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Czernowitz (deutsch für ukrainisch Čérnivci)
Hauptstadt der Czerniwec’ka oblast’ im Südwesten der Ukraine; russisch Tschernowzy, rumänisch Cernăuți, polnisch Czerniowce, jiddisch Tschernowitz. Cz. („Schwarze Stadt“, vermutlich nach der Schwarzerde in der Region) wurde zw. 1153/87 gegründet. 1359–1774 gehörte Cz. zum Fürstentum Moldau, 1775 eroberten die Habsburger die Bukowina mit der Hauptstadt Cz. und schlossen das Gebiet Galizien und Lodomerien an. 1849–1918 Hauptstadt des eigenständigen Kronlandes Bukowina. 1918/19–40 und 1941–44 gehörte Cz. zu Rumänien, 1940/41 und 1944–91 zur UdSSR (als Teil der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik). Seit 1991 ist Cz. eine Gebietshauptstadt in der Ukraine.

In Cz. formierte sich eine multiethnische Gesellschaft, die eine multikulturelle regionale Musiktradition bildete, in der ukrainische, deutsche, jüdische, rumänische, polnische u. a. Einflüsse zusammenwirkten. Oft wird Cz. und das ganze Land Bukowina als ein „Viersprachenland“ (Ukrainisch, Rumänisch, Deutsch, Jiddisch) bezeichnet. Besonders aktiv entwickelte sich ab 1775 die deutschsprachige Kultur, bis dahin hatten Folklore und Kirchenmusik dominiert. Eine führende Rolle im Musikleben der Stadt spielten oft aus fremden Ländern zugezogene Musiker, während gebürtige Cz.er häufig in größeren Kulturzentren Europas Karriere machten (z. B. K. Mikuli in Lemberg oder E. Mandyczewski in Wien).

Ab dem ausgehenden 18. Jh. konzentrierte sich das Cz.er Musikleben zunächst auf öffentliche gesellschaftliche Formen, wie Bälle und städtische Feste, die durch Militärmusikkapellen begleitet wurden. Gelegentlich kamen nach Cz. Wandertruppen, die auch Opern und Operetten aufführten. Unter den Privatmusiklehrern des Adels und österreichischer Beamtenfamilien findet man professionelle Musiker aus Österreich, Böhmen, Deutschland und Frankreich. Genannt seien die Schwester des Schriftstellers Victor Hugo (Madame de Guyeux), der Wiener Gesang- und Klavierlehrer Greiner, die Egerländer Brüder Karl und Josef König sowie Anton Borkowski, Franz Xaver Knapp, Karl Herdmenger.

1833–35 wurde die griechisch-katholische Kirche zu einem wichtigen Musikzentrum in der Stadt, als Johann Chrysostomus Sinkewitsch (1814–89) den Kirchenchor leitete.

Eine neue Epoche in der Cz.er Musikkultur begann mit der Ankunft des Beamten Johann Karl Umlauff Ritter von Frankwell (1796–1861), der 1827–29 und 1837–50 beruflich in Cz. tätig war. Er war mit Fr. Schubert befreundet und Gesangschüler von J. M. Vogl. Er veranstaltete in seinem Haus Kammermusikkonzerte, in denen Werke der Wiener Klassiker aufgeführt wurden, interessierte sich aber auch für die Bukowinische Folklore und übersetzte ukrainische Volkslieder ins Deutsche. Auf seine Einladung kam 1847 F. Liszt in die Stadt und gab zwei Konzerte. Wichtig für die Musikpflege waren weiters die Familien Hurmuzaki, Mikuli, Zagorski, Mustata u. a. Stücke der Salonmusik und Bearbeitungen von Volksmelodien schufen z. T. begabte Dilettanten (Apostolo Petrino, Maria von Buchenthal u. a.), deren Werke auch in Wien verlegt wurden.

