur Entwicklung des rhythmischen und metrischen Instinktes, des Sinnes der plastischen Harmonie, des Gleichgewichts der Bewegungen und zur Regulierung der Bewegungsgewohnheiten, 2 Bde. 1916/17; Rhythmus, Musik, Erziehung 1921.
E. Feudel (Hg.), Rhythmik. Theorie und Praxis der körperlich-musikalischen Erziehung 1926; F. Martin et al. (Hg.), É. J.-D. L’homme, le compositeur, le créateur de la rhythmique 1965; G. Giertz, Kultus ohne Götter. É. J.-D. und Adolphe Appia. Der Versuch einer Theaterrefom auf der Grundlage der Rhythmischen Gymnastik 1975; H. Tervooren, Die rhythmisch-musikalische Erziehung im ersten Drittel unseres Jh.s 1987; G. Oberzaucher-Schüller (Hg.), Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jh.s 1992; J. Gobbert/K. Lorenz, Wege nach Hellerau 1994; G. Oberzaucher-Schüller/I. Giel, Rosalia Chladek. Klassikerin des bewegten Ausdrucks 2002; MGG 9 (2003); NGroveD 12 (2001); NDB 10 (1974); Die Presse 7.5.2018, 19; Taufbuch 1860–68 der Evangelischen Gemeinde H. B. Wien I, fol. 114; R. Puskás in Historisches Lex. der Schweiz (HLS, Version 10.3.2010); https://de.wikipedia.org/ (5/2018); www.geschichtewiki.wien.gv.at (6/2023); eigene Recherchen (Jahresberichte des Konservatoriums der GdM 1887–89).
Christian Fastl