Die im 15. Jh. an der Spitze der Gattungshierarchie stehende Ordinariumsvertonung nimmt mit 36 erhaltenen Werken auch in I.s Œuvre einen zentralen Platz ein. Zeitüblich ist die Verwendung von liturgischen Gesängen, polyphonen Chansons oder volksläufigen Melodien als c. f.-Grundlage. Der internationalen Tendenz in der Messenkomposition um 1500 entspricht weiterhin die (mitunter auch simultane) Verarbeitung mehrerer c. f. (u. a. in der insgesamt neun Liedweisen zitierenden Missa carminum, die zugleich aber in einer zentraleuropäischen Tradition von „Liedermessen“ steht), die sog. Parodie (bei der ein präexistenter mehrstimmiger Satz dem Messzyklus zugrunde liegt), die Technik des durch die Stimmen wandernden c. f., schließlich – v. a. in I.s. späteren Werken – der zunehmende Einsatz von Imitation und die Neigung zu einer syllabischen bzw. deklamatorischen Melodieführung. I. teilt mit einigen seiner Zeitgenossen eine Vorliebe für Ostinati und Sequenzbildungen (die bei ihm auch in Motetten und Liedsätzen eine große Rolle spielen), während er „Konstruktivismen“ wie die mensural transformierte oder krebsgängige c. f.-Präsentation eher zurückhaltend einsetzt. Ein Spezifikum bilden jene mit der kaiserlichen Kapelle in Verbindung zu bringenden 20 Messen, deren Sätze auf den entsprechenden liturgischen Gesängen des Ordinarium missae beruhen, und von denen 19 für eine alternatim-Aufführung gedacht sind (die in einer Quelle verwendete Bezeichnung „missae ad organum“ lässt auf ein Abwechseln mit der Orgel schließen). I. knüpft dabei an eine v. a. in Mitteleuropa verbreitete Tradition von (in der Regel einzelnen) Messensätzen über den betreffenden Choral an, hebt aber mit seinem umfangreichen Corpus von groß angelegten Ordinariumszyklen diesen bis dahin eher peripheren Typus ästhetisch wie kompositionstechnisch auf ein neues Niveau.
I.s. Nachruhm aber beruht in erheblichem Maß auf jener Sammlung von insgesamt 99 Propriumszyklen, die 1550/55 unter dem Titel Choralis Constantinus in drei Teilen im Druck erschienen. Die in Teil II enthaltenen Stücke entstanden 1508/09 auf Bestellung des Domkapitels von Konstanz. Die Kompositionen in Teil I und III waren nach herrschender Ansicht z. T. für die kaiserliche Kapelle bestimmt, es wird sogar ein Auftrag Maximilians für ein das ganze Kirchenjahr umfassendes Proprienwerk vermutet und dieses (von I. nicht vollendete) Gesamtprojekt mit anderen Monumentalunternehmungen Maximilians (Triumphzug, Weißkunig etc.) in Zusammenhang gebracht. Die endgültige Vervollständigung und Zusammenstellung zu einem geschlossenen Zyklus erfolgte durch seinen Schüler L. Senfl. Wie in den Alternatim-Messen liegt den einzelnen Sätzen die liturgisch entsprechende Choralmelodie zugrunde, dabei werden diverse Möglichkeiten des Umgangs mit einem cantus prius factus vorgeführt. Auch der Choralis Constantinus knüpft an eine Tradition des zentraleuropäischen Raums an, in dem die Produktion choralgebundener Propriumsvertonungen während der 2. Hälfte des 15. Jh.s unvermindert angehalten hatte.
I.s. Motetten (worunter die übrigen, mehr als 50 lateinischsprachigen Stücke zu verstehen sind) bieten stilistisch, satztechnisch und funktional ein vielfältiges Bild. Es finden sich liturgische und Kasualkompositionen, c. f.-freie und c. f.-gebundene Werke verschiedenen Zuschnitts (darunter auch noch mehrtextige Tenormotetten mit Fremd-c. f.), polyphone, auf Imitation beruhende und mehr homophon gehaltene, den Text deklamierende Sätze.
I.s Liedschaffen reflektiert die um 1500 einsetzende regionale Diversifizierung auf dem Gebiet der volkssprachigen Mehrstimmigkeit. Es umfasst am internationalen franko-flämischen Stil orientierte französischsprachige Chansons, an norditalienische Formen (Frottola, canto carnaleschio u. ä.) anknüpfende italienischsprachige Sätze und deutschsprachige sog. Tenorlieder (Gesellschaftslied). Wie keine andere Komposition des 15. Jh.s hat der Liedsatz Innsbruck, ich muß dich lassen (s. Tbsp.; ob auch die Melodie von I. stammt, ist ungewiss) eine kontinuierliche, breite und vielschichtige Rezeption erfahren.
Von I. sind einige textlose Stücke erhalten, die in ihrer Faktur der Motette oder dem Liedsatz ähneln, aber unabhängig von einem Sprachtext konzipiert worden sein dürften. Sie repräsentieren damit einen bei den Franko-Flamen um 1500 aufkommenden Kompositionstyp, der eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der komponierten Instrumentalmusik darstellt.
I. wurde schon von den Zeitgenossen zu den bedeutendsten Musikern der Ära Josquin Desprez’ gerechnet. Von seinem Renommee zeugt auch die reiche, noch Jahrzehnte nach seinem Tod anhaltende Werküberlieferung. Von der älteren Forschung wurde I., der für Mitteleuropa typische Genres, insbesondere das „deutsche“ Gesellschaftslied aufgegriffen hat, teilweise in nationalistischer Absicht zu einem frühen Großmeister der (je nachdem) deutschen oder österreichischen Musiktradition hochstilisiert. Auch die damit verbundene Ansicht, vor I. hätte „Deutschland“ keine nennenswerte Rolle auf dem Gebiet der Vokalpolyphonie gespielt, kann so nicht aufrecht erhalten werden. Unstrittig ist aber der bedeutende Beitrag, den I. zur endgültigen und dauerhaften Etablierung einer dem entwickelten internationalen Standard entsprechenden artifiziellen Mehrstimmigkeit im österreichischen Raum geleistet hat.
Ausgaben: Henrici Isaac Opera omnia, hg. v. E. R. Lerner (= CMM 65), 1974ff.; DTÖ 28 (1907, Weltliche Werke, hg. v. J. Wolf); DTÖ 10 (1898, Choralis Constantinus I, hg. v. E. Bezecny u. W. Rabl); DTÖ 32 (1909, Choralis Constantinus II, hg. v. A. v. Webern); Choralis Constantinus III, hg. v. L. Cuyler 1950.
NGroveD 9 (1980) u. 12 (2001); G.-R. Pätzig, Liturgische Grundlagen und hs. Überlieferung von H. I.s „Choralis Constantinus“, Diss. Tübingen 1956; M. Just, Studien zu H. I.s Motetten, Diss. Tübingen 1960; M. Staehelin, Die Messen H. I.s 1977; F. Heidelberger et al. (Hg.), [Fs.] M. Just 1991; M. Picker, Henricus I. A Guide to Research 1991; W. Salmen/R. Gstrein (Hg.), H. I. und Paul Hofhaimer im Umfeld von Kaiser Maximilian I. 1997; E. C. Kempson, The Motets of Henricus I. Transmission, Structure and Function, Diss. London 1998; T. R. Ward in R. Strohm/B. J. Blackburn (Hg.), Music as Concept and Practice in the Late Middle Ages 2001.