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Ballett
Theatertanz. (I) Ausgangspunkt für das B. in Österreich war die italienische Tanzkultur der ausgehenden Renaissance. Sowohl dynastische Bindungen als auch politische Gründe waren dafür verantwortlich, dass italienischer Einfluss für den theatralischen Tanz bis weit ins 18. Jh. bestimmend blieb. Die ab Beginn des 17. Jh.s dominierende französische Tanzkultur blieb aufgrund der außenpolitischen Konstellation bis zum Beginn des 18. Jh.s ohne deutlichen Einfluss. Spektakulärere B.aufführungen am Wiener Hof sind ab 1622 verbürgt, doch hatte bereits Cesare Negri in seinem berühmten Traktat Le Gratie d’Amore (Mailand 1602) von seinem am Hofe Rudolfs II. wirkenden Schüler Carlo Beccaria als Tanzmeister berichtet. Text-, Bild- und Musikquellen dokumentieren, dass die Festivitäten sowohl an den Habsburger Höfen in Wien, Prag, Graz, Innsbruck wie auch am fürsterzbischöflichen Hof in Salzburg in der 1. Hälfte des 17. Jh.s kaum Unterschiede zu den gleichzeitig in Italien veranstalteten höfischen Spektakeln aufweisen. Während des gesamten 17. Jh.s dominierte am Wiener Hof die italienische Tanzmeisterdynastie der Ventura, deren Ahnherr Santino, später Santo Ventura, aus Venedig kommend, über den Hof des Salzburger Fürsterzb.s Marcus Sitticus nach Wien kam. Ab der 2. Hälfte des Jh.s findet theatralischer Tanz – wie generell in der Oper italienischer Prägung – während der Zwischenakte und v. a. während der Herrscherhuldigung der die Oper abschließenden Licenza statt. Neben adeligen Laientänzern traten in solchen Darbietungen zunehmend Berufstänzer auf, wie C. Appelshofer, F. Torti, Pietro Levassori della Motta, F. J. Selliers, T. Gumpenhuber, die z. T. Ahnherrn von Tänzer- und Ballettmeisterdynastien waren. Ab 1710 wirkte der erste namhafte französische Tänzer und B.meister A. Phillebois (d. Ä.) mit seiner Familie am Wiener Hof. In der Folgezeit dürfte es zu einer Mischung zwischen dem von Akrobatik und Sprungtechnik gekennzeichneten italienischen B.stil und der eleganteren, technisch raffinierteren französischen Form theatralischen Tanzes gekommen sein. Ab 1734 ist der bedeutende Tänzer und Choreograph F. A. Hilverding als Hoftänzer, ab 1737 als Hofballettmeister nachweisbar. Er leitete in den 1750er Jahren die umfassende Ballettreform des 18. Jh.s ein. Hierbei wurden die zumeist aus Divertissements und derbdrastischen komischen Szenen (mit Commedia dell'arte-Einfluss) bestehenden B.abschnitte, die lediglich als Zusätze zur Opern- bzw. Schauspielhandlung fungierten, mit Hilfe pantomimischer Elemente (Pantomime) zu vollgültigen Handlungsballetten ausgebaut. Dieses Ballet pantomime, das v. a. unter der Intendanz des Grafen G. Durazzo große Unterstützung fand, wurde von Hilverdings Schüler G. Angiolini ab 1758 und von J. G. Noverre ab 1767 in Wien zu seinem Höhepunkt im 18. Jh. geführt, insbesondere mit Werken wie Le Festin de Pierre (Angiolini, Chr. W. Gluck 1761) und Semiramis (Angiolini, Gluck 1765) und Les Horaces (Noverre, J. Starzer 1774). Startänzer des Wiener B.s dieser Epoche (1750er Jahre bis 1776) waren v. a. Angiolini und seine Gattin Theresa Fogliazzi, Louise Bodin, Santina Zanuzzi, N. Trancard, Marguerite Delphin, G. Vestris, Ch. LePicq. Das neuartige Handlungsb. (ballet en action, danza parlante), das in seiner Wiener Ausprägung auch durch seine hohen musikalischen Qualitäten brillierte – als Komponisten fungierten neben Gluck Starzer und F. Aspelmayr –, fand in ganz Europa Verbreitung.

