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Realismus
Allgemein Darstellung der Wirklichkeit mit den Mitteln der Kunst (I), speziell Epochenbezeichnung (II).(I) Gegenüber den realistischen Darstellungen in Literatur und bildender Kunst erscheinen die mimetischen Bemühungen in der Musik beschränkt zu sein: Sie beziehen sich entweder direkt auf Nachahmungen akustischer Vorgänge in Natur und Umwelt (z. B. Vogellaute u. ä. mit Hilfe von Tonmalerei, Kriegslärm in der Battaglia) oder werden in ihrer Aussage erst durch den Text (Vokalmusik, Oper) bzw. durch beigefügte Programme (Programmmusik, Symphonische Dichtung) voll verständlich.

(II) Neben dieser allgemeinen Definition von R. in der Musik gab und gibt es Versuche, den Begriff parallel zur kunst- und literaturhistorischen Epochenbezeichnung auch für bestimmte musikhistorische Erscheinungen in der 2. Hälfte des 19. Jh.s zu verwenden. Die gemeinsamen sozialpolitischen Grundlagen bildeten die gescheiterte Revolution von 1848, die Befassung mit sozialen Themen, ferner die Schaffung nationaler Einheit sowie verfassungs- und wirtschaftsliberale Ziele. Da die Darstellung sozialer Wirklichkeit von der Kunst im Zeichen der Wahrheit auch eine Abkehr von der Auffassung formaler Vollendung forderte, wurde R. bald zum Kampfbegriff jener Kritiker, die etwa in der Musik Hector Berlioz’, Rich. Wagners, F. Liszts und der Neudeutschen Schule eine Gefahr für klassizistische Schönheitsvorstellungen sahen. E. Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen (1854) wurde dagegen als „ein Zeichen des Auflebens der tonkünstlerischen Vernunft gegen die wissenschaftliche Unmündigkeit und den faselnden Unsinn der Scharwächter der realistischen Propaganda“ gewertet (Ludwig Bischoff). Musikästhetisch interessant ist der im Begriff R. vollzogene Wechsel frühromantischer Auffassung von Musik als autonomer Kunst schlechthin (absolute Musik), die dennoch viel Raum für eine Metaphysik der Tonkunst ließ (E. T. A. Hoffmann: Musik erschließe ein „unbekanntes Reich“ ), hin zu einer „realistischeren“, weltzugewandten Auffassung, die Musik einerseits kunsttheoretisch stärker an Epos und Drama (Musikdrama), andererseits thematisch an Geschichte, Politik und Volk bindet, damit aber auch ihre Autonomie in Frage stellt.

Eine besondere Wirksamkeit entfaltete der musikalische R. in der Oper bzw. in der Nationalmusik, wo er – über die Zeichnung der couleur locale und einen pittoresken Folklorismus hinausgehend – wesentliche Funktionen im Sinne nationaler Legitimation erhielt (z. B. F. Smetana, Prodaná nevešta [Die verkaufte Braut] und L. Janáček, Jenůfa). Realistisch-naturalistische Milieuschilderungen kennzeichnen ferner ab ca. 1890 den Verismo.

Seit den 1930er Jahren erhob die marxistische Ästhetik den R. zum Programm (Sozialistischer R. ), der eine der Arbeiterklasse verpflichtete, zugleich anspruchsvolle, verständliche und gesellschaftlich verwertbare Kunst propagierte, die sich von der als elitär empfundenen „formalistischen“ bürgerlichen Kunst abheben sollte (H. Eisler). In Österreich ging es der Arbeiterbewegung allerdings in erster Linie darum, der Arbeiterschaft die bürgerliche Kunst zugänglich zu machen. Ab Ende der 1920er Jahre bis zum Verbot der Sozialdemokratie 1934 kamen aber zunehmend auch neu komponierte, propagandistische Chorwerke zur Aufführung (etwa von Eisler, K. Rankl, P. A. Pisk und V. Korda, Arbeitermusikbewegung).

In der deutschen Musikwissenschaft hat der Begriff musikalischer R. zu einer heftigen Auseinandersetzung geführt: Carl Dahlhaus rechtfertigte seine Verwendung nur als „unpolitische“ stiltypologische Kategorie, da er die „geistesgeschichtliche Methode“ für „tot und abgetan“ erklärte, während Martin Geck einen durchaus auch politisch konnotierten Epochenbegriff (1848–71) zur Diskussion stellte. Eine vergleichbare Auseinandersetzung lässt sich in Österreich nicht feststellen.


Literatur
MGG 8 (1998); M. Geck, Zwischen Romantik und Restauration. Musik im R.-Diskurs 1848–1871, 2001; M. Geck, Richard Wagner und der musikalische R. 2002; C. Dahlhaus, Musikalischer R. Zur Musikgesch. des 19. Jh.s 1982; G.-H. H. Falke, Johannes Brahms. Wiegenlieder meiner Schmerzen – Philosophie des musikalischen R. 1997; E. Bücken in H. Osthoff et al. (Hg.), [Fs.] A. Schering 1931; A. Farbstein, R.theorien und Probleme der Musikästhetik 1977; St. P. Scheer in R. Grimm/J. Hermand (Hg.), R.theorien in Literatur, Musik und Politik 1975; P. Schleuning, Die Sprache der Natur. Natur in der Musik des 18. Jh.s 1998; R. Determann, Begriff und Ästhetik der „Neudt. Schule“ 1989; H. Eisler in ders., Musik und Politik. Schriften 1948–1962, hg. v. G. Mayer 1982, 415–419; A. Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität. Zur dialektischen Widerspiegelungstheorie in der Ästhetik 1976.

Autor*innen
Barbara Boisits
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Barbara Boisits, Art. „Realismus‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001de8a
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