Das Interesse an professioneller Musik in breiteren Gesellschaftskreisen führte zur Gründung verschiedener Musikvereine in Cz. Als erster solcher Verein entstand der Cz.er Gesangverein (später Cz.er Männergesangverein) unter Leitung des tschechischen Musiklehrers Franz Kalousek, der jedoch nur drei Jahre (1859–62) bestand. 1862 bildete sich der Verein zur Förderung der Tonkunst in der Bukowina, der sich ursprünglich v. a. der Musikausbildung widmete. Erster Vorsitzender war der Chordirigent Franz Pauer. Nach und nach wurden im Verein ein Kammerorchester, ein Männer- und ein Damenchor gegründet. Zu den deutschsprachigen Vereinen traten nach und nach weitere nationale Vereinigungen: 1869 entstand die ukrainische Gesellschaft Руська бесіда [Ruthenische Unterredung], die musikalisch-deklamatorische Abende, Vorlesungen mit musikalischer Umrahmung und auch Tanzabende veranstaltete. 1872 wurden der Männergesangverein und die rumänische Musikgesellschaft Armenia (Blasorchester) sowie der Zither-Klub gegründet. Es folgten der Schubertbund, der Frauengesangverein, das Deutsche Gesangkränzchen, die ukrainischen Vereine Bukowiner Bojan und Ruthenischer Bürgerchor, die rumänischen Societatea pentru cultura şi literatura poporului romăn în Bucovina [Verein zur Förderung rumänischer Kultur und Literatur], Junimea [Jugend] und Lumina [Licht], der jüdische Hasemir und der polnische Sokół [Falke].

1875–1907 leitete den Verein zur Förderung der Tonkunst in der Bukowina der aus Prag stammende Komponist, Geiger und Dirigent Adalbert Hrimaly (Vojtěch Hřímalý, 1842–1908). Dank seiner Initiativen konnte 1877 das Musikvereinsgebäude eröffnet werden. Mit Leon Koffler, Leon von Gojan und Basil von Duzinkiewicz gründete er ein Streichquartett, mit dem er regelmäßig Konzerte gab. In Cz. fand 1877 auch die Aufführung seiner Oper Zakletý princ [Der verwunschene Prinz] statt. Große Beliebtheit erfreuten sich geistliche Konzerte, die Hrimaly jährlich um die Osterzeit veranstaltete. Als in Cz. die Franz-Joseph-Universität gegründet wurde, erhielt Hrimaly die Musikprofessur. Unter seinen Schülern waren Angehörige verschiedener Nationalitäten, u. a. E. Mandyczewski, Aleksandr Voevidka, Emil Pauer, Tudor v. Flondor. Er hinterließ ein Manuskript über die Musikgeschichte der Bukowina im letzten Drittel des 19. Jh.s. Eine weitere bedeutende Person in der Cz.er Musikkultur in der 2. H. des 19. Jh. war Isidor Worobkewycz (1836–1903), ukrainischer Dichter, Komponist, Musikpädagoge, griechisch-katholischer Priester, Organisator und Mitglied zahlreicher kultureller Gesellschaften. Nach Studien in Wien unterrichtete er Musik am Cz.er Gymnasium und Priesterseminar. Er wirkte nach 1875 als Professor für liturgischen Gesang an der Cz.er Univ. Als Komponist war Worobkewycz sehr fruchtbar, er hinterließ über 400 Chöre (250 zu eigenen Texten [Pseud. Danylo Mlaka], aber auch auf deutsche Texte), zahlreiche Bearbeitungen von ukrainischen, rumänischen, deutschen und jüdischen Liedern aus der Bukowina, 26 Singspiele und Theatermusiken sowie Klavier- und Gitarrewerke. Bei ihm studierten C. Porumbescu, E. Mandyczewski und T. v. Flondor.

Um 1900 konzertierten in Cz. bekannte Sänger und Instrumentalisten, wie Enrico Caruso, Fiodor Schaljapin, A. Rubinstein, Salomea Kruschelnicka, Modest Mencinski, O. Myschuha. Die Sänger Orest Rusnak (1895–1960), Filomena Lopatynska (1873–1940) und J. Schmidt stammten aus Cz. bzw. sind hier aufgewachsen.