1771 wurde auf Betreiben Noverres auch eine Theatral-Tanzschule an den Wiener Bühnen eingerichtet. 1776–90 kam es aufgrund der persönlichen B.-Aversion Kaiser Josephs II. zu einer vorübergehenden Stagnation der B.entwicklung. Mit der Berufung A. Muzzarellis 1791 als Hofballettmeister und den vielbeachteten Gastspielen von S. Viganò und seiner Gattin Maria Medina wurde eine neue Epoche glanzvoller B.geschichte in Wien eingeleitet.


Literatur
M. H. Winter, The Pre-Romantic Ballet 1974; Seifert 1985; B. A. Brown, Gluck and the French Theatre in Vienna 1991; A. Sommer-Mathis, Die Tänzer am Wiener Hofe 1992; S. Dahms in W. Gratzer/A. Lindmayr (Hg.), [Fs.] G. Croll 1992.


(II) Die Auseinandersetzung mit dem Theatertanz des 19. Jh.s beschränkte sich bislang auf die Aufzählung von Daten, Fakten und vereinzelten Tänzerbiographien, eine Vorgehensweise, die auch aus dem Werkcharakter des Theatertanzes selbst, der wenig Analysierbares hinterlässt, resultiert. Doch gerade die fragliche Zeit erschließt sich wenig aus solch einer Aneinanderreihung, sie ist vielmehr im Spannungsfeld von Institutionen und gesellschaftspolitischen Umwälzungen des 19. Jh.s sowie den kulturellen Sphären Italiens und Frankreichs zu sehen, die seit je den Theatertanz bestimmten. Niemals einer kontinuierlich sich entwickelnden Linie folgend, war das B.geschehen stets Reaktion auf jenen Aktionsradius, der ihm innerhalb der Institution Oper zugestanden wurde.

Das neue Jh. zeichnete sich in Wien bereits 1793 mit dem Engagement des Tänzerpaares Maria Medina und S. Viganò ab, deren Tanzweise von „Ausdruck“ und „Empfindung“ getragen war. Damit fegte das Paar die herrschende Regelhaftigkeit hinweg. Der wechselnden politischen Lage gemäß war das B.geschehen Wiens in der Folge von italienischen bzw. französischen Choreographen bestimmt, die weniger ein Repertoire zu bilden als Novitäten herauszubringen trachteten. Viganò kreierte 1801 sein dank der Musik L. v. Beethovens bekanntestes Werk Die Geschöpfe des Prometheus, über dessen Erscheinungsbild nur mehr spekuliert werden kann. Schon zu Beginn des neuen Jh.s tauchten später so bekannte Namen wie T. Taglioni und J. Coralli in Wien auf, mit L. Duport gastierte der erste Startänzer des 19. Jh.s in Wien. Als Höhepunkt von Duports Wiener Schaffen gilt Aschenbrödel (M: Pasticcio, 1813), in dem sich der Choreograph bewusst von den mythologischen und allegorischen Stoffen löste und sich der romantischen Poesie und Idylle zuwandte. Schon kurz davor hatten J. Aumer und L. Henry in Wien zu arbeiten begonnen. Henry verstand es, die beiden vorherrschenden Tanzstile miteinander zu verbinden: Die französische Pantomime wurde für lyrische und idyllische Passagen herangezogen, die italienische für heroische und historische Themen. Aumer brachte im Kärntnertortheater, das seit 1811 zur alleinigen Spielstätte des Hofopernb.s geworden war, zunächst Erfolge anderer, dann die wiederholt nachgespielten Pagen des Herzogs von Vendôme (M: A. Gyrowetz, 1815) heraus. Das Besondere dieses B.s war die erotisch empfundene en-travestie-Darstellung des Militärs, ein Topos, der in der 2. Hälfte des 19. Jh.s bevorzugt thematisiert wurde. E. Bigottini, die als Lieblingstänzerin Napoleons während des Wiener Kongresses in Wien tanzte, aber auch A. Brugnoli setzten in dieser Zeit Maßstäbe für Wiener Tänzergenerationen.

