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Wiener Klangstil
Ein relativ neuer, noch nicht exakt definierter Begriff, der zur Umschreibung der Charakteristiken des Musizierstils im Bereich der Orchester- und Kammermusik in Wien benützt wird. Er findet sich erstmals 1966 in einem Schreiben des damaligen Präsidenten der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, H. Sittner an das Bundesministerium, in dem er die Neugründung von sechs wissenschaftlichen Instituten beantragte, darunter ein Institut für Wr. K. Dieses existierte bis 1980 unter dem Institutsleiter Hans Hadamowsky (1906–86) eher nur auf dem Papier. 1973 erschien dessen Werk Die Klang- und Musiziertradition der Wiener Bläserschule im Eigenverlag, in dem erstmals die Besonderheiten der Wiener Musiziertradition festzulegen versucht wurden.

Ab 1980 folgten Untersuchungen auf naturwissenschaftlicher Basis zu den baulichen, akustischen und spieltechnischen Besonderheiten der Wiener Oboe, des Wiener Horns und der Wiener Pauke. Zahlreiche nationale, v. a. aber internationale Publikationen verankerten den Begriff Wr. K. im In- und Ausland, ohne jedoch eine Definition bereitzustellen. Inzwischen versteht man unter dem Begriff Wr. K. eine sich bezüglich der stilistischen Ausführung und der klanglichen Präferenzen von internationalen Gepflogenheiten zu unterscheidende Interpretation von Werken der Orchester- und Kammermusikliteratur durch Wiener (und z. T. österreichische) Orchester. Als solche gelten folgende Merkmale:

Bei Bläsern sparsamer und gezielter Einsatz des Vibratos als Ausdrucks- und nicht generell als Stilmittel; Präferenz für Instrumente, die eine starke Klangfarbenänderung in Abhängigkeit von der gespielten Dynamik ermöglichen; bei Oboe, Horn, Posaune und Tuba aufgrund der engeren Mensur bzw. des leichteren Rohrblattes generell eine hellere (teiltonreichere) Klangfarbe. Bei Klarinette und Trompete ist jedoch eine gegenüber dem international üblichen Instrumentarium wesentlich dunklere (teiltonärmere) Klangfärbung charakteristisch.

Schlagwerk: Bei Pauken und Trommeln werden ausschließlich (und nur in Wien) Ziegenfelle eingesetzt. Durch die bei diesen stärker ausgeprägten radialen Schwingungsmoden ist der Anteil der tonalen Komponenten im Klang der Wiener Pauke wesentlich höher. Darüber hinaus ist eine den Felleigenschaften angepasste Wahl des Schlägelkopfmaterials und der Schlägelhaltung feststellbar.

Bei den Streichern gibt es keine Unterschiede zum Instrumentarium anderer internationaler Orchester, die Merkmale des „Wiener Streicherklanges“ beruhen ausschließlich auf der Komponente „Mensch“. Bei den meisten Streichinstrumenten sind von der Zeit der Wiener Klassik bis heute durchgehend „Streicherschulen“ (Wiener Geigerschule) nachweisbar, in denen die Lehrer selbst Konzertmeister der großen Wiener Orchester waren und nach dem Meister-Schüler-Prinzip die Musiziertradition weitergaben. Davon unabhängig sind das Anwenden von kammermusikalischen Prinzipien im Orchesterspiel und der Einfluss böhmischer, tschechischer und russischer Streicherschulen wesentliche Kennzeichen.

Stilistisch liegen die Wurzeln des Wr. K.s in den Interpretationsregeln der Wiener Klassik, durchsetzt mit Einflüssen der deutschen Romantik. Was die Klangfarbe betrifft, so liegt die Präferenz eindeutig bei Instrumenten, welche den MusikerInnen ihre gezielte Gestaltung in Abhängigkeit vom musikalischen Kontext erlauben.

So wie der Mensch selbst ist aber auch die stilistische und klangliche Charakteristik eines Orchesters einem kontinuierlichem Wandel unterworfen. Am Beispiel des Gebrauchs des Vibratos bei den Streichern der Wiener Philharmoniker im Laufe des 20. Jh.s kann dieser permanente Evolutionsprozess nachvollzogen werden. Der Wr. K. ist daher etwas sich durchaus Veränderndes. Unverändert bleibt nur das Festhalten an den klanglichen und stilistischen Grundprinzipien. Dieses wiederum ist der Grund für das besondere, nur in Wien verwendete Instrumentarium bei den Blasinstrumenten. Im Laufe der 2. Hälfte des 19. Jh.s wurden alle Orchesterinstrumente einer Modifikation in Richtung größerer Lautstärke (Schallleistung) unterworfen. Bei den Holz- und Blechblasinstrumenten erfolgte zusätzlich aufgrund der gestiegenen technischen Anforderungen überhaupt eine Neukonstruktion. Bei Trompeten setzte sich endgültig die Ventilversion, beim Horn das Doppelhorn (Erfindung durch Eduard Kruspe im Jahre 1900) durch.

