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Drehorgel
Mechanisches Musikinstrument. Mit der D. vazierendes Volk dürfte wohl schon im frühen 18. Jh. zum Straßenbild gehört haben, zumindest zeigt F. Bonanni in seinem Gabinetto Armonico von 1722 unter dem Titel „organo portatile“ eine kleine D., die der Musiker an einem um die Schulter geschlungenen Band trägt. Für Österreich war ausschlaggebend, dass Maria Theresia das D.wesen institutionalisierte, indem sie nach dem Siebenjährigen Krieg zahlreichen Kriegsinvaliden Lizenz erteilte, „mit einer D. Erwerb zu suchen“. Damit hatte sie Arbeitsunfähigen eine Tätigkeit zugewiesen und sie vom Makel der Bettelei befreit. Da es sich bei den D.n um Gebrauchsinstrumente handelte, sind aus den frühen Zeiten keine mehr erhalten. Auch sind keine speziellen D.macher (oder Werkelmacher, wie sie in Wien hießen) bekannt. Wahrscheinlich haben es einige Orgelmacher übernommen, auch diese Instrumente zu verfertigen. Als frühester greifbarer Hersteller ist in Wien der Orgel- und Klaviermacher Johann Joseph Wiest (ca. 1749–1834) auszumachen, der nachweislich auch mechanische Spielwerke (mechanische Musikinstrumente), Flötenuhren und D.n baute. Neben Wiest wird (1823) Franz Erbs als hervorragender Erzeuger von D.n genannt. Weitere Werkelmacher in der Biedermeierzeit waren Georg Wiest, Johann und Anton Banck, Michael Gottesleben, Johann Hoß und Anton Lenk. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s waren Franz Erbs jun., Joseph Loipp, Joseph Katschirek, Vincenz Patek und Karl Kautek tätig, bis ins 20. Jh. arbeiteten Karl Schidlo, Franz Czeschka und Ferdinand Molzer. Von Bedeutung für den D.bau in Österreich waren auch die Erzeugnisse aus Böhmen, hier ist insbesondere die Firma Rieger im nordböhmischen Kratzau (Chrastava/CZ) zu nennen, die über drei Generationen bis ins 20. Jh. D.n baute, ferner Adolf Wilhelm Salamon in Reichenberg. In Prag befassten sich der um 1778 geborene Václav Hrubeš und Václav Šámal, beide gefolgt von ihren Söhnen, und Josef Kamenik mit der Herstellung von D.n.

Zur Biedermeierzeit hatte ein Werkel 19 oder 20 Töne, das Pfeifenwerk war liegend angeordnet und bestand aus einem Register gedackter Pfeifen und ein bis zwei offenen Pfeifenreihen. Auf einer Walze waren 8 bis 10 Musikstücke notiert. Eine D. kostete 1823 zwischen 120 und 170 fl. In den 1860er Jahren wurden Zungenstimmen hinzugefügt und die Pfeifen aufrecht gestellt. Trotz bedeutender Vergrößerung des Instruments blieb es vielfach bei einer diatonischen Auslegung der D., was die Werkelmänner aber nicht hinderte, Stücke auf die Walzen zu setzen, die eigentlich komplizierte harmonische Wendungen und Modulationen erforderten. Zu einem einheitlichen Typus der D. kam es nicht: Neben großen Instrumenten, die mit vielen Registern dynamische Effekte hervorbrachten und die nur mittels eines Handwagens transportiert werden konnten, gab es weiterhin kleine tragbare D.n. Das D.wesen blieb eine amtlich geregelte Profession. Die Werkelmänner hatten ihre fixen Standorte, und eigene Werkelverleihanstalten stellten für jene, die sich kein eigenes Instrument leisten konnten, D.n. gegen entsprechende Miete zur Verfügung. Die Werkelmänner verstanden sich als Musiker und Künstler. Mit einer entsprechenden Spieltechnik wussten sie Akzente zu setzen und die Melodie zu phrasieren. Viele Werkelmänner setzten auch selbst neue Melodien auf die Walzen oder führten Umbauten und Verbesserungen an ihren Instrumenten durch.

Neben der „klassischen“ D. mit Stiftwalze haben seit etwa 1900 auch Instrumente mit gelochten Kartonbändern, Zungendrehorgeln deutscher Herkunft, oder neuerdings D.n mit Kassetten als Informationsspeicher Verbreitung gefunden. Das persönlich gestaltete Spiel ist damit aber ausgeschlossen und Musiker wie Karl Nagl haben für solche „Entwicklungen“ nur ein Kopfschütteln übrig gehabt. Auch wenn der alte Beruf des Werkelmannes heute nicht mehr existiert, wenden sich nun vermehrt Sammler und Liebhaber diesem Instrument zu, und selbst das professionelle Spielen der D. (Oliver Maar) hat, freilich unter anderen Voraussetzungen, in der musikalischen Szene noch – oder wieder – seinen Platz.


Literatur
St. v. Keeß (Hg.), Darstellung des Fabriks-und Gewerbewesens im österreichischen Kaiserstaate 2 (1823), 176; F. Molzer in mZs. für Instrumentenbau 47 (1926), 95; A. Buchner, Mechanische Musikinstrumente 1992, 90–93; Hopfner 1999; eigene Recherchen (Staatsschemata, Wiener Handels- und Gewerbeschematismen, Adressbücher).

Autor*innen
Helmut Kowar
Letzte inhaltliche Änderung
22.3.2022
Empfohlene Zitierweise
Helmut Kowar, Art. „Drehorgel‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 22.3.2022, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001cc05
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.

MEDIEN
Drehorgel von Ferdinand Molzer jun. (Wien)© Helmut Kowar
© Helmut Kowar
Invalider Werkelmann. Ausschnitt aus: Maximilian Florian, Wiener Spaziergänge von Schlögl, Sgraffito-Wandbild (1953). Gemeindebau Schlöglgasse 17 (Wien XII)© Björn R. Tammen
© Björn R. Tammen
HÖRBEISPIELE

Drehorgel von Ferdinand Molzer, Wien 1904, 40 Töne, 3 Register, Privatsammlung. Walzer aus der Lustigen Witwe von F. Lehár. Phonogrammarchiv Tonaufnahme D 522.

DOI
10.1553/0x0001cc05
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