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Choral
Gesang der lateinischen Kirche, von da später auch auf den protestantischen Gemeindegesang übertragen. Im weiteren Sinne bezeichnet der (Ober-)Begriff Ch. die Erscheinungsformen des einstimmigen liturgischen Gesangs der lateinischen westlichen Liturgien einschließlich der usuellen Mehrstimmigkeit quer durch die Geschichte bis heute, im engeren Sinne, nach seiner Ursprungslegende „gregorianisch“ genannt, das Repertoire der fränkisch-römischen Liturgie der karolingischen Epoche. Seit dieser Zeit setzte sich mit Gründung und Ausbreitung der (Erz-)Diözese Salzburg und ihrer Suffraganbistümer im Gebiet des heutigen Österreich der fränkisch-römische Liturgietypus mit all seinen Spielarten und lokalen Varianten durch. Der dazugehörige Gesang ist liturgisch und musikalisch gesehen alles andere als einheitlich überliefert, er ist geprägt von den Spannungsfeldern gesamtkirchlich/teilkirchlich, Ordnung/Freiheit, überregional/lokal, Tradition/Innovation.

Zu den frühesten Zeugnissen des Christentums – und damit der christlichen Liturgie – im heutigen Österreich zählt die Passio des Hl. Florian (um 300). Die Vita des Hl. Severin († 8.1.482) von Eugippius (511) erwähnt voll ausgebaute liturgische Strukturen, darunter öfters die Psalmodie, an der Klerus, Mönche und Volk sich beteiligen. Genannt ist der Name des Kantors Moderatus. Eine Kontinuität des christlichen Kultes (monastisches Leben) bis zur Mission im 8. Jh. wäre möglich, ist aber nicht nachweisbar (Frühchristliche Musik).

Strukturen und Organisation des kirchlichen Lebens im heutigen Österreich, die in Grundzügen bis heute nachwirken, werden im 8. Jh. ausgebildet und damit auch die Grundlagen für die liturgisch-musikalische Entwicklung gelegt. Der Hl. Rupert gründete um 696 die Diözese Salzburg (feste Struktur durch den Hl. Bonifatius 739) sowie die Klöster St. Peter und Nonnberg in Salzburg. Unter dem Hl. Virgil († 784) wurde vom Chorbischof Modestus die Karantanenmission (Kärnten) betrieben und der erste Salzburger Dom 774 konsekriert. Unter Bischof Arn (785–821) wurde auf Betreiben Karls des Großen 798 die altbayerische Kirchenprovinz mit Salzburg als Erzdiözese und Säben (Brixen), Freising/D, Regensburg, Neuburg an der Donau und Passau (gegr. 739) als Suffraganbistümer errichtet. Die Salzburger Erzb.e gründeten zudem einzig von ihnen abhängige Eigenbistümer, meist auf bestehenden Chorherrenstiften: Gurk (1070), Seckau (1218), Chiemsee/D (1218) und Lavant (1225). Für Liturgie und Kirchengesang waren die jeweiligen Kathedralen (für das heutige Österreich: Salzburg, Passau, Brixen) bis zur Einführung der römischen Liturgie (z. B. Salzburg 1596) die maßgeblichen normativen Instanzen für die jeweiligen Diözesangebiete. Nicht minder bedeutende Zentren für den Kirchengesang waren die Klöster (Klosterkultur), die zum Großteil ihre eigenen liturgischen Ordnungen pflegten. Es sind dies die Benediktiner in Salzburg (St. Peter und Nonnberg um 696), Mondsee (748/91), Kremsmünster (777), Michaelbeuern (um 730/977), St. Georgenberg-Fiecht (um 950), Lambach (1056), Admont (1074), St. Lambrecht (vor 1076), Göttweig (1083/1094), Melk (um 1000/1089), St. Paul im Lavanttal (1091), Seitenstetten (1112), Altenburg (1144), Schottenabtei Wien (1155). Besondere Impulse gingen von den Stiften der Augustiner-Chorherren aus, die im Bereich der Erzdiözese Salzburg in einem Verband organisiert waren: Salzburger Domstift (reguliert 1122), Gurk (1123), Reichersberg (1048, reguliert nach 1122), Suben/OÖ (1084/1125), Ranshofen (um 1040/1125), Seckau (1140), Vorau (1163). Außerhalb des Verbandes standen St. Nikola vor Passau (1067), St. Florian (1070), St. Pölten (um 1071), Herzogenburg (1112), Klosterneuburg (1133), Waldhausen (1138). Hatten die genannten Stifte ihre jeweiligen liturgisch-musikalischen Individualitäten auf der Basis von überregionalen Liturgieentwicklungen im deutschen Bereich oder in der Tradition des Ordens, so brachten die neuen, zentralistisch organisierten Orden des 12. und 13. Jh.s Liturgie und Gesang aus ihren westlichen oder südlichen Herkunftsbereichen mit. Die Zisterzienser siedelten in Rein (1129), Heiligenkreuz (1133), Zwettl (1136), Wilhering (1136), Lilienfeld (1202), Stams (1272) und Schlierbach (1335). Die Dominikaner gründeten Friesach (1217 oder 1220), Wien (1226), Wiener Neustadt (1227), Pettau (Ptuj/SLO 1230), Krems (1236), Leoben (1262), Retz/NÖ (1279), Graz (1466), Steyr (1472), weiters Tulln und Neukloster (Novi klošter/SLO) im Sanntal (Savinja, westlich von Cilli [Celje/SLO]). Prämonstratenser siedelten in Wilten (um 1128), Geras (1153) und Schlägl (1218), Kartäuser waren in Gaming, Aggsbach, Mauerbach und Seitz (Žiče/SLO). Mit dem zahlreichen Auftreten der franziskanischen Gemeinschaften kamen auch die Bücher mit der römischen Kurialliturgie ins Land.

