Für die Erforschung der byzantinischen Musikdenkmäler von besonderer Bedeutung ist der österreichische Musikwissenschaftler E. Wellesz. Als er um 1915 als Dozent am Institut für Musikwissenschaft der Univ. Wien begann, sich mit byzantinischer Kirchenmusik zu beschäftigen, war diese Materie der abendländischen Forschung so gut wie unbekannt. Wellesz war über das Studium des gregorianischen Chorals zu der Überzeugung gelangt, dass der Schlüssel zum vollen Verständnis der kirchlichen Musik des Abendlandes in der Erforschung der b.n M. liegt. Die liturgischen Studien zeigten, dass sich viele Gesänge auf eine gemeinsame Quelle zurückverfolgen lassen, auf die Tradition der Kirche von Jerusalem. Mehrere tausend musikliturgische Codices sind vom 10. Jh. an überliefert, freilich stand man zu Beginn des 20. Jh.s diesen Handschriften ratlos gegenüber. Die Notation des Mittelalters war in Vergessenheit geraten, der griechisch-orthodoxe Klerus und die Kirchensänger benützten Gesangbücher mit einer reformierten Neumennotation des 19. Jh.s. Wellesz hatte das Ziel vor Augen, durch paläographische Studien die byzantinischen Melodien zu erschließen. Es ging ihm um die Wiederherstellung der Gesänge, so wie sie in byzantinischer Zeit erklungen waren, und die Wiedererweckung der alten Hymnen in der griechischen Kirche.
Als Grundlage seiner ersten Untersuchungen konnte Wellesz die Arbeiten des deutschen Musikforschers Oskar Fleischer (1856–1933) heranziehen. Diesem war es Anfang des Jh.s gelungen, mit Hilfe der kurzen Einführungen in die byzantinische Notation, der sog. Papadikai, die Notenzeichen in ihrem Intervallwert zu entziffern. Die dynamische und rhythmische Bedeutung der Notation war jedoch noch völlig unklar. Hier setzte die Forschung von Wellesz ein. Er griff auf musiktheoretische Schriften zurück, die allerdings unterschiedliche Traditionen repräsentierten, aus verschiedenen Epochen stammten und zum größten Teil noch unvollständig ediert waren. Durch diesen Bezug auf musiktheoretische Traktate gelang Wellesz jedoch zumindest eine ungefähre dynamische und rhythmische Interpretation der Neumenschrift. 1931 wurden von Wellesz, Carsten Høeg und Henry Julius Westenhall Tillyard in Kopenhagen die Monumenta Musicae Byzantinae begründet. Man stellte sich die Aufgabe, alle musikliturgischen Bücher der byzantinischen Zeit in Faksimile zu edieren, darüber hinaus mit Hilfe von Transkriptionen die Gesänge der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Man legte ein Übertragungssystem fest, das auf die Forschungen von Wellesz zurückgeht. Für jedes Zeichen der byzantinischen Neumenschrift wurde eine Entsprechung aus der modernen Notenschrift entnommen. Der 1. Band der Transcripta-Serie beruhte in erster Linie auf der Übertragung der Gesänge aus dem Codex ÖNB theol. gr. 181 durch Wellesz. Dieser kam in seinen Melodieuntersuchungen zu dem Ergebnis, dass im byzantinischen Kirchengesang das Kriterium für die Zuordnung einer Melodie zu einem Modus (griech. echos) nicht von einer bestimmten Skalenstruktur abhängig ist, sondern dass jeder der 8 byzantinischen Modi aus charakteristischen melodischen Formeln besteht. Wellesz erachtete das mittelalterliche Gesangsrepertoire als rein diatonisch, bestehend aus Ganz- und Halbtönen. Er vermutete, dass unter türkisch-arabischem Einfluss gewisse Chromatismen in den byzantinischen Gesang übernommen worden waren. Bei Untersuchung der frühesten musikalischen Denkmäler ist jedoch zu erkennen, dass chromatische Alterationen bereits in der ältesten Gesangstradition vorhanden gewesen sein dürften. In byzantinischer Spätzeit sind der 2. Hauptmodus und sein Nebenmodus eindeutig dem chromatischen Genos zuzuordnen.
Der 1. Band der Faksimile-Edition der Monumenta Musicae Byzantinae ist ein Chorbuch (ein sog. Sticherarion) aus dem Jahr 1221, der Codex Dalassenos der ÖNB, theol. gr. 181, in mittelbyzantinischer diastematischer Notation. Der 10. Faksimile-Band, ebenfalls ein Chorbuch vom Beginn des 12. Jh.s, ÖNB theol. gr. 136, in paläobyzantinischer adiastematischer Notation, wurde im Jahr 1987 ediert. Seither erscheint im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen der Monumenta Musicae Byzantinae das Corpus Scriptorum de Re Musica, in dem die Edition der theoretischen Schriften zur byzantinischen Kirchenmusik unternommen wird. Nachdem einzelne Traktate, besonders ab dem Ende des 19. Jh.s publiziert worden waren, gelang es erstmals Lorenzo Tardo, einen vorläufigen Gesamtüberblick über die in zahlreichen, meist in Musikhandschriften ab dem 14. Jh. überlieferten Abhandlungen zu geben. Die Edition im Corpus Scriptorum de Re Musica bringt neben dem Text in griechischer Sprache auch eine Übersetzung und einen Kommentar sowie ausführliche Indices.
O. Fleischer, Die spätgriechische Tonschrift (Neumenstudien 3) 1904; C. Høeg et al., Sticherarium 1935; L. Tardo, L’Antica melurgia bizantina nell’interpretazione della scuola monastica di Grottaferrata 1938; E. Wellesz in Liturgiegeschichtliche Forschungen 6 (1923); E. Wellesz in Byzantion 5 (1930); E. Wellesz in Byzantinische Zs. 33 (1933); E. Wellesz, Die Hymnen des Sticherarium für September 1936; E. Wellesz, A History of Byzantine Music and Hymnography 1961; E. Wellesz, Eastern Elements in Western Chant 1967; G. Wolfram, Sticherarium Antiquum Vindobonense 1987.