Noch wichtiger als F. Taglionis in Wien uraufgeführtes, später ebenfalls oft nachgespieltes Schweizer Milchmädchen (M: Gyrowetz 1821), war das 1822 in Wien erfolgte Debüt seiner Tochter M. Taglioni. Schon damals begann F. Elßler sowohl durch eine besondere Affinität zum Charakterfach als auch durch eine ausgeprägte dramatische Begabung Aufmerksamkeit zu erregen. Kaum bekannt geworden, verließ sie zusammen mit ihrer Schwester Therese Wien und war bis zu ihrem Abgang von der Bühne hier nur mehr als Gast zu sehen. Noch heute wird die Elßler mit der „Cachucha“, einem spanischen Charaktertanz, assoziiert, den sie 1836 in Paris in das B. Le Diable boiteux (M: Casimir Gide) eingelegt hatte. Mit diesem Tanz errang nicht nur die Elßler weltweite Berühmtheit, auch diejenigen, die den Tanz parodierten (in Wien der berühmte Charakterkomiker W. Scholz), wurden ihrerseits gefeiert.

Schon vor dem Debüt der Taglioni hatte Aumer eine bedeutsame Entwicklung in Gang gesetzt. In Alfred der Große (M: W. R. v. Gallenberg, 1820) stellte er in einer Traum-Szene eine Gruppe weiß gekleideter, sich unisono bewegender Tänzerinnen auf die Bühne. Für den in anderen Gattungen bereits aufgegriffenen Themenkreis des „Phantastisch-Irrealen“ war damit ein unverwechselbares Ausdrucksmittel gefunden. In wechselnder Konfiguration, einem Orchesterpart ähnlich, begleitet die Gruppe die Solisten, umrahmt, kommentiert oder wirkt atmosphärebildend. Der weißen Gruppe wurde der „moderne“ Mann gegenübergestellt, ein in seinen Lebensumständen Zerrissener, eben schwankender Held. Verlockt von einem Wesen aus einer anderen Welt, das sich als Zeichen seiner Wesenhaftigkeit auf die Spitze des Fußes erhebt, verlässt der Schwankende das farbige, in einem demi-caractère-Idiom gezeichnete Leben und flüchtet in das weiße Reich der Geister, das auch als die eigene Seelenlandschaft angesehen wurde.

Das mit Paris in engstem Kontakt stehende Wien übernahm rasch die dort entstehenden Schlüsselwerke der Romantik: Zunächst Robert der Teufel (M: G. Meyerbeer, Wien 1832), eine Oper, die mit ihrer groß angelegten, dramaturgisch verankerten Tanzszene für die Entwicklung des romantischen Balletts wichtig geworden war; dazu Aumers La Somnambule (M: Ferdinand Hérold, 1827, Wien 1830), Taglionis La Sylphide (M: Jean-Madelaine Schneitzhoeffer, 1832, Wien 1839) und J. Perrots und Corallis Giselle (M: Adolphe Adam, 1841, Wien 1842). Ab nun bestimmten Ballerinen und ihre Partner das Geschehen. Zu diesen gehörten: F. Cerrito, A. Guerra, C. Grisi und Jules Perrot (er brachte 1838 in Wien Der Kobold, M: L. W. Reuling, heraus und verkörperte selbst die Titelrolle). Dazu kamen: Marie Taglioni, G. Carey, Lucile Grahn und Arthur Saint-Léon. Wien wurde aber auch zum Ausgangspunkt für internationale Karrieren: Neben den Elßlers reüssierten Th. Heberle und K. Lanner im Ausland. Allmählich begann Paris seine Vorbildfunktion zu verlieren, ein Grund dafür war die Erschöpfung der Thematik des Phantastisch-Irrealen. Fanny Elßlers Abschied von der Bühne (1851) setzte einen Schlusspunkt hinter die Ära des hochromantischen B.s.

Spätestens seit A. Bournonvilles Napoli oder der Fischer und seine Braut (M: Edvard Helsted, Holger Simon Paulli, 1836, Wien 1856) hatte sich eine Umakzentuierung des Genres etabliert. Das dem Volkstanz entwachsene Halbcharakterfach, das schon immer ergänzender Teil des romantischen Kosmos gewesen war, wurde nun Stück tragend, darüber hinaus, wie der Titel es bereits sagt, „städtisch“ nobilitiert. Der urbane Blick brachte dem Fach eine neue Note, er verwandelte zudem das Phantastische in magische Zauberei. Der auch heute noch gefeierte Bournonville, der 1855/56 das Wiener B.ensemble leitete, konnte sich nicht gegen P. Taglioni, den Sohn Filippos, durchsetzen. Seitdem dieser schon damals international Gefeierte mit Satanella (M: Cesare Pugni, Peter Ludwig Hertel, 1853) in Wien sein erstes B. herausgebracht hatte, blieb er für zwei Jahrzehnte (bis 1874) bestimmend. Als Ballerina fungierte auch in Wien seine Tochter, M. Taglioni d. J.

