(I) In römischer Zeit war das Gebiet der Provinz Dalmatia eingegliedert und fiel 530 an Ostrom. Seit dem 7. Jh. sickerten slawische Stämme ein, die sich mit der illyrisch-keltisch-romanischen Bevölkerung vermischten. In den folgenden Jh.en wurde das Gebiet zum Zankapfel zwischen Serben, Kroaten, Byzanz und Ungarn, das im 12. Jh. zeitweise eine gewisse Oberhoheit ausübte, woraus man noch im 19. Jh. staatsrechtliche Ansprüche ableitete.
1453 ist erstmals die Herrschaft der Osmanen über Teile von Ostbosnien bezeugt, 1463 wurde ganz Bosnien, 1482 auch die Herzegowina von den Osmanen endgültig erobert. Die Islamisierung des Landes stieß auf verhältnismäßig wenig Widerstand. Bosnien wurde zu einem von der westlichen Kultur fast völlig abgeschnittenen Agrarland, wo die islamische Kultur und Lebensweise die Menschen vergleichsweise am stärksten von allen europäischen Gebieten des Osmanischen Reiches prägte, gerade deshalb aber auch die nationale, kulturelle und religiöse Vielfalt erhalten blieb.
Während die erste Hälfte des 19. Jh.s von den Kämpfen der rebellischen bosnischen Grundherren gegen die Hohe Pforte geprägt war, führten die dann doch durchgeführten Reformen letztendlich zu keiner Beruhigung der Lage, sondern zu einem Erstarken des christlichen Elementes, so dass es die nächsten 25 Jahre zu intermittierenden Kämpfen zwischen christlichen Aufständischen und den osmanischen Streitkräften kam. Die Aufstände mündeten schließlich in den russisch-türkischen Krieg von 1877/78 und den Berliner Kongress von 1878. Auf diesem erhielt Österreich-Ungarn von den europäischen Mächten das Mandat zur Okkupation von B.-H. (unter Beibehaltung der formellen Souveränität des Sultans), der 1908 im Anschluss an die jungtürkische Revolution die Annexion folgte.
Auf rund 51.000 km2 lebten 1879 etwa 1.160.000 Einwohner, davon waren nicht ganz 43 Prozent Orthodoxe, knapp 39 Prozent Muslime und 18 Prozent Katholiken. Ende 1910 war die Bevölkerung auf knapp 1.900.000 Einwohner angestiegen. Der Anteil der Orthodoxen blieb fast unverändert, der der Katholiken war auf beinahe 23 Prozent gestiegen, der der Muslime dementsprechend auf 32 Prozent gefallen. Nach dem Abschluss der militärischen Operationen (die sich schwieriger gestalteten als man angenommen hatte) setzte Österreich-Ungarn eine zivile Verwaltung ein. Die beiden Länder wurden weder Österreich noch Ungarn zugeordnet, sondern in Art eines Kondominiums durch das Gemeinsame (Reichs-) Finanzministerium verwaltet, das auch nicht den beiden Parlamenten sondern den Delegationen verantwortlich war.
B.-H. blieb ein multikonfessionelles Land, die drei hauptsächlichsten Konfessionen entwickelten sich zu „Konfessions-Nationen“, die nicht – wie sonst – durch Sprachbarrieren getrennt waren, sondern durch verschiedene Wertmaßstäbe und Vorstellungen über Vergangenheit und Zukunft. Während die Orthodoxen allmählich zu Serben wurden und die Katholiken zu Kroaten, entwickelten die Muslime unter tatkräftiger Mithilfe der österreichisch-ungarischen Behörden eine eigene bosnische Nationalität.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges schloss sich B.-H. dem „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, dem späteren Jugoslawien, an. Im Zuge des Auflösungsprozesses dieses Staates erklärte Bosnien 1991/92 seine Selbständigkeit, was von einem blutigen (Bürger)Krieg gefolgt war, der schließlich nur um den Preis einer völligen Aufgabe des ehedem immer noch multikulturellen Charakters dieses Gemeinwesens beendet werden konnte.
