Harmonika-Instrumente
Instrumente, bei denen für die Tonerzeugung die durchschlagende Zunge eingesetzt wird (ursprüngliche Trägerin der Bezeichnung
H. war allerdings die
Glasharmonika). Offensichtlich von den Mitteilungen über die chinesische Mundorgel bei Jean Joseph Marie Amiot und Jean-Benjamin de La Borde (1779 und 1780) angeregt, kommt es zur Einführung der durchschlagenden Zunge als Register in der Orgel und zur Ausbildung selbständiger Musikinstrumente, zur Hand- oder
Ziehharmonika und zur
Mundharmonika einerseits und zum Harmonium andererseits. Möglicherweise hat
J. N. Mälzel den Erfindergeist französischer Instrumentenmacher (Gabrie-Joseph Grenié, Sébastien Erard) beflügelt, als er 1807 in Paris sein
Panharmonikon ausstellte, das er mit mehreren Durchschlagzungenregistern ausgestattet hatte. Neben Bernhard Eschenbach in
Deutschland, der gegen 1820 seine
Äoline entwickelte, treten v. a.
Wiener Hersteller mit wesentlichen Weiterentwicklungen hervor. Auf dem Weg zum späteren Harmonium ist hier
A. Häckels Physharmonika anzutreffen, die er 1818 erfunden haben soll. Bereits 1821 wird gemeldet, dass die
Physharmonika nicht nur als Standinstrument, sondern auch als tragbares Kleininstrument gebaut wurde. 1824 erhielt Anton Reinlein ein Privilegium auf
„die Verfertigung der Harmonika auf chinesische Art“. Diese Instrumente hatten die Nachteile der langsamen Tonansprache und der Unstabilität des Klanges, die Eschenbachs Äoline nachgesagt wurden, überwunden. Von reisenden
Virtuosen propagiert, wurden beide Instrumente rasch in ganz Europa populär. Auf Häckel ist auch die Übernahme der Bezeichnung
Harmonika (von der Glasharmonika) in den Namen des neuen Instrumententyps zurückzuführen, vielleicht auch in Anlehnung an Mälzels berühmtes
Panharmonikon. Die
Physharmonika hielt sich in Wien noch lange, bis in die 1870er Jahre firmieren
J. F. Deutschmann und Johann Friemel als
„Physharmonika-Fabrikanten“, bevor das
Harmonium den älteren Typus verdrängte und in der k. u. k. Hof-Harmonium-Fabrik
T. Kotykiewicz Österreich-Ungarns prominentesten Erzeuger fand.
Nach der Hand-Äoline von Friedrich Buschmann (Berlin 1822; nach Luck ist jedoch nicht nur das Datum der Erfindung fraglich, sondern dürfte das Instrument auch mit einer Ziehharmonika noch nichts gemein gehabt haben und kann es daher nicht als Vorläufer der späteren Akkordeons angesehen werden) prägte auf dem Gebiet der Handharmonikas der Wiener Hersteller C. Demian
Accordion – so genannt, weil durch Tastendruck Begleitakkorde aktiviert werden – die gesamte weitere Entwicklung. Innerhalb kürzester Zeit sind nicht nur zahlreiche Modelle auf dem Markt, auch der Produktionsumfang wächst schnell: um die Mitte des 19. Jh.s sind 236 Harmonikamacher in Wien tätig. Nach Graf ist sowohl das „Deutsche Modell“ als auch das „Wiener Modell“ auf die Entwicklungen in Wien zurückzuführen. Als spezielle Form ist die steirische Harmonika, ein diatonisches Instrument, zu nennen, das bis heute historische Bauelemente beibehalten hat. Um 1850 soll von Franz Walther in Wien die erste Knopfgriffharmonika mit chromatischer Diskantseite gebaut worden sein, sie ist als Schrammelharmonika noch in Verwendung. Die Einführung der Klaviatur wird u. a. Matthäus Bauer aus Wien zugeschrieben, der 1854 eine Clavierharmonika vorstellte.