Die Verstädterung des B.s wurde mit Pasquale Borris Carnevals­Abenteuer in Paris (M: M. Strebinger, 1858) und Taglionis Flick und Flock (M: Hertel, Berlin 1858, Wien 1865) fortgeführt. Als realistisch gezeichnete mehraktige Charakterkomödien waren beide Werke in einem kleinbürgerlichen Milieu angesiedelt. Die zweite von Taglioni gepflegte Gattung behielt den romantischen Grundkonflikt bei, dehnte die ehemals zweiaktige Form jedoch durch dekorative, groß angelegte Ensembleszenen, die „Gruppierungen“ oder „Evolutionen“ genannt wurden.

Die Nationalisierungsbestrebungen der Zeit brachten den Wunsch nach einem nationalen B.ensemble und einer nationalen Schule (Nationalstil) mit sich. Diese wurde unter B.meister C. Telle, der 1859 als Statthalter Taglionis aus Berlin gekommen war, installiert und 1870 institutionalisiert. Spätestens seit der Übersiedlung in die 1869 eröffnete Hofoper am Ring brach auch für das B. eine neue Ära an. Einhergehend mit der Heroisierung von Künstler und Kunstwerk entstand ein neues, erzieherisch ausgerichtetes Werkverständnis. Dieses trennte nun „seriöse“, künstlerisch wertvolle Werke, die allein an einem Abend gegeben wurden, von „nicht seriösen“, unterhaltenden B.en, die zusammengenommen oder im Anschluss an eine Oper gespielt wurden. Der neue Anspruch brachte neue Formen und Mittel, Masseneffekte und eine reiche Ausstattung begannen zu dominieren, darüber hinaus wurde die Trennung zwischen den Rollenfächern immer tiefer. Als Beispiel dafür ist Taglionis „geschichtliches Ausstattungsb.Sardanapal (M: Hertel, Berlin 1865) anzusehen. 1869 als erstes B. im Haus am Ring gegeben, bezog es seinen erzieherischen Wert aus der „Authentizität“, mit der es letzte archäologische Erkenntnisse auf die Bühne brachte. In die von Mimikern getragene Erzählung des nun entstehenden „großen B.s“ wurden geometrisch geformte „Ballabiles“ (Ensembleszenen) geschoben, deren dekorativer Mittel- und Höhepunkt der von der Primaballerina und dem „Pas-de-deux-Tänzer“ ausgeführte Pas de deux war. Auch Wien hatte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges italienische Primaballerinen: Guglielma Salvioni, L. Cerale, I. Sironi, Josefine Gandini und C. Cerri. Führende Mimiker unter J. Hassreiter waren K. Abel, L. Frappart und J. Price. Das Ensemble setzte sich nun fast ausschließlich aus Absolventen der hauseigenen Schule zusammen. Erste Kräfte des neuen Jh.s waren Elsa Strohl v. Strohlendorf, Carl Raimund sen. sowie C. Godlewski.

Nachhaltiger als die Léo-Delibes-B.e Coppélia und Sylvia, die 1876 und 1877 herauskamen, wirkte das 1885 in Wien einstudierte B. Excelsior (Choreographie: Luigi Manzotti, M: Romualdo Marenco, Mailand 1881). Der Aufbau dieser „Azione coreografica“ blieb bis über die Jh.wende in Europa verbindlich. Eingebettet in ein bürgerliches Ambiente, das Aktuelles der Entstehungszeit aufgriff, war das Wesentliche des B.s sein Nummerncharakter, der einen schnellen Wechsel des Gebotenen ermöglichte. In Menge und Ordnung der Tänzer oft militärischen Aufmärschen ähnlich, war die Präsentation von Tänzerinnen ein Hauptaspekt der Choreographie. Hassreiter, der bis dahin als erster Tänzer tätig gewesen war, paraphrasierte das italienische Vorbild in dem „pantomimischen Divertissement“ Die Puppenfee. Der beispiellose Erfolg dieses B.s trug Hassreiter den Posten eines B.meisters (1891–1918) ein. Seine engsten Mitarbeiter waren der Komponist J. Bayer und die Librettisten Franz Gaul und Heinrich Regel, zu seinen erfolgreichsten B.en zählten: Sonne und Erde (M: Bayer, 1889), Die Roten Schuhe (M: R. Mader, 1898), Die Jahreszeiten der Liebe (M: Fr. Schubert/arr. J. Lehnert, 1911) und Die Prinzessin von Tragant (M: O. Straus, 1912).