(II) Die Musik im mittelalterlichen bosnischen Staat ist noch ungenügend erforscht. Die bekannten Quellen (am reichhaltigsten ist das Archivmaterial von Dubrovnik/HR) sprechen von iocalutores, ystriones, cugularii, buffones, piffari, lautarii, tubetae, gnacharini u. ä. Diese Musiker (namentlich wird nur ein gewisser Mrvac im Dienst am Hof von Herzog Stjepan Vukčić Kosača [ca. 1404–66] erwähnt) wirkten an den Höfen von Herrschern und reichen Feudalherren, in den religiösen Zentren und später in den Städten.
Die interessantesten Angaben beziehen sich auf die Teilnahme von bosnischen Musikern am St.-Blasius-Fest in Dubrovnik. 1457 beteiligten sich 14 und 1459 16 Künstler aus B. Am Hof von Herzog Stjepan Vukčić Kosača gab es eine Orgel und ein Pfeiferensemble. Das Musikleben wurde auch durch die Mitwirkung von Dubrovniker Musikern an Festlichkeiten der bosnischen Herrscher bereichert. Die Kirchenmusik ist noch weniger bekannt. Als sicher wird angenommen, dass der Franziskanerorden die Liturgie der Katholischen Gottesdienstordnung einführte, wahrscheinlich in einer diesem Bereich angepassten Form, und ebenfalls wahrscheinlich ist die Annahme eines Musikrituals in der sog. Bosnischen Kirche (eine „missa quotidiana“ kann man [2001] von alten Franziskanern immer noch hören, „regentes chori“ bewahren sie durch mündliche Überlieferung vor dem Vergessen; es gibt Aufnahmen und Transkriptionen, die allerdings noch nicht veröffentlicht worden sind).
Die Periode der Türkenherrschaft in B. und H. liefert etwas mehr Angaben, insbesondere über die Kirchenmusik des westlichen und des östlichen Rituals. Unter den franziskanischen Geistlichen, die eine musikalische Tätigkeit entfalteten, werden genannt: Mato Banjalučanin (Matheus Bartl, 17. Jh.), der 1687 ein Buch Regulae cantus plani pro incipientibus schrieb, Marijan Aljinić (17. Jh.), Vice Vicić (1734 Fojnica/BiH – 1796 Fojnica), Komponist von Messen, Stjepan Marjanović († 1848 Kraljeva Sutjeska/BiH), Autor der Sammlung Missae novissimae sanctorum (1846) u. a. Sie wirkten in den Franziskanerklöstern in Kraljeva Sutjeska, Kreševo, Fojnica und Sarajevo.
Der Name Franciscus Bossinensis (Franjo Bosanac, ca. 1480/90–?), von dem bei Petrucci zwei Sammlungen von Lautenabsetzungen erschienen sind (Tenori e contrabasi intabulati col sopran, Venedig 1509 und 1511: Frottolen und Ricercari im Stil der frühbarocken Monodie) könnte auf bosnische Herkunft verweisen. Er könnte unter den seit 1450 am Hof des Königs von B. tätigen Instrumentalisten zu suchen sein.
