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Epos
Primär schriftlos überlieferte Dichtungsgattung; vermittelt die Entstehung der Erde und die Erschaffung des Menschen, die in den Mythen wurzelnde Geschichte der einzelnen Kulturen, wird in den älteren und jüngeren Hochkulturen schriftlich fixiert und damit zur Dichtung. Dies gilt für die Schöpfungs-Epen des alten Babylon ebenso wie für das Gilgameš-E., beide ca. 2000 v. Chr. erstmals fassbar, für die altindischen Epen Mahābhārata und Rāmāyana (6.–4. Jh. v. Chr.), für das persische Königsbuch Šāh-nāme des Firdausi (ca. 940–1020), für das Alte Testament, für die von Homer in Schriftform gebrachten Erzählungen der Odyssee und der Ilias (725–700 v. Chr.), wie für das Rolandslied, die Edda, den Beowulf und schließlich das Nibelungenlied (um 1200).

Neben den schriftfixierten Texten lebten in der Regel mündlich tradierte (Rest-)Formen der alten Epen noch Jh.e weiter. So fanden sich bis in das 20. Jh. hinein in den gebirgigen Landschaften Nord-Griechenlands, Albaniens, Serbiens, Montenegros und des Kosovo Motive aus den „homerischen“ gesungenen Erzählungen, während Relikte des Nibelungenliedes und des Kudrun-E.’ auf den Färöern und in der ehemals innerösterreichischen, im 14. Jh. von Osttirol und Kärnten aus besiedelten Gottschee aufgezeichnet werden konnten. Grund- und Ursituation der mündlich tradierten Epik ist die Einheit von singendem und zugleich musizierendem Erzähler und seinem jeweiligen Zuhörerkreis, dessen Personen aus innerer Beteiligung ihm verbunden sind. Dabei besitzt der Epiker in der Form des Berichtens und Erzählens, in der Handlungsführung weitgehend Freiheit. Er passt gleichsam die Gestaltung des Stoffes den bevorzugten Interessensgebieten seiner Zuhörer an und bereichert damit deren Phantasie. Vielmals verweilt er bei Einzelheiten, spinnt Gleichnisse aus, fügt Gedanken, Episoden, Schilderungen und Betrachtungen ein, um für das ihm gespannt lauschende Publikum die Lösung der Geschichte über Stunden und Tage hinweg hinauszuzögern. Der Sänger kennt demnach nicht Lieder, sondern nur Stoffe und typische Teile, die er nach Bedarf ordnet und umordnet. Auf die Frage, ob er dieses oder jenes Lied singen könne, erwiderte ein türkischer Gewährsmann: „Ich kann überhaupt jedes Lied singen; denn Gott hat mir diese Gesangsgabe ins Herz gepflanzt. Er gibt mir das Wort auf die Zunge, ohne daß ich es zu suchen habe; ich hab keines meiner Lieder erlernt, alles entquillt meinem Inneren, aus mir heraus“. Ebenso drückte sich Phemios in der Odyssee aus: „Mich hat niemand gelehrt, ein Gott hat die mancherlei Lieder mir in die Seele eingepflanzt“. Formal beschränkt sich der Epengesang auf stichische Zeilenreihung, die innerhalb der Textstruktur und der deszendenten Melodik größtmögliche Veränderungen der Silbenanzahl einschließlich der Hebungen und Senkungen ermöglicht. Das begleitende Musikinstrument, in der Regel eine Kniegeige/Gusle oder Harfe, hat die Aufgabe, die Tonhöhe des Sängers zu stützen und die einstimmige Melodie je nach Textbedeutung mehr oder weniger emphatisch zu verzieren und zu steigern (s. Abb.).