Mit der Konsolidierung der Domstifte und Klöster nach Gründungsphasen wurden, um den liturgischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Aufgaben nachkommen zu können, Schreibschulen (Skriptorien) eingerichtet. Bedeutendere Beispiele (auch nach erhaltenen Quellen) finden wir im 12. Jh. in Salzburg (Dom St. Peter), Mondsee, Lambach, Kremsmünster, Admont, Seckau. Etwas später gelangen Klosterneuburg und St. Florian zur Hochblüte, im 14. Jh. folgt St. Lambrecht. Die Skriptorien arbeiteten mit Konventualen, aber auch oft mit Lohnschreibern, die als Spezialisten ihre Arbeitsplätze durchaus wechseln konnten, was heute die Fragen nach der Herkunft von Codices mitunter verkompliziert, da öfters Skriptorium und liturgische Provenienz bzw. Zugehörigkeit nicht identisch sind, und einzelne Schreiber mehreren Skriptorien zugeordnet werden können. Einzelne Hss. werden auch als Erstausstattung dem neugegründeten Kloster vom „Mutterhaus“ mitgegeben, wie z. B. das Missale A-Gu 444 von Salzburg nach Seckau oder das Missale A-VOR 21 von Seckau nach Vorau.

Der im 12. Jh. am häufigsten anzutreffende Notationstyp sind deutsche Neumen auf der Entwicklungsstufe ihrer Zeit. Diese ist gekennzeichnet durch Reduktion des Zeichenvorrats gegenüber dem 10. Jh. (nur mehr Grundzeichen, mit Ausnahme von Anfangsartikulation keine rhythmischen Differenzierungen) sowie einer Umfunktionierung einzelner älterer Zeichen (aus rhythmischen werden melodische) im Sinne einer partiellen Präzisierung von Intervallangaben (die ältere „nicht kurrente Clivis“ z. B. wird nun zur „Halbtonclivis“, der Pes stratus wird ein Torculus mit Halbton von der zweiten zur dritten Note). Mangels rhythmischer Differenzierung werden Neumen gegeneinander austauschbar (Clivis + Virga entspricht dem Pressus maior bzw. Trigon). Eine indirekte Diastematisierung der Notation in campo aperto geschieht auch durch vermehrte Verwendung von verlängerten Abstrichen (Clivis, Torculus) oder durch eine Stropha als letztes Element in Climacus, Pes subbipunctis und Trigon zur Angabe größerer Intervalle im melodischen Abstieg. Diese Änderungen sind Ausdruck einer gewandelten Aufführungspraxis, die mit dem Schlagwort Cantus planus (rhythmisch eingeebneter Gesang) beschrieben werden kann. Ob dabei die nach wie vor großteils traditionell praktizierte Neumengruppierung rhythmisch relevant interpretierbar ist, kann angenommen, aber nicht stringent bewiesen werden. Die Austauschbarkeit von Neumen (auch Bistropha gegen Bivirga) und eine gewisse Beliebigkeit in der Verwendung zeigt auch, dass Notatoren Codices nicht