Nach dem Anschluss der Bukowina an Großrumänien 1918 änderte sich das Musikleben in Cz. wesentlich. 1924 wurde das Konservatorium für Musik und dramatische Kunst eröffnet, 1925 entstand das Rumänische Nationaltheater, 1940 das Rumänische Volkshaus. Der Verein zur Förderung der Tonkunst in der Bukowina konnte trotz der Politik der Rumänisierung und Unterdrückung anderer Nationalitäten bis 1936 wirken. Auch andere ukrainische wie auch deutsche Musikvereine (Bukowiner Bojan, Ruthenischer Bürgerchor, Verein der christlichen Deutschen mit eigenem Chor) bestanden weiterhin.

In der sowjetischen Periode erlitt Cz. dasselbe Schicksal wie alle anderen von der UdSSR okkupierten Regionen: neue Kulturinstitutionen wurden gegründet, die der ideologischen Linie entsprachen. Noch 1940 kam es zur Eröffnung der Musiklehranstalt (Musiklyzeum) und Gründung des Volkschors unter der Leitung von Wolodymyr Minko. 1944 begannen das Haus der Volkskunst und das Kunststudio Bukowiner Künstler ihre Tätigkeit, im folgenden Jahr u. a. die Philharmonie und das musik-dramatische Theater. Die Musikkultur war zu dieser Zeit v. a. auf die russische/sowjetische Kultur ausgerichtet, alle früheren Musiktraditionen und -leistungen wurden abgelehnt und verschwiegen. Trotz des starken kommunistisch-ideologischen Zwangs wurden in Cz. dank Einzelinitiativen ukrainische Kulturtraditionen weitergepflegt. Eine der bedeutendsten Personen in der Cz.er Musikkultur jener Zeit war der Dirigent, Komponist und Pädagoge Andrij Kuschnirenko (1933–2013). Auf der Bühne der Cz.er Philharmonie traten ab den 1960er Jahren bekannte Musiker der UdSSR auf (Sviatoslav Richter, David Ojstrach, Mstislav Rostropowitsch u. a.). Ukrainische Operetten und amerikanische Musicals, darunter die West Side Story von L. Bernstein, gelangten jedoch am musik-dramatischen Theater zur Aufführung.

Die jüdische Tradition in Cz. repräsentierten mehrere Pädagogen des Musiklyzeums und Mitglieder des Theaterorchesters. Einen besonderen Platz nahm in diesem Milieu der Musikpädagoge und Komponist Josef Öhlgießer (1929–2014) ein. Öhlgießer zählte zu den eifrigsten Wächtern des Bukowiner kulturellen Erbes. Er veröffentlichte eine sechsbändige Sammlung von Werken Bukowiner Komponisten des 19. und 20. Jh.s. Jüdische Schlager sang mehrere Jahre auf der Bühne der Cz.er Philharmonie Sidi Tahl (1912–83).

Eine Besonderheit der Cz.er Musikkultur besteht in der höchst erfolgreichen Entwicklung der Popularmusik. Ein großer Teil der ukrainischen Pop- und Schlagermusiker der Sowjetzeit stammte aus der Bukowina und studierte in Cz. Zum Symbol des Widerstandes gegen den sowjetischen Zwang wurde der vom russischen Geheimdienst ermordete Cz.er Liedermacher Wolodymyr Iwasiuk (1949–79) stilisiert. Seine Lieder finden sich bis heute im Repertoire ukrainischer Pop-Sänger.