Die H. wurden in Wien schon bald auch für automatisches Spiel eingerichtet. Die AmZ meldet 1834, dass beim Katharinenballfest von Musikdirektor J. Strauss
„eine selbstspielende Physharmonika“ als Preis eines Ratespiels zu gewinnen war, und nach dem Bericht über die 1839 in Wien abgehaltene zweite allgemeine österreichische Gewerbs-Producten-Ausstellung stellte Anton Wiest Instrumente „eigener Erfindung“ vor, „Melodium genannt, deren Ton jenem der Physharmonika gleich kommt, die aber nicht bloß mit Walzen spielen, sondern auch mit einer Claviatur versehen sind“. Noch 1889 bot Phillip de Ponti (R. Deponti) Damen-Tische an, die wahlweise über eine Klaviatur oder mit Stiftwalzen zu spielen waren. Die Melodion oder Melodeon genannten einfachen Zungendrehorgeln hatten 5 oder 6 Melodien auf ihrer Walze und wurden in Wien bis zum Ende des 19. Jh.s von Josef Janisch, J. Friemel, Karl Schidlo, Ph. de Ponti u. a. gebaut (s. Abb.). Größere Instrumente mit bis zu 8 Stücken auf der Walze nannte man Meloton. Eine industriemäßige Fertigung von Zungendrehorgeln (Ariston, Manopan etc.) etablierte sich Ende des 19. Jh.s in Deutschland und verdrängte die heimischen Instrumente fast gänzlich. (Anmerkung zur Terminologie: Melodeon wurde in Amerika das frühe Harmonium genannt, später die Ziehharmonika, die nicht mit Tasten, sondern mit Knöpfen ausgestattet ist; in Deutschland und Österreich versteht man unter Melodeon auch die Schoßgeige bzw. Streichzither.)
MGG 4 (1996); NGroveD 10 (2001) [Harmonica]; H. Buschmann, Christian Friedrich Ludwig Buschmann, der Erfinder der Mund- und der HandharmonikaHeinrich Buschmann, Christian Friedrich Ludwig Buschmann der Erfinder der Mund- und Handharmonika. Ein Beitrag zur Geschichte dieser Musikinstrumente mit Benutzung des Familienarchivs des Enkels Ludwig Buschmann, Instrumentenbauer in Hamburg. Trossingen 1938. 1938; H.-P. Graf, Entwicklungen einer Instrumentenfamilie: Der Standardisierungsprozeß des AkkordeonsHans Peter Graf, Entwicklungen einer Instrumentenfamilie. Der Standardisierungsprozeß des Akkordeons (Europäische Hochschulschriften / European University Studies / Publications Universitaires Européennes 175). Wien 1998. 1998; H. Luck, Die Balginstrumente. Ihre historische Entwicklung bis 1945,Hans Luck, Die Balginstrumente. Ihre historische Entwicklung bis 1945 (Schriften zur Akkordeonistik 5). München 1997. 1997; A. Mauerhofer in Studia instrumentorum musicae popularisAlois Mauerhofer, Zur Ergologie der Steirischen Harmonika, in Studia instrumentorum musicae popularis 7 (1981), 169–179. 7 (1981); Hopfner 1999; C. F. Pohl, Zur Gesch. der GlasharmonikaCarl Ferdinand Pohl, Londoner Industrie-Ausstellung. Zur Geschichte der Glas-Harmonica. Wien 1862. 1862; Zs. für InstrumentenbauDas Geheimnis der Glasharmonika, in Zeitschrift für Instrumentenbau 40 (1919/20), 207f.. 40 (1919/20), 207f.; K. L. Röllig, Über die HarmonikaKarl Leopold Röllig, Über die Harmonika. Ein Fragment. Berlin 1787. 1787; F. K. Bartl, Nachrichten von der HarmonikaFranz Konrad Bartl, Nachrichten von der Harmonika. Prag 1796. 1796; F. K. Bartl, Abhandlung von der TastenharmonikaFranz Konrad Bartl, Abhandlung von der Tastenharmonika. Olmütz 1798. 1798; W. Maurer, AccordionWalter Maurer, Accordion. Handbuch eines Instruments, seiner historischen Entwicklung und seiner Literatur. Wien 1983. 1983.
22.3.2022
Helmut Kowar,
Art. „Harmonika-Instrumente“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
22.3.2022, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x00027708
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