mechanisch kopiert, sondern nach dem auswendig Gewussten und innerlich Gehörten geschrieben haben. Die ältere Schreibtradition der Codices des 12. Jh.s kennt Oriscusneumen (A-Wn cvp 1821, A-Gu 444), in der jüngeren verschwinden diese gänzlich oder partiell (A-Wn cvp 13314, A-Gu 417). In einzelnen Codices finden wir auch Zeichen außerhalb der St. Galler Schreibtradition, wie z. B. den Pressus minor in Form eines „Fragezeichens“ (z. B. A-Wn cvp 1821, A-Gu 479). Diese Notation entwickelt sich (durch weitere Reduktion und Vergröberung) weiter und wird über die Mitte des 14. Jh.s hinaus immer noch praktiziert, wie z. B. im Seckauer Liber Ordinarius und Cantionar von 1345 mit seinen Nachträgen (A-Gu 756). Dies setzt eine sich zwar wandelnde, aber im Prinzip ungebrochene Praxis der mündlichen Tradierung des Repertoires voraus, bei der einer musikalischen Aufzeichnung als Nachschrift andere Funktionen zukommen als der in der Kunstmusik gewohnten Notation als Vorschrift.

Im 12. Jh. erscheint als weiterer Typus eine diastematische Notation, die „Metzer Notation auf Linien“ genannt wurde, aber nach ihrem häufigsten Vorkommen als Klosterneuburger Notation bezeichnet werden sollte. Ihr Nachweis beschränkt sich auf Reichersberger Fragmente, das sog. Klosterneuburger Graduale (A-Gu 807, seit Peter Wagner als frühester und wichtigster Zeuge der „lesbaren“ ostfränkischen Überlieferung – Choraldialekt, Germanischer – gesehen und von R. Flotzinger nach Passau lokalisiert) und eine Gruppe von Klosterneuburger Codices, die – so dort geschrieben – den Chorfrauen zuzuordnen sind (A-KN 588, 589, 995–1018), während die Chorherrenmanuskripte adiastematische deutsche Neumen gebrauchten (A-Wn cvp 13314, A-KN 73, 1213). Diese möglicherweise aus Passau eingeführte und später nur bei den Chorfrauen eindeutig lokalisierbare Notation kennt als Grundzeichen den Metzer Uncinus, verwendet aber aus deutscher Neumentradition die Stropha und als Schreibrest die deutsche Virga strata.

Ab der 2. Hälfte des 14. Jh.s werden verschiedene neuere Formen der gotischen Notation verwendet (Einzelton abgeleitet vom Uncinus oder von der Virga, Hufnagel u. ä.). Die z. T. großformatigen Codices sind nun eindeutig Gesangbücher der Konventliturgie für Chor oder Schola, während ihre kleinformatigen Vorgänger einerseits Studienbücher, andererseits oftmals Bücher für die Privatmesse waren. Im Konvent wurde auswendig gesungen. Mit der Melker Reform und den Mendikanten dringt auch die Quadratnotation in Österreich ein. In den jeweiligen Häusern vorhandene Notationspraktiken halten sich bis ins 18. Jh.

