Logo ACDH-CH
OeML Schriftzug
Logo OeML
Logo Verlag

Harmonikale Forschung
Erforschung der in der Kulturgeschichte weit verbreiteten Vorstellungen von Harmonie und Ordnung in den Dingen im Wandel der Epochen. Sowohl griech. αρμονία als auch lat. ordo haben einen tieferen Sinn im Auge, der im Zusammenspiel von Einzelheiten auf verschiedenen Ebenen des Makro- und Mikrokosmos zum Ausdruck komme und v. a. durch Zahlen(proportionen) für konkretisierbar gehalten wird. So hat z. B. der griech. Philosoph Pythagoras († ca. 500 v. Chr.) und seine Schule nach den letzten Geheimnissen der Welt in den Zahlen gesucht, auch Platon († 347 v. Chr.) in diese Richtung gedacht, und die Überzeugung, dass Gott „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ habe, im Buch der Weisheit (2. Jh. v. Chr.) des Alten Testaments eine äußerst wirksame Formulierung gefunden. In dieser Tradition steht (und noch nicht als Analogie zur Musik zu verstehen ist) daher, wenn man z. B. von einer „harmonischen“ Landschaft, Ehe usw. spricht, „Harmonie“ im musikalischen Sinn (Harmonielehre) repräsentiert lediglich einen speziellen Anwendungsfall des allgemeineren Harmonie-Begriffs (des „Zusammenpassens“). Solche Vorstellungen haben das Denken von Gelehrten und Künstlern des Abendlandes immer wieder beflügelt, z. B. wenn versucht wurde, die Schönheit von Bauwerken durch bestimmte Proportionen zu begründen (Leon Battista Alberti, † 1472) oder Werken der Dicht- wie der Tonkunst durch unterschiedliche Zahlensymboliken oder -reihen (z. B. die des Mathematikers Leonardo Fibonacci, † n. 1240) eine zusätzliche Dimension zu verleihen oder Formeinschnitte (z. B. dem sog. „Goldenen Schnitt“ entsprechend) abzusichern.

Meist wird dabei – was ja sonst nur selten geschieht – der Musik eine besondere Rolle zugeschrieben, u. zw. aufgrund der Tatsache, dass die Schwingungszahlen der auch in der sog. Naturtonreihe der Obertöne vorzufindenden Intervalle einfachen Zahlenverhältnissen (2:1 Oktav, 3:2 Quint, 4:3 Quart usw.) entsprechen. So wird gelegentlich die Musik überhaupt als „klingende Mathematik“ verstanden (was jedoch nicht mehr als eine Metapher sein könnte) oder gibt man den besagten Verhältnissen einfach die Namen der betreffenden Intervalle und begreift danach gebaute Architektur als „Stein gewordene Musik“ (was schon deshalb unzulässig ist, weil bestenfalls vorhandene Analogien kurzschlüssig zu Identifizierungen werden). Es ist daher nur zu verständlich, dass – zumal seit der Aufklärung – zunehmend Widersprüche gegen derart hermetische und esoterische Krypto-Traditionen zu beobachten sind und dem so geforderten „Glauben“ an nur Eingeweihten „ent-deckte“ Geheimnisse dieser Art oft ebenso vehemente Ablehnung gegentritt, ob nun allein aufgrund mangelnder rationaler Rechtfertigung oder wegen allzu überzogener Spekulationen. Es gilt jedoch z. B. als weitgehend unbestritten, dass uralte Vorstellungen von der „Harmonie der Sphären“ (wiederum: weniger naiv als Klingen der Gestirne verstanden, sondern als klagloses Ineinandergreifen ihrer Bahnen) bei der Entdeckung der Planetengesetze durch J. Kepler (Harmonices mundi 1619) eine Rolle gespielt haben. Ebenso sind mit der gebotenen Zurückhaltung und seriösen Methodik verschiedenste Dimensionen dieser Art in Werken österreichischer Komponisten von J. J. Fux über F. Liszt, A. Bruckner, A. Schönberg und Alban Berg bis G. Ligeti u. a. festzustellen.

Aufbauend auf einschlägige Arbeiten des Freiherrn Albert v. Thimus (1806–78) und von Hans Kayser (1891–1964) wurde 1967 durch Rudolf Haase (* 12.2.1920 Halle an der Saale/D) an der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst ein „Hans-Kayser-Institut für harmonikale Grundlagenforschung“ gegründet, das als einziges dieser Art als „Internationales Harmonik-Zentrum“ weitergeführt wird (2002).


Literatur
A. Frh. v. Thimus, Die harmonikale Symbolik des Alterthums, 2 Bde. 1868/76; H. Kayser, Die Harmonie der Welt 1968; AGMÖ (Hg.), Forschung an Österreichs Musikhochschulen 1973; P. v. Naredi-Rainer, Architektur und Harmonie 1982; H. Meyer, Zahlenallegorese im Mittelalter 1975; MGG 9 (1998) [Zahlensymbolik]; W. Schulze (Hg.), Harmonikales Denken 1 (1999), 2 (2001).

Autor*innen
Rudolf Flotzinger
Letzte inhaltliche Änderung
25.4.2003
Empfohlene Zitierweise
Rudolf Flotzinger, Art. „Harmonikale Forschung‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 25.4.2003, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d084
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.