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Singen
Sprechen und S. sind primäre, im Verlauf der biologischen Evolution des Menschen entstandene, sinnesbedingte Kommunikationsmöglichkeiten. Auf der für alle Menschen in gleicher Weise ausgeprägten biologischen Basis haben sich kulturspezifische Varianten entfaltet (Anthropologie). In den Kulthandlungen aller Religionen wird die Diesseits und Jenseits verbindende Kraft des S.s von Schamanen, Medizinmännern, Zauberern, Priestern, Mönchen sowie der Gemeinde genutzt. Im politischen und geselligen S. ist es die gemeinschaftsbildende Kraft des S.s, die die Mitglieder unterschiedlicher Ansammlungen (Meistersinger, marschierende Soldaten, bürgerliche [Männergesang] und Arbeitersängerverbände [Arbeitermusikbewegung], Burschenschaften, Rotary, jugendbewegte [Jugendmusikbewegung] und folkloristische Singkreise etc.), konfessionell oder politisch ausgerichtete Schulklassen ebenso wie die Zuhörer modischer Popularmusikgruppen emotional aneinander bindet und ihnen eine gemeinsame Ideologie indoktriniert. Solche Gruppierungen veröffentlichen daher ihre eigenen Liederbücher.

Medizinisch-therapeutisches S. nimmt Einfluss auf physische Konditionen und psychologische Befindlichkeiten des Menschen (Musiktherapie). S. als seelische Entlastung, man „weint und singt sich Kummer von der Seele“, Trotz und Protest finden psychische Verarbeitung im S. In Liedern werden positiv wie negativ Sanktionen ausgesprochen, d. h. Begrüßung und Glückwunsch (Ansingen) ebenso wie Spott und Verwünschung, im S. solidarisieren sich Menschen, „indem einzelne sich in einer Gruppe wiederfinden oder bewußt zusammenschließen, um sich gegenseitig Mut zu machen und Geschlossenheit und Kampfeseifer zu demonstrieren“ (H. Segler): Das sind interkulturell verbreitete Verhaltensmuster des singenden Menschen. In der europäisch-abendländischen Hochkultur, wo Gesang zur Kunst wird und schließlich in „L’art pour l’art“ mündet, wo demnach das Wissen um die primären Wirkweisen des (gemeinsamen) S.s vielfach verloren gegangen ist, bleiben doch dessen primäre physische und psychische Mechanismen in Kraft.


Literatur
E. Borneman, Unsere Kinder im Spiegel ihrer Lieder, 3 Bde. 1973, 1974 u. 1976; H. Fritz, Kastratengesang. Hormonelle, konstitutionelle u. pädagogische Aspekte 1994; Ph. Harnoncourt in H. Becker/R. Kaczynski (Hg.), Liturgie u. Dichtung 2 (1983); F. Husler/Y. Rodd-Marling, Die physische Natur des Stimmorgans. Anleitung zum Aufschließen der Singstimme 21978; E. Klusen, S. Materialien zu einer Theorie 1989; D.-R. Moser, Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation 1981; H. Segler in G. Kleinen (Hg.), Heutungen. Texte von u. über Helmut Segler aus Anlaß seiner Emeritierung 1982; W. Suppan, Musica humana. Die anthropologische u. kulturethologische Dimension der Musikwissenschaft 1986, v. a. 25–51; V. Zuckerkandl in Eranos-Jb. 30 (Zürich) 1962; V. Zuckerkandl, Man the Musician 1973 (dt. Originalfassung in G. Lipp, Das musikanthropologische Denken von Viktor Zuckerkandl 2002).

Autor*innen
WS
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2006
Empfohlene Zitierweise
Wolfgang Suppan, Art. „Singen‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2006, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e287
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