Das liturgische Repertoire ist je nach geistlicher Gemeinschaft unterschiedlich determiniert. Die jüngeren zentralistisch organisierten Orden wie Zisterzienser, Dominikaner und Kartäuser verwenden Abschriften des Musterkodex aus der Ordenszentrale und bringen damit v. a. französische Fassungen und Notationsgewohnheiten ins Land. Benediktinische Klöster pflegen auf der Basis des Cursus monasticus ihre hauseigenen Liturgien, festgehalten in den jeweiligen Consuetudines. Die Augustinerchorherren orientieren sich zunächst an der jeweiligen Diözesanliturgie (Salzburg/Passau), auf deren Basis der einem Stift eigene Usus entwickelt und ausdifferenziert wird. Libri Ordinarii der Kathedralkirchen sind die liturgischen Musterbücher für die ganze Diözese. Der Salzburger Liber Ordinarius, geschrieben zwischen 1181 und 1200 vermutlich anlässlich der Weihe des romanischen Doms (1198), ist in seinen Ergänzungen und Bearbeitungen Zeugnis einer 400 Jahre lang gewachsenen Liturgie. Sein normativer Charakter wird in den ersten Missaledrucken (z. B. für Salzburg 1492: Missale secundum rubricam ordinarii archiepiscopalis ecclesie Saltzpurgensis) ausdrücklich betont. Der Salzburger Ordinarius ist innerhalb seiner Gattung ein besonderes Buch, der Versuch einer Darstellung der Liturgie in ihrer Gesamtheit. Er enthält die Incipits aller Texte für Stundengebet und Messe samt dazugehörigen Nebenfeiern wie Prozessionen und alle nötigen Rubriken (Regieanweisungen) für die Dramaturgie der Liturgie. Sofern es Gesangstexte sind, sind diese neumiert, die Angabe der Psalmtöne und Psalmtondifferenzen ergibt einen vollständigen Tonar. Das Buch rezipiert weiters umfangreiche theologische Liturgieerklärungen moderner Autoren des 12. Jh.s (Liber Quare, Beleth, Micrologus des Bernold v. Konstanz) und andere Literatur zur Liturgie. Der Salzburger Messritus wird ebenso dargestellt wie das Kalendarium mit umfangreichen computistischen Angaben. Dieser Liber Ordinarius zeigt in seiner Anlage, dass Gesang ein nicht wegzudenkender integraler Bestandteil im Gesamtkunstwerk Liturgie ist. Für die Stifte Ranshofen (D-Mbs clm 12635) und Suben/Vorau (A-VOR 99) wurden zwei redigierte Abschriften angefertigt, die auf die jeweilige Hausliturgie hin bearbeitet worden sind und Proprien der Metropolitankirche nicht enthalten. Libri Ordinarii sind erhalten aus St. Florian (A-SF XI 398), Herzogenburg (A-H 173), Klosterneuburg (A-KN 983, 1014, 1213), Vorau (A-VOR 30, 99, 333), Seckau (A-Gu 208, 332, 1345, 1566). Nicht lokalisierbar sind derzeit ein kanonikaler Ordinarius in Admont (A-A 296) und der Liber Ordinarius des Mengotus (A-Wn cvp 1482) mit Passauer Einflüssen.