In der Direktionszeit G. Mahlers (1897–1907) kündigte sich das Ende des Hofopernb.s an. Dem 1908 aufgeführten, nachgelassenen Johann-Strauß -B. Aschenbrödel war kein besonderer Erfolg beschieden und auch die Bemühungen, die sich bereits außerhalb der Hofoperntheater bildende Moderne in das Haus am Ring zu holen (z. B. Der Schneemann, Choreographie: Godlewski, M: E. W. Korngold, 1910; Der Schleier der Pierrette, Libretto: Arthur Schnitzler, M: E. v. Dohnányi, 1911), blieben ohne Resonanz.

Der Impuls zur Entwicklung eines „Freien“ Tanzes in Wien ging von den verschiedenen Ausprägungen der Reformbestrebungen sowie den anderen Künsten aus. Schon vor der Jh.wende war für die Literatur, die Malerei und Plastik „die Tanzende“ zum Synonym für die moderne Frau geworden. Diese künstlerische Fiktion wurde in den ersten Jahren des neuen Jh.s von den in Wien gastierenden Amerikanerinnen Loïe Fuller, Isadora Duncan, Maud Allan und Ruth St. Denis, aber auch von der Dänin Gertrude Barrison auf Podien von Künstler- und Konzerthäusern realisiert. In der Folge wurden die Lehren eines François Delsarte oder E. Jaques-Dalcroze zum Nährboden von Tänzergenerationen, die mittels eines nichtkodifizierten, eben „freien“ körperlichen Ausdrucks dem Tanz außerhalb der Institution Oper künstlerisches Ansehen verliehen.

Für Wiens erste Freie Tänzerin, die aus dem Hofopernb. ausgebrochene G. Wiesenthal, waren es die Sezessionisten, die sie und ihre Schwestern Elsa und Berta zu einem eigenen Weg ermutigten. Der Wiener Walzer fand in den Wiesenthals seine idealen Interpreten. In ihrem Sog tanzten, eine heiter-wienerische Note vertretend, Lucy Kieselhausen, Maria Ley und Elsie Altmann.

Zu Beginn der 1920er Jahre überragte G. Bodenwieser besonders durch ihre Gruppenarbeiten die Wiener Vertreter des Freien Tanzes, aber auch ihre pädagogische Tätigkeit (in der privaten Schule ebenso wie in der Staatsakademie [Hochschule für Musik]) fand nachhaltiges Echo. Aus ihrem Kreis lösten sich etwa Hilde Holger, besonders aber G. Kraus, die bis zu ihrer frühen Emigration nach Palästina sowohl durch Solo- wie Gruppenarbeit beeindruckte. Mit der Übersiedlung der Schule Hellerau nach Laxenburg bei Wien (1925) kam mit R. Chladek nicht nur eine der Protagonistinnen des Freien Tanzes nach Wien, durch Schule und Tanzgruppe Hellerau-Laxenburg (unter V. Kratina, ab 1930 unter Chladek) rückte Wien weiter in das Zentrum der Ausdruckstanzbewegung. Bereits Anfang der 1930er Jahre begann sich eine Krise des Freien Tanzes abzuzeichnen. Die Tätigkeit Freier Choreographen für das Opernb., die nach außen hin wie ein Sieg dieser Bewegung über das B. aussah, barg auch schon den ersten Schritt zur Kompromissbereitschaft in sich. Bedingt durch die politische Lage verlor Wien dann einige seiner hervorragendsten Vertreterinnen des Freien Tanzes: 1935 Kraus, 1938 Bodenwieser. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschränkte sich die Bewegung des Freien Tanzes fast ausschließlich auf seinen pädagogischen Bereich. Nur diejenigen wie Grete Wiesenthal oder Chladek, die eine weitergebbare Technik entwickelt hatten, konnten ihre Richtung als Alternative zum B. weiter unterrichten, das in seiner Erscheinungsform nicht zuletzt durch den Freien Tanz eine entscheidende Wandlung erfahren hatte.