Von der einstigen Beliebtheit des Nibelungenliedes zeugen 35 Handschriften oder Handschriftenfragmente aus dem 13. bis zum frühen 16. Jh., wobei zwei Hauptfassungen erkennbar sind: Die „Nôt“-Fassung, vertreten durch die Handschrift A (Hohenems-Münchener Handschrift; 2316 Strophen) und die Handschrift B (St. Galler Handschrift; 2376 Strophen) einerseits sowie die Handschrift C (Hohenems-Laßbergische oder Donaueschinger Hs.; 2442 Strophen) andererseits. Darüber hinaus finden sich indirekte Zeugnisse für das Weiterleben der Nibelungen-Thematik u. a. in der Steirischen Reimchronik Ottokars (aus der Gaal?), wo es heißt: „disiu wirtschaft ist gemezzen / als Krimhilten hochzeit“ (damit deutet man dem ungarischen König an, er möge von seinem eigenen Hochzeits- und Friedensfest fliehen, um einem geplanten Anschlag zu entgehen). Neben dem aus dem Niederösterreichischen herkommenden Seifried Helbling, einer Slg. von fünfzehn überwiegend satirischen Zeitgedichten aus der Wende vom 13. zum 14. Jh., zählt Ottakars Steirische Reimchronik zu den wichtigsten historischen und zugleich politischen Texten jener Zeit, die in den auf Grund der Georgenberger Handfeste 1186 vereinigten Ländern Österreich und Steiermark ein neues „Nationalgefühl“ schaffen sollten. Seifried Helbling wie Steirische Reimchronik sind weniger zum Nachlesen niedergeschrieben worden, sondern zum Vortrag mit der zur Rezitation, zum episch-stichischen Gesang erhobenen Stimme. Nur so, als gesungene Erzählung, konnte der Textinhalt das in der Regel analphabetische Publikum erreichen.

Mit den „letzten“ Minne- und mit den Meistersingern, in den mittelalterlichen geistlichen Spielen (wie dem Wiener Osterspiel oder dem Erlauer) beginnen strophische Formen sich durchzusetzen. Epische Darstellung tritt zugunsten der neuen gesungenen Erzählformen, der Ballade und der Legende, zurück und beschränkt sich auf Volkstraditionen in den eingangs genannten europäischen Reliktgebieten.

Mit der Zeit der Aufklärung tritt die sog. Kunstepik in literarischen Texten und in musikalischen Kompositionen in Erscheinung, wobei reflektierend die eigene Geschichte dargestellt und gepriesen wird. Patriotismus und Nationalismus machen von älteren Mythen Gebrauch, um damit in Form von Tondichtungen und Opern Stimmungen und Gefühle staatlicher Zusammengehörigkeit zu erzeugen. Dafür stehen v. a. Rich. Wagners Tannhäuser, Lohengrin, Ring, Tristan und Isolde, Parsifal. In den symphonischen Dichtungen von F. Liszt, bei R. Strauss, bei E. W. Korngold, in S. v. Hauseggers Oper Helfried und in den Tondichtungen Barbarossa und Wieland der Schmied, in J. E. Ploners Symphonie in Es für Blasorchester mit den Sätzen Ahnenerbe, Heldenfriedhof, Scherzo: Auf, auf, ös Tiroler und spannt's enkre Büchs, Heimat – Lobegsang, oder S. Tanzers Suite Tirol 1809 mit den Sätzen Aufstand, Kampf am Berg Isel und Sieg, sind ähnliche Tendenzen erkennbar.


Literatur
MGG 3 (1995); H. Blosen in Orbis Litterarum 29 (1974); R. W. Brednich/W. Suppan, Gottscheer Volkslieder 1 (1969) u. 2 (1972); H. Brunner in O. Werner/B. Naumann (Hg.), Formen mittelalterlicher Literatur 1970; H. Brunner, Die alten Meister 1975; I. Illich, Schule ins Museum 1984; A. B. Lord, Der Sänger erzählt 1965; J. Meier, Werden und Leben des Volksepos 1909; A. Schneider in B. Habla (Hg.), [Fs.] W. Suppan 1993; W. Suppan in Acta mus. 49 (1977); W. Suppan in G. Haid (Hg.), Kärnten und seine Nachbarn 2000; W. Suppan in M. Liedtke (Hg.), Musik und Musikunterricht 2000; W. Wünsch, Heldensänger in Südosteuropa 1937; W. Wünsch, Der Brautzug des Banović Michael 1958; W. Wünsch in Volksmusik Südosteuropas 1966.

Autor*innen
Wolfgang Suppan
Letzte inhaltliche Änderung
18.2.2002
Empfohlene Zitierweise
Wolfgang Suppan, Art. „Epos‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 18.2.2002, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001fdee
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10.1553/0x0001fdee
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