Die Gesänge der Messe sind – bis auf die lokalen Eigenheiten im Alleluia-Repertorie – relativ einheitlich und stabil überliefert (im Stundengebet sind Möglichkeiten für Sonderentwicklungen bei Antiphonen und Responsorien größer), im Sanktorale wird jedoch ein gemeinsames Repertoire je nach Ort unterschiedlich verwendet. So kann ein und derselbe Heilige in Salzburg und Passau durchaus einen unterschiedlichen Introitus aus dem Commune aufweisen. Auch Änderungen vor Ort sind dokumentierbar. Das Salzburger Dommissale aus dem 12. Jh. (D-Mbs clm 11004) – geschrieben auf dem Nonnberg – repräsentiert Liturgie vor der Reform durch den Liber Ordinarius und wurde auf diesen hin umgearbeitet, ursprüngliche Versionen sind teils noch lesbar (z. B. Augustinus: ursprünglich Introitus Salus autem, geändert auf Introitus Statuit). Größer sind die Unterschiede im Kyriale: die Repertoires von Dom und dem benachbarten St. Peter in Salzburg sind nur bedingt miteinander vergleichbar, sowohl vom Umfang, als auch von der Verwendung her. Die Melodieversionen bewegen sich auf der Basis ostfränkischer Grundvarianten, bei der Weiterentwicklung der Melodien gegenüber dem 10. Jh. sind (auch in der adiastematischen Notation eindeutig) u. a. zu beobachten: Ausfüllen größerer Intervalle im melodischen An- oder Abstieg durch zusätzliche Töne (aus einer Terz werden zwei Sekundschritte), Reduktion von modal oder rhetorisch bedingten Tonverdoppelungen auf Hauptstrukturstufen (Virga strata unisonisch wird ein Einzelton, die Torculuserweiterung Pes + Clivis wird wieder ein gewöhnlicher Torculus), größere Labilität im Ausdruck subsemitonaler Tonstufen (C-C wird H-C und umgekehrt), Eingriffe in größere Gruppenneumen. Neben den schon genannten Codices des 12. Jh.s zählt zu den wichtigsten Beispielen das Antiphonar von St. Peter (heute A-Wn cvp Ser. Nov. 2700), ein prachtvolles Mustergesangbuch für Messe und Officium in einem, Dokument der reformierten Benediktinerliturgie um 1160. Ihm zur Seite steht das Salzburger Petersfrauengraduale (A-Ssp a IX 11). Erforscht sind auch das älteste Brevier (A-LIs 290) und Missale (A-KR CC 28) aus Kremsmünster. Aus Fragmenten in Yale/USA, Harvard/USA, St. Louis/USA, St. Paul im Lavanttal und Lambach ließen sich Teile eines „Gottschalk-Antiphonars“ aus Lambach rekonstruieren. Ein Missale in Oxford (GB-Ob Canon. Liturg. 354, 12. Jh.) konnte St. Paul zugewiesen werden.

Im Bereich des Stundengebets sind neben den genannten Quellen die Antiphonare mit Klosterneuburger Notation vom 12. zum 14. Jh. erforscht worden. Interesse fanden auch späte Quellen des 14. und 15. Jh.s mit Liniennotation. Im Rahmen des Cantus-Projektes sind die Indices folgender Antiphonare dokumentiert (2001): Lambach: „Gottschalk-Antiphonar“ (Fragmente 12. Jh.), Kirnberg an der Mank/NÖ (A-Wda C–10, C–11, D–4, passauisch, 15./16. Jh.), Klosterneuburg (A-KN 589, 1010–1013, 1015, 1017, 1018, 12.–14. Jh.), Kremsmünster (A-LIs 290, 12. Jh), St. Lambrecht (A-Gu 29, 30, 14. Jh.), Vorau (A-VOR 287, salzburgisch, 14. Jh.). Diese Hss. enthalten z. T. viel Eigengut, v. a. im Bereich selten überlieferter Historiae populärer Heiliger.