Die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erfolgte Umwandlung der ehemaligen Hofoper zog neben der Namensänderung auch eine Verkleinerung der Mitgliederzahl des B.s mit sich, das Ensemble selbst blieb weiterhin Teil der Oper. Diese Konstruktion brachte einerseits die wertvolle Verankerung in einer Institution, behielt andererseits aber jene ausweglose Umklammerung bei, die ein selbständiges Agieren nicht zuließ. B.geschehen entfaltete sich weiterhin gemäß der Gunst des jeweiligen Operndirektors. Diese Abhängigkeit erschwerte die an sich schon mühevolle Suche nach einem neuen künstlerischen Weg. Die Verunsicherung resultierte dabei auch aus der bereits blühenden, dem B. feindlich gegenüberstehenden Freien Tanzlandschaft außerhalb des Hauses.

Das Interesse, das R. Strauss für das B. hegte, half über die schwierigen 1920er Jahre. 1923 gelang es, H. Kröller, der schon 1922 Josephs Legende (M: R. Strauss) herausgebracht hatte, als B.meister an das Haus (bis 1928) zu binden. Kröllers gemäßigter Stil, der Klassik, Moderne wie Freien Tanz zu verbinden suchte, erwies sich als richtig für Wien. Mit der Kreation Schlagobers (1924) kam es zur Zusammenarbeit mit Strauss, eine weitere Kreation war Das Lockende Phantom (M: F. Salmhofer 1927). Junge Solisten neben Primaballerina G. Pichler waren u. a. H. Pfundmayr, A. Krausenecker, R. Raab, T. Losch, T. Birkmeyer und W. Fränzl.

Nach Kröllers Abgang kam das Wiener Staatsopernballett immer mehr in den Einflussbereich der Freien Tänzer. Sascha Leontjew (als B.meister, 1928–30), als Gast Grete Wiesenthal und Valeria Kratina arbeiteten für das Ensemble. Wesentliche Aufführungen dieser Zeit waren Wiesenthals Der Taugenichts in Wien (M: F. Salmhofer 1930) und Kratinas Schneemann (1933, M: E. W. Korngold). M. Wallmann (B.meisterin 1934–38) war eine weitere Vertreterin des Freien Tanzes. Ihre Gabe, Massen zu bewegen, nutzte sie in groß angelegten B.en mit historisierenden Themen oder in der Aufbereitung österreichischen Brauchtums: Das jüngste Gericht (M: G. F. Händel, 1933), Weihnachtsmärchen (M: F. Salmhofer 1933), Fanny Elßler (M: Michael Nador 1934), Die Österreichische Bauernhochzeit (M: F. Salmhofer 1934) und Der liebe Augustin (M: A. Steinbrecher 1936). Als Solisten profilierten sich in dieser Zeit u. a. die spätere Primaballerina J. Drapal und Carl Raimund jun.

Schon 1942 wurde E. Hanka B.meisterin (bis 1958) des Staatsopernb.s. Vom Freien Tanz kommend, gelang ihr nach dem Zweiten Weltkrieg, den von den Besatzungsmächten geforderten Wechsel zum klassischen B. zu vollziehen. Hanka erschloss zum einen in eigenen Versionen das Diaghilew-Repertoire für Wien und brachte ebenfalls erstmals Klassikerinszenierungen heraus, für die B.meister Gordon Hamilton engagiert wurde. Zum anderen arbeitete sie darüber hinaus mit zeitgenössischen Komponisten. Die Premiere anlässlich der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper (1955) brachte die UA von Hankas eigenem Werk Der Mohr von Venedig (M: Boris Blacher), dazu eine Einstudierung von Giselle. Zu den führenden Tänzern des Ensembles zählten: Primaballerina E. Brexner, weiters Margaret Bauer, Chr. Zimmerl, E. Zlocha, W. Dirtl und der Amerikaner Richard Adama. Nach Hankas Tod wechselten die B.meister in rascher Folge: Auf Dimitrije Parlic (1958–62) folgte A. v. Milloss (1963–66 und 1971–74), dazwischen W. Orlikowsky (1966–71). Konnte keiner der Genannten das Repertoire um nachhaltige Kreationen bereichern, wurden seit den 1960er Jahren Meisterwerke so renommierter Choreographen wie Léonide Massine, George Balanchine oder Ninette de Valois in den Spielplan aufgenommen.

