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Anthropologie
Eine komplexe, integrierende und synthetische Wissenschaft über den Menschen; ist in unterschiedliche Entwicklungs- und Sachbereiche gegliedert (philosophische, soziale, kulturelle, biologische, physikalische A.), zu denen auch die A. der Musik gehört. Sie wurde in den 1950er Jahren in der angloamerikanischen Forschung von Alan P. Merriam (1965) begründet und fand zahlreiche Nachfolger. In der Musik-A. tritt der musizierende Mensch in das Zentrum der Untersuchungen. Sie ist ein spezieller Teil der Ethnomusikologie und Vergleichend-systematischen Musikwissenschaft, von denen sie sich konzeptionell und programmatisch in den 1960er Jahren zu separieren suchte. Merriam: „Für den Musikwissenschaftler ist es die Musik per se, für den Anthropologen ist das menschliche Verhalten und das Studium der Musik ein Aspekt der Kultur. Für den Anthropologen ist das wesentliche Studienobjekt das menschliche Verhalten und in diesem Zusammenhang betrachtet der anthropologische Ethnomusikologe alle Aspekte der menschlichen Kultur und Gesellschaft als eine Menge (Gruppe) einfacher Variablen.“ Die A. versteht die Musik als organischen Teil der menschlichen Aktivitäten und seiner Lebensfunktionen. Im Vordergrund stehen nicht die Musik als solche, sondern die musikalischen Fähigkeiten des Menschen, seine Art, die Musik zu nutzen, mit ihr als mit einem individuellen und sozialen Phänomen umzugehen, sie als ein Teil seiner geistigen und materiellen Welt zu verstehen und zu deuten. In Mittel- und Osteuropa fand die neue A. ihre Vertreter und Synthetiker: in Polen Anna Czekanowska (1971) und in Österreich W. Suppan (1984), obwohl der Begriff Ethnologie, Musikethnologie, Ethnomusikologie, Musikalische Volks- und Völkerkunde gemäß der europäischen Wissenschaftstradition im Allgemeinen bevorzugt wurde. In den 1980er und 1990er Jahren hat sich die usprüngliche Gegensätzlichkeit zwischen der Musik-A. und Ethnomusikologie abgeschwächt. In beiden kam es zu einer Einbeziehung musikkultureller, sozialer, verhaltensspezifischer ebenso wie musikstilistischer, musikanalytischer und vergleichender Aspekte, unabhängig davon, ob sie unter der Bezeichnung A. oder Ethnomusikologie subsumiert wurden. Zu den Historikern und Synthetikern der amerikanischen Forschung gehören z. B. B. Nettl und Philip V. Bohlman (1991) ebenso wie John E. Kaemmer, der die neuere Entwicklung folgendermaßen zusammenfasst: „Der anthropologische Zugang zur Musik bestimmt neue Perspektiven des Gegenstandes, denn sie hat die Entdeckung umfangreicher Erkenntnisse über die Musikaktivitäten des Menschen auf der ganzen Welt angeregt. Das Studium der Musik bezieht sich bei jedem Aspekt der Kultur auf vier wesentliche Eigenschaften: auf die Form, ihre Bedeutung, Anwendung und Funktion. Diese vier Merkmale stehen in Beziehung zu beiden Aspekten, zu den eigentlichen musikalischen Klängen und dem Ereignis, bei welchem die Musik aufscheint.“ V. a. der Klang und die Klanglichkeit standen als anthropologische Aspekte im Zentrum der Forschung, mit dem Begriff Klangwelt (sound scape, Schafer 1977) gekennzeichnet. In der europäischen Ethnomusikologie gewann in den 1980er Jahren der anthropologische, kultur- und sozialanalytische Zugang, neben dem vergleichend-systematischen, immer größeren Einfluss, wie das die Arbeiten von W. Graf, F. Födermayr, G. Kubik und weiteren Forschern aus dem west-, mittel-, südost- und osteuropäischen Raum zeigen, und erhielt eine neue integrative musikwissenschaftliche Bedeutung.
Literatur
A. P. Merriam, The anthropology of music 1964; A. P. Merriam in Ethnomusicology 13, 2 (1969); B. Nettl/Ph. V. Bohlman, Comparative musicology and anthropology of music 1991; W. Suppan, Der musizierende Mensch 1984; R. M. Schafer, The tuning of the world 1977; M. P. Baumann/A. Simon/U. Wegener (Hg.), European studies in ethnomusicology 1992; A. Czekanowska, Etnografia muzyczna. Metodologia i metodyka [Musikalische Ethnographie. Methodologie und Theorie] 1971; J. E. Kaemmer, Music in human life 1993; L. Gürmen/A. Leitner, A. 1995.

Autor*innen
Oskár Elschek
Letzte inhaltliche Änderung
18.2.2002
Empfohlene Zitierweise
Oskár Elschek, Art. „Anthropologie“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 18.2.2002, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001f707
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