Die Periode der österreichisch-ungarischen Besetzung von B. und H. bietet eine Reihe ausführlicherer Angaben. Es kommt zum ersten Mal zu einer systematischen Organisation des Musiklebens und zu einem starken europäischen kulturellen Einfluss. Es werden musikalische Veranstaltungen, Kammer- und Symphoniekonzerte, Opern-, Operetten- und Ballettaufführungen und zwar vorwiegend mit gastierenden Künstlern veranstaltet. Gesangvereine werden gegründet: ein „Männergesangverein“ und dann auch national orientierte Gesangvereine wie Njeguš, Gusle, Trebević, Majevica, Nada [Hoffnung],Jedinstvo [Einheit], Gajret, Lira [Lyren],Proleter [Proletarier], Sloga [Eintracht]. Die ersten Chorleiter und Chormusikkantoren waren ihrer Herkunft nach meist Ausländer: Josip Vancaš (1859 Sopron/H – 1932 Zagreb), Karlo Pienta (1869 Cernik/HR – 1902 Sarajevo), J. Fučik, Josip Hladek (Cladek; 1870 Mokrice/SLO – 1940 Maribor), Franjo Maćejovski (Matéjovský; 1871 Nechanice/Böhmen – 1938 Sarajevo), Robert Tolinger (Tollinger; 1859 Pograth/Böhmen [Podhrad/CZ] – 1911 Šabac/Serbien), Hugo Doubek (1852 Strenice/Böhmen – 1897 Mostar/BiH), Bogomir Kačerovski (Kačerovský; 1873 Litomyšl/Böhmen – 1945 Zagreb). Auch die symphonische Musik entwickelt sich, v. a. durch das Wirken von tschechischen Musikern und Militärkapellmeistern (Militärmusik). In dieser Periode ragte die Persönlichkeit des tschechischen Komponisten Franjo Maćejovski (Matéjovský) hervor, der in Banja Luka und später in Sarajevo als Komponist von Chören, Sololiedern, Singspielen u. ä. wirkte und darüber hinaus auch als Dirigent und Pädagoge tätig war. Ludvig Kuba (1863 Poděbrady/Böhmen – 1956 Prag), ebenfalls Tscheche, sammelte im Bereich von B. und H. über tausend Volkslieder und veröffentlichte sie in einer Publikation des bosnisch-herzegowinischen Landesmuseums Glasnik Zemaljskog muzeja za BiH.
Die Periode zwischen den beiden Weltkriegen (1918–41) wird durch bedeutsame Leistungen im Bereich eines organisierten Musiklebens v. a. in Sarajevo gekennzeichnet, das als Kulturzentrum hervorragt. In dieser Zeit kommt es auch zu einem regen Austausch mit andern jugoslawischen Zentren. Das erste in einer Reihe wichtiger Ereignisse ist die Gründung der offiziellen Bezirksmusikschule in Sarajevo (1920), der ersten subventionierten musikpädagogischen Institution in B.-H. Unterrichtet wurden Klavier, Sologesang, Streich- und Blasinstrumente sowie theoretische Fächer. Unter den Lehrkäften, die auch eine Konzerttätigkeit entfalteten, sind besonders hervorzuheben: Vinka Čaleta (Sopranistin; 1887 Zagreb – 1932 Sarajevo), Vladislav Kostić (Bariton), Ladislav Pešek (Bass), Klemens Menschik (Pianist; 1890 Teschen [Tešin/CZ] – ?). Bald darauf wurde die Sarajevoer Philharmonie gegründet (1923), eine Institution, die außer regelmäßiger Konzerttätigkeit noch eine Reihe weiterer Aufgaben in ihr Arbeitsprogramm aufnahm, u. a. die Fürsorge für Künstler, den Aufbau einer Musikbibliothek und die Einrichtung eines Musikhauses. Ihr erster Präsident war Bogdan Milanković (1885 Dalj/HR – 1966 Sarajevo), Professor der Romanistik, Musikologe und Geigenbauer. Die ersten Dirigenten der Sarajevoer Philharmonie waren Aleksandar Lukinić (* ?, † ?), Josip Roždjalovski (* ?, † ?), Edo Kšenek (* ?, † ?), Beluš Jungić (1892 Sarajevo – 1968 Sarajevo) und vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Oskar Danon (* 1913 Sarajevo).