Herausragendes Ereignis der 1960er Jahre war die Zusammenarbeit mit R. Nurejew, der für das Staatsopernb. seine Klassikerinszenierungen herausbrachte: Schwanensee (1964) und Don Quixote (1966). Neue Solisten dieser Jahre waren: Ully Wührer, S. Kirnbauer, G. Cech, L. Scheuermann, K. Musil und M. Birkmeyer. 1976–91 leitete mit G. Brunner erstmals ein Theoretiker das Staatsopernb. Repertoireschwerpunkte waren nun die Nurejew-Klassiker, B.e der Neoklassik und des Diaghilew-Repertoires. Dazu kamen B.e damals etablierter bzw. aufstrebender Choreographen. Wichtige Produktionen der Ära Brunner waren John Neumeiers Josephs Legende (1977), Hans v. Manens Grand Trio (M: Fr. Schubert, 1978) und Rudi van Dantzigs Ulysses (M: R. Haubenstock-Ramati, 1979). Junge Solisten der Zeit waren M. Jaska, B. Stadler, Jolantha Seyfried sowie Gyula Harangozó und L. Karl. Überaus erfolgreich waren die Erstellung der Originalfassung der Puppenfee sowie Rekonstruktionen von Arbeiten des Freien Tanzes: Wiesenthal, Chladek und Bodenwieser.

Nach Elena Tschernischova (1991–93) und A. Woolliams (1993–95) übernahm mit R. Zanella 1995 wieder ein Choreograph die Leitung des Staatsopernb.s. Wichtige für Wien entstandene Kreationen seines nunmehr an die 40 Werke umfassenden Œuvres sind: Movements (M: Igor Strawinski, 1996), Alles Walzer (J. Strauß Sohn, Jos. Strauß, Mahler, 1997) und Aschenbrödel (J. Strauß Sohn, 1999).


Literatur
G. Winkler, Das Wiener B. von Noverre bis Fanny Elßler, Diss. Wien 1967; R. Matzinger, Die Geschichte des Balletts der Wiener Hofoper 1869–1918, Diss. Wien 1982; E. Binney, A century of Austro-German Dance Prints 1790–1890, hg. von S. J. Cohen 1971; M. H. Winter, The Pre-Romantic B. 1974; Raab 1994; R. Raab in Jb. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 28 (1972); A. Oberzaucher, 125 Jahre B. im Haus am Ring 1994; A. Oberzaucher, Wiener Staatsopernb. 1622–1997, 1997; G. Manor, The Life and Dance of Gertrud Kraus 1978; G. Oberzaucher-Schüller (Hg.), Ausdruckstanz 1992; G. Oberzaucher-Schüller in [Kat.] Tanz 20. Jh. in Wien 1979; G. Oberzaucher-Schüller in ÖMZ 12 (1980); G. Oberzaucher-Schüller in Tanzdrama 33 (1996); J. Weißenböck in K. Amann/A. A. Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste 1994; A. Amort, Die Gesch. des B.s der Wr. Staatsoper 1918–1942, Diss. Wien 1981; A. Amort in Tanzdrama 29 (1995); R. Land in Tanzdrama 29 (1995); E. Fleissner-Moebius, Erika Hanka und das Wiener Staatsopernb. 1995; G. Brunner in H. Koegler (Hg.), B. 1968, 1968; A. Oberzaucher in H. Regitz (Hg.), Tanz in Deutschland: B. seit 1945, 1984; österreich tanzt 2001.

Autor*innen
Sibylle Dahms
Gunhild Oberzaucher-Schüller
Letzte inhaltliche Änderung
18.2.2002
Empfohlene Zitierweise
Sibylle Dahms/Gunhild Oberzaucher-Schüller, Art. „Ballett‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 18.2.2002, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001f7c7
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10.1553/0x0001f7c7
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