Erneuerungen des Repertoires finden sich v. a. im Bereich des „mittelalterlichen Ch.s“ (Jammers). In der Messliturgie werden Sequenzen zu den Spezifika einer Diözese, eines Klosters oder auch der Ambition des Schreibers/Bestellers einer Hs. Eine Grundordnung ostfränkischer Sequentiare bleibt vom 12.–15. Jh. ziemlich unangetastet. Neuerungen werden dem Vorhandenen ohne Verdrängung des Alten hinzugefügt. Im 12. Jh. haben Sequentiare etwa 50 Texte, um 1300 beginnen größere Erweiterungen im Sanktorale (Auffüllen mit rangniedrigeren Festen) und bei den Votivmessen. Im 15. Jh. enthalten Sequentiare oder Missalien etwa 70–100 Texte für Proprium, Commune und Votivmessen, die öfters auf Standardmelodien gesungen werden können. Ende des 15. Jh.s wurde außerhalb der Quadragesima täglich ein- bis zweimal eine Sequenz in den Messen verwendet. Zahlreiche Texte ohne Melodien wurden auch als Leselieder in der Privatmesse („stille Messe“) gebraucht. Repertoire und konkrete Verwendung desselben wurden seit dem 12. Jh. zu einem individuellen, unverwechselbaren Cursus ausgebaut, dokumentiert im jeweiligen Liber Ordinarius. Einzelne Chorherren trugen als Dichter zur Vermehrung der Gattung bei: Aus Klosterneuburg stammen 20 Sequenzen, v. a. jene der sogenannten Gottschalk-Gruppe, in St. Florian wurden 14 Sequenzen gedichtet, in Seckau ebenfalls 14. Diese sind hauptsächlich Maria und den Heiligen gewidmet, darunter den Diözesan-, Haus- und Ordenspatronen. Einzelne dieser Texte werden auch andernorts rezipiert, die meisten bleiben Unika eines Ortes oder eines Codex. Größere Sequenzensammlungen mit Liniennotation enthalten die Codices A-Gu 17 sowie A-VOR 22, 255. Einzelne Beobachtungen zeigen, dass im Bereich der Hymnen des Offiziums eine ähnliche Entwicklung wie bei den Sequenzen zu verzeichnen war, wenngleich nicht in diesem Umfang. Eine größere Untersuchung dazu steht aus. Verwandt mit diesen Gattungen sind die beiden Reimpsalterien des Abtes Engelbert von Admont auf Jesus und Maria zu je 150 Strophen als Einlagen zum Psalmengebet mit mehreren Melodien (D-Mbs cgm 716). Eine österreichische Überlieferungstradition von Conductus ist greifbar in St. Lambrecht, Seckau und St. Pölten.

Zu den Erweiterungen des Repertoires gehörten auch die Historiae in Prosa oder mit Reimen („Reimoffizium“). Der Bedarf dafür war wiederum bei lokalen Heiligenkulten gegeben. In Salzburg (St. Peter) entstand eine Historia für Rupert, in Admont für Blasius, in Kremsmünster für Agapitus (Bernardus Noricus um 1300), in Melk für Kolomann, in St. Lambrecht für die Translatio Lamberti (14. Jh.). Zwischen 1485 und 1488 entstehen vier Leopold-Offizien, darunter das Wiener und das Passauer. Selten aufgezeichnete Historiae betreffen das Fronleichnamsfest, Augustinus, Johannes Enthauptung, Ursula und Apostel Thomas.

In den Kontext des Stundengebets gehören die meisten Beispiele des mittelalterlichen Kirchenlieds einschließlich der Cantio.

Frühe Mehrstimmigkeit als eine der Ausführungsweisen des Ch.s ist in österreichischen Klöstern nicht selten nachweisbar. Obschon dies eine Praxis ist, die in Quellen des 9. Jh.s beschrieben wird, taucht das älteste schriftliche Beispiel um 1300 im Kremsmünster auf (Sequenz O beata gloriose virginis). Etwa 100 Stücke sind in folgenden Codices bekannt: A-GÖ 79, 307; A-Gu 9, 10, 29, 30; A-HE 157; A-Iu 457; A-M 486; A-Ssp VII 20, a IX 3, b I 27, a VI 47, a IV 7; A-VOR 22, 23; A-WIL IX 40; A-Wn cvp 2339, 1894, 1925, 2856, 3617, 3997, 4702, 4989; D-B 40580. Es sind dies Ordinariumsgesänge, Introitus, Sequenzen, Hymnen, Lektionen, Antiphonen, Tropen, Responsorialverse, Benedicamus Domino. Stilistisch gehören die Stücke zu allen vorkommenden Kategorien des archaischen Organums.