Auffallend ist, dass die Wiener Orchester alle Instrumente, bei welchen die komfortablere Spielbarkeit im Zuge der Neukonstruktion zu Lasten der klanglichen Differenzierbarkeit ging, ablehnten und auch heute (2006) noch ablehnen. Deutlich zeigt sich dies bei den Holzblasinstrumenten. Während weltweit die von Theobald Böhm in der 2. Hälfte des 19. Jh.s neu konstruierten Instrumente in Verwendung stehen, ist die moderne „Wiener Oboe“ nichts anderes als ein modifiziertes Instrument des Dresdner Instrumentenmachers Carl Golde († 1873). Bei Klarinette und Fagott werden leicht modifizierte deutsche Instrumente eingesetzt, nur im Falle der Querflöte (Flöte) entschied man sich nach langem Zögern erst ab ca. 1930 nach und nach zum Umstieg auf das weltweit verwendete Böhm-Modell. Grund dafür könnte sein, dass – wie neuere Untersuchungen zeigten – die mit der Querflöte produzierte Klangfarbe, durchaus ähnlich der Situation bei den Streichinstrumenten, nicht so sehr vom Instrument, sondern weitestgehend vom Spieler bzw. der Spielerin abhängt.

Beim Horn verzichten die Wiener Orchester auf die leichtere Spielbarkeit und höhere Sicherheit des Doppelhorns, um den Vorteil der klanglichen Vielfalt nicht zu verlieren. Das Wiener Horn ist ein Naturhorn der Wiener Klassik mit hinzugefügten Pumpenventilen des Instrumentenmachers L. Uhlmann d. Ä. Bei den Trompeten wird im Gegensatz zu den weltweit eingesetzten Perinet-Ventil-Instrumenten das alte deutsche Modell mit Drehventilen verwendet, die Wiener Tuba in F ist ein eigenständiger Instrumententypus. Lediglich bei den Posaunen folgen die Wiener Orchester dem Mainstream, obwohl auch hier durch die Wahl engerer Mensuren eine klangliche Präferenz erkennbar ist.

Bei den Streichinstrumenten hatten die im 19. Jh. vorgenommenen Änderungen (größerer Bassbalken, steilerer Winkel des Griffbretts und höherer Steg) keinen so großen Einfluss auf das klangliche Verhalten der Instrumente wie bei den Blasinstrumenten. Dies dürfte auch der Grund für die Akzeptanz der neuen Instrumente durch die Wiener Orchester gewesen sein. Darüber hinaus hängt letzten Endes die mit Streichinstrumenten produzierte Klangfarbe weniger vom Instrument, sondern vielmehr von der eingesetzten Spieltechnik und damit vom Menschen selbst ab.

Der erste naturwissenschaftliche und durch die Teilnahme von weltweit über tausend Testpersonen auch statistisch ausreichend abgesicherte Beweis für die Existenz eines bisher nur behaupteten Wr. K.s erfolgte 2002 durch Matthias Bertsch (* 1966). Anhand von käuflich erwerbbaren CD-Aufnahmen der Wiener, Berliner und New Yorker Philharmoniker wurde mit Hilfe von rund 1200 Personen, darunter Laien, Amateur-MusikerInnen, professionellen OrchestermusikerInnen und SolistInnen, Tonmeistern und Studierenden von MUniv.en sowie internationalen Top-Dirigenten, die einige der verwendeten CD-Aufnahmen selbst leiteten, wie z. B. Z. Mehta oder S. Ozawa, die Erkennbarkeit der Wiener Philharmoniker im Blindtest untersucht.


Literatur
H. Hadamowsky, Die Klang- u. Musiziertradition der Wr. Bläserschule, 3 Bde. 1973; G. Widholm in [Kgr.-Ber.] Institute of Acoustics. Edinburgh 1997, 19/5 (1997); G. Widholm in A. Melka (Hg.), [Kgr.-Ber.] Speech – Music – Hearing. Prag 1995, 1995; G. Widholm in P. W. Fürst (Hg.), Zur Situation der Musiker in Österreich 1994; G. Widholm in D. Stanzial (Hg), [Kgr.-Ber.] International Symposium on Musical Acoustics. Perugia 2001, 2001; G. Widholm in Das Orchester 50/9 (2002); M. Bertsch, Wr. K. – Mythos oder Realität? Ergebnisse der Hörstudie „Hören Sie Wienerisch?“ zur Erkennbarkeit des Wr. K.s auf Aufnahmen 2003; M. Bertsch in Das Orchester 50/9 (2002); Archiv MUniv. Wien.

Autor*innen
Gregor Widholm
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2006
Empfohlene Zitierweise
Gregor Widholm, Art. „Wiener Klangstil‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2006, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e6ca
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