Die aktuelle Musikkultur in Cz. ist durch die Wiederbelebung alter Traditionen gekennzeichnet. Die Erinnerung an das viersprachige Land inspiriert die Tätigkeit mehrerer Gesellschaften: die rumänische Gesellschaft Michaj Eminescu, das Zentrum des jüdischen Lebens Habbad, die Gesellschaft der österreichisch-deutschen Kultur Wiedergeburt. Es werden alte Formen des Musiklebens wiederbelebt (Chorkonzerte, Feiern von Komponistenjubiläen, Unterhaltungsabende etc.). 1992 wurde an der Philharmonie das Akademische Symphonische Orchester gegründet, dessen Dirigenten Wiktor Kostrysh und seit 2000 Jossyp Sozans’kyj waren. Im selben Jahr schuf man den Lehrstuhl für Musik an der Juri Fed’kowytsch-Univ., dessen erster Inhaber Andrij Kuschnirenko war. 2001 wurde ein jüdisches Orchester gegründet. In Cz. werden aktuell(2017) mehrere ukrainische und internationale Musikfestivals veranstaltet, z. B. das internationale Volksfest Bukowiner Begegnungen, das Festival klassischer Musik Bukowiner November, das Rock-Festival INFORMAL BUKOVINA ROCK AREA u. a.


Literatur
I. Lihaciu in Acta Iassyensia comparationis Nr. 9 (2011); I. Lihaciu, Cz. 1848–1918, 2012; A. Norst, Der Verein zur Förderung der Tonkunst in der Bukowina 1862–1902, 1903; I. Lihaciu in Spiegelungen 55 (2006), H. 1; E. Satco, Muzica in Bucovina 1981; St. Stefanowicz in F. Lang (Hg.), Hundertfünfzig Jahre Deutschtum in der Bukowina 1961; E. Turczynski, Gesch. der Bukowina in der Neuzeit 1993; A. Mikulicz, Die Musik in der Bukowina vor der Gründung des Vereins zur Förderung der Tonkunst 1775–1862, 1903; A. Afsari (Red.), Mythos C. 2008; H. Braun (Hg.), C. 2005; H. Heppner (Hg.), Cz. 2000; N. Struk/O. Matwijtschuk, Буковина [Die Bukowina] 2006; W. Botuschans’kyj (Red.), Буковина. Загальне краєзнавство наук [Die Bukowina. Eine allgemeine Heimatkunde] 2004; W. Botuschans’kyj et al., Чернівці: Історія і сучасність [C. Gesch. u. Gegenwart] 2009; E. Antoniuk-Hawryschtschuk, Світ пісенної краси [Die Welt der Liederschönheit] 2009; K. Saintschuk, Музична освіта Буковини [Musikausbildung in der Bukowina] 2011; A. Kuschnirenko/O. Zaluts’kyj/J. Wyschpins’ka, Історія музичної культури й освіти Буковини [Gesch. der Musikkultur und Musikausbildung in der Bukowina] 2011; J. Melnytschuk in Науковий вісник Чернівецького університету [Wissenschaftliche Nachrichten der Cz.er Univ.] 2006; O. Sawtschuk (Hg.), Музична Буковина [Musikalische Bukowina] 2010; J. Kybitsch, Назарій Яремчук [Nazarij Jaremtschuk] 2003; K. Demotschko, Мистецька Буковина [Künstlerische Bukowina] 2008; O. Pawluk (Hg.), Буковина. Визначні постаті 1774–1918 [Bedeutende Persönlichkeiten 1774–1918] 2000; I. Jaroschenko, Мистецтвом встелені шляхи [Die Wege, mit der Kunst ausgelegt] 2004; K. Demotschko, Музична Буковина [Musikalische Bukowina] 1990; M. Bilynska, Сидір Воробкевич [Sydir Worobkewytsch] 1982; I. S. Hlibowyc’kyj, Музичне життя Буковини ХІХ – початку ХХ століття як прояв полікультурного середовища [Das Musikleben der Bukowina im 19. und frühen 20. Jh. als Erscheinung des multikulturellen Milieus], Diss. Lviv 2010; S. Osatschuk, C. heute und der Umgang mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe 2004 (www.czernowitz.de/55/Das%20Czernowitz%20von%20heute-0.html, 12/2016).

Autor*innen
Luba Kyjanovska
Letzte inhaltliche Änderung
5.10.2017
Empfohlene Zitierweise
Luba Kyjanovska, Art. „Czernowitz (deutsch für ukrainisch Čérnivci)‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 5.10.2017, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0036dfc7
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10.1553/0x0036dfc7
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