Gebrauchsmusik
In der Geschichte der Menschheit erscheint Musik über Jahrtausende hinweg als Gebrauchsgegenstand. In den Naturvolk- ebenso wie in den Alten Hochkulturen ist Musik nur im Zusammenhang mit lebenswichtigen Vollzügen des Alltags vorstellbar: In der Kulthandlung, im politischen Zeremoniell, in der Medizin, während körperlicher und geistiger Arbeit, zur Bestätigung von Rechtshandlungen; das
Jubilare sine verbis und die Musik der Engel begleiten den himmlischen Reigen, während alle weltliche Tanzmusik als Musik des Teufels verworfen wird. Musik gilt als schön, wenn sie die intendierte Wirkung erzielt. In Ansätzen beginnt Musik sich seit der abendländischen
Renaissance von dieser Funktionsästhetik (
funktionale Musik,
Ästhetik,
Musikästhetik) zu befreien. Doch erst Immanuel Kant definiert Kunst als einen Gegenstand des zweck- und interesselosen Wohlgefallens. Zeitlich versetzt überträgt
E. Hanslick um die Mitte des 19. Jh.s in
Wien diese Autonomie-Ästhetik auf das musikalisch Schöne. In der
Bürgerlichen Musikkultur gerät das
absolute Tonkunstwerk (L’art pour l’art) zur bestimmenden Ideologie.
Geistliche und weltliche sowie parteipolitisch unterschiedlich gefärbte Jugendbewegungen kehren im Anschluss an Hans Breuers
Zupfgeigenhansl (1909), v. a. aber in den darauf folgenden 1920er Jahren im Kreis um Paul Hindemith z. T. als Protest gegen die Esoterik zeitgenössischer Tonkunst zu einer Musik zurück, deren gemeinschaftsbildende und gesellschaftsverändernde Kraft wieder gesucht und bewusst eingesetzt wird. Hindemith lädt seine Komponistenkollegen ein, für Männer- und gemischte Chöre sowie für Blasorchester neue Werke zu schreiben, die der Musikalität und dem technischen Können des großen und wichtigen Potentials von Musikamateuren angemessen sein sollten, – und er bringt solche Werke (u. a. von H. Gál, E. Krenek, E. Toch, Ernst Pepping) 1925 und 1926 in Donaueschingen/D zur Aufführung. Man macht wieder Gebrauch von den anthropologischen und soziologischen Wirkmöglichkeiten der Klänge, der Melodien und Rhythmen, und so entsteht der neue Begriff von G., eine Bewegung, die bald auch Österreich erfasst. V. a. Walter Hensels Finkensteiner Bund findet Anhänger unter den in der Nachfolge J. Pommers aktiven Volksliedpflegern, wie A. Anderluh (mit den Turnersee-Singwochen, in denen die jugendbewegte Idee am stärksten und längsten in Österreich fixiert blieb), H. Commenda, V. Korda, G. Kotek, K. Liebleitner, R. Zoder.
An der Universität und an der Lehrerbildungsanstalt in Innsbruck (W. Ehmann, O. Ulf) sowie am Konservatorium und an der HSch. für Musikerziehung in Graz (W. Kolneder, F. Kelbetz, F. Oberborbeck, W. Wünsch) wird die neue Form der Haus- und Spielmusik in besonderer Weise gepflegt. H. Regner, den Guido Waldmann zusammen mit Willy Schneider nach Trossingen/D holte, um nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Amateurmusikwesen des süddeutsch-österreichisch-südtiroler Raumes neu zu organisieren, nimmt 1964 den Ruf als o. Prof. und Leiter des Orff-Institutes an das Mozarteum nach Salzburg an. Er hat als Komponist von Spielmusiken, aber auch als Herausgeber von Editionsreihen (Aulós, zusammen mit G. Waldmann, W. Schneider, O. Ulf, W. Suppan, im Möseler-Verlag, Wolfenbüttel; Der Bläserkreis, mit W. Ehmann, im Verlag Schott, Mainz; Werkreihe Spiel in kleinen Gruppen, im Verlag Grosch, jetzt Thomi-Berg, München-Gräfelfing) die Entwicklung in Mitteleuropa entschieden mitgeprägt.
S. Abel-Struth, Grundriß der MusikpädagogikSigrid Abel-Struth, Grundriß der Musikpädagogik. Mainz 1985. 1985; W. Ehmann, Erbe und Auftrag musikalischer ErneuerungWilhelm Ehmann, Erbe und Auftrag musikalischer Erneuerung. Kassel 1950. 1950; W. Ehmann, Voce et tuba. Gesammelte Reden und Aufsätze 1934–1974,Wilhelm Ehmann (Hg.)/Dietrich Berke (Hg.), Voce et tuba. gesammelte Reden und Aufsätze 1934 - 1974. Kassel 1976. 1976; P. Hindemith in Der WeihergartenPaul Hindemith, Wir bauen eine Stadt. Erfahrungen bei einer Kinderaufführung, in Der Weihergarten. Beilage der Zeitschrift Melos 1 (1931), 5f.. 1 (1931); St. Hinton in Musica 39 (1985); A. Marold, Spiel in kleinen GruppenAdolf Marold, Spiel in kleinen Gruppen. Bläserkammermusik unter besonderer Berücksichtigung musikalisch-pädagogischer und soziologischer Aspekte (Alta musica 21). Tutzing 1999. 1999; H. Regner, Die Blasinstrumente in der JugendarbeitHermann Regner, Die Blasinstrumente in der Jugendarbeit. Wolfenbüttel, Zürich 1964. 1964; W. Suppan in Stud. mus.Wolfgang Suppan, Franz Liszt, zwischen Friedrich von Hausegger und Eduard Hanslick: Ausdrucks, contra Formästhetik, in: Studia musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 24. Budapest 1982, 113–131. 24 (1982); W. Suppan in W. Lipp (Hg.), [Fs.] R. H. ReichardtWolfgang Suppan, Donaueschingen 1926: Paus Hindemiths Bemühungen um eine amateurgerechte Blasmusik, in: Wolfgang Lipp (Hg.), Gesellschaft und Musik. Wege zur Musiksoziologie. Festgabe für Robert H. Reichardt zum 65. Geburtstag (Sociologica internationalis, Beiheft 1). Berlin 1991, 279–288. 1992; W. Suppan in H.-W. Heister/W. Hochstein (Hg.), [Fs.] H. RauheWolfgang Suppan, Das „Spiel in kleinen Gruppen“, in: Hanns-Werner Heister (Hg.)/Wolfgang Hochstein (Hg.), Kultur Bildung Politik. Festschrift für Hermann Rauhe zum 70. Geburtstag. Hamburg 2000, 553–564. 2000; W. Wiora, Komponist und MitweltWalter Wiora, Komponist und Mitwelt (Musikalische Zeitfragen). Kassel 1964. 1964.
25.4.2003
Wolfgang Suppan,
Art. „Gebrauchsmusik“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
25.4.2003, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001cec3
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