Identität, Identifizierung
Begriff der (Entwicklungs-)Psychologie (nach lat.
idem = gleich) für Übereinstimmung mit sich selbst oder der Gruppe, der man sich langfristig bzw. „eigentlich“ zugehörig fühlt; davon abgeleitet auch Ausdruck für das (Selbst-)Verständnis als selbständige Einheit im Allgemeinen, schließlich auch für ein (unter Umständen bloß vorübergehendes) Zusammengehörigkeitsgefühl im Besonderen (z. B.
I.ierung mit einem bestimmten Aspekt eines Kunstwerkes bei dessen Rezeption). Seit in Gesellschaften professionelle
Musiker als solche anerkannt sind, wurde und wird neben der Sprache und anderen Momenten auch die Musik zur
I.tätsbildung von Individuen, Gruppen, Gesellschaftsschichten, Staaten usw. eingesetzt, können einzelne Lieder oder Musikstücke nicht nur als Besitz angesehen, sondern durch ihren Gebrauch zu
I.tät stützenden oder gar schaffenden werden, so z. B. der sog. Gregorianische
Choral für die katholische und der
protestantische Choral für die evangelisch-lutherische Kirche; ebenso sollten oft
Intraden (in Analogie zu den an den Instrumenten von Herolden angebrachten Wimpeln) als gewissermaßen musikalische Standarten bestimmter Städte, Würdenträger usw. wirken; des weiteren kann man die Pflege gewisser
Tänze durch bestimmte Gruppen (z. B.
Adel Menuett, Bauern
Ländler, Handwerker
Schwerttanz, Schiffer
Linzer Geiger) oder den Besitzanspruch von Auftraggebern an Kompositionen, aber auch die komponierenden österreichischen Kaiser (
Ferdinand II.,
Leopld I.,
Joseph I.,
Habsburger) unter diesem Blickwinkel betrachten; ebenso die Erkenntnis, wie stark große Teile des neueren Musiklebens tatsächlich
„bürgerlich“ geprägt sind (
Musikverein); die Vereinnahmung und Pflege von
Volksliedern durch patriotische oder nationalistische Ideologien ab dem späteren 19. Jh.; bestimmte Lieder für einzelne Gruppen (z. B. Jugend- oder Berufsgruppen, politische Parteien); sog. Burschenstrophen von Liedern studentischer Verbindungen (
Studentenmusik); zahlreiche
Klischees (z. B.
Musikland) für das heutige
Österreich; der Gebrauch und zuletzt sogar die gesetzliche Festlegung von
Hymnen seit dem späten 18. Jh.; die Bezeichnung des
Donauwalzers von
J. Strauss Sohn als „heimliche“ oder „zweite Hymne Österreichs“ (s.
Abb.) und vieles Andere mehr. Besonders die letztgenannten Erscheinungen haben offensichtlich auch etwas mit kollektivem Verständnis zu tun. Unzulässig ist allerdings, davon auf besondere Begabungen (in diesem Fall gar „der“ Österreicher) zu schließen; allenfalls könnte von einer besonderen Rolle von Musik und Theater im öffentlichen Diskurs hierzulande gesprochen werden.
Eine spezifische Form von I.ierung von außen sind zahlreiche Herkunftsbezeichnungen von Tänzen (Steirischer, Bayrisch-Polka, Steieregger) und Tanzmusikern (Linzer Geiger). An die Grenze zwischen I.ierung und Vereinnahmung (damit zu Unzulässigkeit) führen z. B. Bezeichnungen wie des Walzers oder der Klassik(er) speziell als „Wiener“. Waren schon in der 2. Hälfte des 19. Jh.s zahlreiche patriotische Lieder zum Zwecke verstärkter I.ierung mit dem Staat geschaffen worden (Bundeshymne), wurden v. a. in der Ersten Republik aus der Musikgeschichte eine Reihe von Argumenten für die Bestimmung des sog. „österreichischen Menschen“ gezogen und auch in der Zweiten Republik wird z. B. das Schlagwort „Musikland Österreich“ in Politik und Werbung gerne verwendet. Am häufigsten zur I.ierung mit Österreich herangezogen werden (d. h. gewissermaßen als besonders „österreichisch“ gelten) Komponisten wie Fr. Schubert und A. Bruckner, die Wiener Philharmoniker (als „Botschafter“ Österreichs), das Neujahrskonzert (als „Visitenkarte“ Österreichs) oder der Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Wiener Staatsoper. Insofern lassen sich dadurch selbstverständlich zwar keine historisch gleichbleibenden I.ierungs-Muster konstruieren, doch stecken jeweils vergleichbare Mechanismen dahinter.
Starken Anteil an diesen Vorstellungen hat die keineswegs nur triviale Überzeugung, dass Musik nicht nur „etwas ausdrücken“, sondern auch „bewirken“ kann Musikpsychologie). Da gemeinsames Musizieren gewisse Übereinstimmungen (Absicht, Tonsystem, Stimmung, Harmonie, Rhythmus usw.) sowie mehr oder weniger starke gegenseitige Bezug- und Rücksichtnahme der Beteiligten voraussetzt, können die durch die gemeinsame Tätigkeit verstärkten I.ierungs-Gefühle als von der Musik ausgelöst empfunden werden. Ebenso ist bei der Wirksamkeit von Antagonismen in neuerer Zeit (Alternativszene, Austro-Pop, Rock und Pop) eine gewisse Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichen Grundmustern und musikalischen Momenten (z. B. Aggressivität und Lautstärke) feststellbar (Musiksoziologie). Verständlicherweise sind diesbezüglich jedoch keine österreichischen Eigenheiten feststellbar. Tatsache ist aber auch, dass die Musik im allgemeinen und die sog. klassische (im Sinne von Kunst) im besonderen in allen jüngeren sozialwissenschaftlichen Erhebungen zum österreichischen Nationalbewusstsein eine herausragende Rolle spielt und diese vom Ausland anerkannt wird.
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30.3.2022
Rudolf Flotzinger,
Art. „Identität, Identifizierung“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
30.3.2022, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d280
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