Das Nationaltheater wurde 1921 in Sarajevo gegründet. Für die Entwicklung der Musikkultur ist von Bedeutung, dass eine spezifische Form nationaler Romantik, das Komad s pjevanjem ([Stück mit Gesang], Singspiel), gepflegt wurde. Kurze Zeit blühte die Operette (1923–24) und die Oper (1928–29). Für die Bedürfnisse des Musiktheaters und für musikalische Nummern wurde ein eigenes Theaterorchester gegründet. Bis 1941 fanden auch zahlreiche Gastspiele mit Opern-, Operetten- und Ballettaufführungen statt. Das Komad s pjevanjem weist mit seiner Thematik aus dem Leben nationale Merkmale auf und steht unter dem Einfluss von folkloristischen Musikelementen (Nationalstil). Die ersten schrieb Franjo Maćejovski (Matéjovský), dann Beluš Jungić (Almasa), der langjährige Dirigent des Theaterorchesters, außerdem in Banja Luka Ivan Dominis, Josip Jiranek (* Ledce/Böhmen – 1940 Prag), Vlado Milošević (1901 Banja Luka/BiH – 1990 Banja Luka) und Jaroslav Plecity (1901 Kladno/Böhmen – 1961 Banja Luka). Das Theater in Banja Luka wurde 1930 gegründet.
Die bestehenden Gesangvereine setzen ihr Wirken fort. Daneben entstehen auch neue (Pelagić [nach dem Schriftsteller Vaso P.], Proleter). Chordirigenten sind: Cvjetko Rihtman (1902 Rijeka/HR – 1989 Sarajevo), Vladislav Kostić, Josip Kaplan (* 1910 Krško/SLO – 1996 Lovran/HR), Jaroslav Plecity, Kosta Travanj.
Neben der Komposition von Singspielen pflegen die bosnisch-herzegowinischen Komponisten auch andere Formen: künstlerische Bearbeitungen von Volksliedern als Liederkränze, Chöre, Sololieder, Orchesterkompositionen, dann Operetten, originale Orchesterkompositionen, Klavierwerke. Vertreter dieser künstlerichen Richtung sind: Franjo Maćejovski (Matéjovský), Bogomir Kačerovski (Kačerovský), Beluš Jungić, Ivan Demeter (* 1905 Zvornik/BiH – 1990 Sarajevo), Josip Majer (1888 Horosedl/Böhmen [Hořesedly/CZ] – 1965 Sarajevo), Vlado Milošević, Jaroslav Plecity, Cvjetko Rihtman, Josip Kaplan, Tihomil Vidošić (1902 Boljun in Istrien/HR – 1973 Zagreb), Alfred Pordes (1907 Sarajevo – 1941 [Ort?]).
In der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen feste Grundlagen für ein professionell organisiertes Musikleben. Sarajevo bleibt das Musikzentrum, aber ein bedeutsamer Wandel vollzieht sich auch in Mostar, Banja Luka und Tuzla. Die ersten wichtigen Ergebnisse sind im Bereich der Gründung von professionellen Musikinstitutionen zu verzeichen. In Sarajevo wurde 1945 die Staatliche Musikmittelschule (später MSch.) eröffnet und andere Musikmittelschulen. Eine MAkad. (mit Musikwissenschaft) wurde 1955 in Sarajevo gegründet, nachdem man namhafte Fachkräfte aus Zagreb, Belgrad und Ljubljana zur Mitarbeit gewinnen konnte. Neben einer Reihe von Musikgrundschulen in allen größeren Städten bedeuteten diese Institutionen den unerlässlichen Grundstock für die Entfaltung aller Formen musikalischen Wirkens.
MGG 2 (1995); NGroveD 4 (2001); Z. Kučukalić, The Development of Musical Culture in Bosnia-Hercegovina 1967; Z. Kučukalić in Muzička enciklopedija 1 (1971); G. Doliner in Sveta Cecilija 2–3 (1978); T. Polomik in Stud. mus. 1990; L. Kanlić, Musik und Kultur in B.-H. zur Zeit der k. u. k. Monarchie, Dipl.arb. Wien 1999.
Gorana Doliner