Nach der sukzessiven Einführung der römischen Liturgie im Gefolge des Konzils von Trient wurden zwar etliche Bücher noch länger weiterbenutzt, die neuen Ch.bücher mit dem römischen Ritus kamen nunmehr als Drucke jedoch zumeist aus Italien und Frankreich. Am meisten verbreitet waren die Graduale- und Antiphonaledrucke der Typographia Balleoniana aus Venedig. Das Antiphonale von 1732 druckten 1742 die Wiener Augustiner-Eremiten mit ihren Besonderheiten nach. Eine Verwendung der Editio Medicäa noch vor deren cäcilianischer Neuauflage ist bislang nicht nachgewiesen. Im Salzburger Dom wurde bis ins 19. Jh. das Antiphonale von Toul 1624 verwendet. Das Hymnar dazu wurde in Salzburg 1685 gedruckt, ebenso das Psalterium. Das Vordringen der süddeutsch-österreichischen Praxis polyphoner Kirchenmusik machte aus dem Ch. einen ferialen Usus, der dann zum Zuge kam, wenn keine andere Musik vorhanden war oder gespielt werden durfte. Einen großen Einschnitt brachte die Einführung der josephinischen Gottesdienstordnungen nach 1780 (Josephinismus), die den Offiziumsgesang weitgehend zum Schweigen gebracht hatten. Oft erst um die Mitte des 19. Jh.s wurde gesungenes Stundengebet wieder in den Klöstern üblich. Ende des 19. Jh.s drangen vereinzelt cäcilianische Ausgaben in die Kirchenmusikpraxis ein. Die Übernahme des Stiftes Seckau durch die Beuroner Benediktiner 1883 bedeutete einen gewaltigen Impuls für Gregorianik in der Liturgie (Choralreform). Die Editio Vaticana (1908/1912) markiert eine Wende, indem sie via facti alle regionalen Besonderheiten weitgehend zum Erliegen brachte. Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums (Vatikanisches Konzil) brachte eine Erneuerung der Bücher mit sich, z. T. wird heute wieder von einzelnen Scholen aus mittelalterlichen Hss. in eigenen Ausgaben gesungen.

Die Ausführenden des Ch.gesangs (Chor, Chormusik) im Mittelalter waren der gesamte Konvent, die Schola und die Solisten, die unter der organisatorischen und künstlerischen Leitung des Kantors das Offizium zu vollziehen hatten. Zum Konvent gehörten auch die pueri oblati, so dass gemeinsames Singen von Ober- und Unterstimmen die Regel und nicht die Ausnahme war. In Doppelklöstern haben bei gemeinsamer Liturgie Frauen und Männer zusammen gesungen. Außerhalb der Klöster war es Aufgabe der Schulen, ihrer Lehrer und Schüler, die Kirchenmusik zu besorgen. Mit dem Niedergang klösterlicher Kultur wurden zunehmend auch bezahlte Laien für den Chordienst herangezogen. Nach den josephinischen Reformen waren es in den Kathedralen die angestellten Domchoralisten (öfters 4), die zusammen mit den Chorvikaren täglich Amt und Vesper zu singen hatten. Bestrebungen im 20. Jh., den Ch. bei den Kirchenchören oder gar in den Gemeinden heimisch zu machen, waren zum Scheitern verurteilt. Durch die Einführung der Muttersprache in die Liturgie ab 1965 wurde die Ch.praxis zunächst minimiert, was der Durchsetzung eines neuen aufführungspraktischen Ansatzes durch neue Gruppen, die sich der Interpretation anhand der ältesten Neumenaufzeichnungen verschrieben haben, zum leichteren Durchbruch verholfen hat. Am Beginn des dritten Jahrtausends wird in Österreich Gregorianik hauptsächlich an Kathedralkirchen, einzelnen Klöstern und an MUniv.en gepflegt. Dabei ergab sich auch eine Verlagerung von der liturgischen Praxis hin zum (Kirchen-)Konzert. International bekannte Gruppen sind heute die Ch.schola der Wiener Hofburgkapelle unter ihren Leitern J. Schabaßer, Hubert Dopf SJ und Thomas Holmes, die Grazer Ch.schola unter Leitung von F. K. Praßl und die Salzburger Virgilschola unter Stefan Engels. Die Grazer und die Salzburger Schola bringen immer wieder Gesänge aus mittelalterlichen österreichischen Hss. zu Gehör.


Literatur
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Autor*innen
Franz Karl Praßl
Letzte inhaltliche Änderung
18.2.2002
Empfohlene Zitierweise
Franz Karl Praßl, Art. „Choral‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 18.2.2002, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001cadc
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10.1553/0x0001cadc
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