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Memoiren
Literarische Erinnerungen an erlebte historische Ereignisse, bedeutende Persönlichkeiten bzw. eigene öffentliche Leistungen. M. sind teils in gedruckter Form, teils aber auch als private, handschriftliche Dokumente überliefert und bilden für die Geschichtsschreibung das schriftliche Äquivalent zu Aussagen von Zeitzeugen (d. h. Basismaterial der sog. „oral history“), die nicht nur Fakten, sondern v. a. Einstellungen und Ansichten vermitteln. Aus dem geringeren bzw. vermehrten Anteil subjektiver Prägung leitet sich die Gattungsgrenze zur Chronik einerseits und zur Autobiographie andererseits (z. B. Dittersdorf) ab, diese ist jedoch fließend und außerdem ändert sich ihre Relevanz v. a. angesichts wandelnder Definition und Bedeutungseinschätzung dessen, was als (musik)historisches Ereignis bzw. wer als bedeutende Persönlichkeit gilt. Grundsätzlich bilden Erinnerungen an und von einheimische(n) MusikerInnen sowie an das Musikleben des Landes und die damit verbundenen Persönlichkeiten einen wichtigen Bereich Österreich-bezogener M.literatur.

Der Stellenwert von Musikproduktion und -rezeption in der kulturellen Praxis des aufgeklärten Bürgertums seit dem 18. Jh. (bürgerliche Musikkultur) sowie die Genieästhetik des 19. Jh.s und der davon installierte Blick auf historische Bedeutung „für die Nachwelt“ bringen einen Aufschwung von (v. a. auch gedruckter) Erinnerungsliteratur, wobei Zeitlauf und Forschung immer wieder neues Material schaffen, weil M. im weitesten Sinn sowohl Quelle als auch (fachgeschichtlich erstes) Produkt musikhistorischen Interesses sind: So beruhen die frühesten Lebensbeschreibungen der als Wiener Klassiker verehrten Komponisten – die um 1810 erschienenen über J. Haydn von Georg August Griesinger, A. Ch. Dies bzw. G. Carpani, weiters die Mozart-Biographie F. X. Niemetscheks von 1798 oder jene zu L. v. Beethoven von Franz Gerhard Wegeler (mit F. Ries), von A. Schindler sowie von G. v. Breuning – direkt auf persönlicher Erinnerung oder aber auf solchen von dem Autor bekannten Zeitzeugen. Außer biographischen Informationen sind auch Umstände des Musiklebens aus M. ableitbar, dies häufig aus solchen privater Provenienz. Die Veröffentlichung von Erlebnissen mit berühmten Komponisten bzw. Musikern, oft anekdotenhaft zugespitzt auf charakteristische Aussprüche (Anekdote), zählt insofern zu dieser Gattung, als sie ebenfalls persönliche Erinnerungen zur Grundlage hat. Die Erscheinungsform als Glosse in Zeitungen und Zeitschriften – beispielsweise waren vor der Erstveröffentlichung von Griesingers Text in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung auf Initiative des Herausgebers Friedrich Rochlitz 1798 und 1801 Verbürgte Anekdoten aus Wolfgang Gottlieb Mozarts Leben aufgrund von Mitteilungen von Mozarts Witwe und seiner Schwester erschienen – belegt die Popularität dieser Form von Beschreibung jenseits des (musik)historiographischen Anspruchs, d. h. aufgrund desselben Interesses am gesellschaftlichen Außenseiter, das gleichzeitig sowohl Biographie als auch Künstlerroman (Musikerroman) erfolgreich gemacht hat (z. B. Wolfgang Hildesheimer, Hans Mayer) – wobei zu bemerken ist, dass die M.literatur ebenso wie die Biographie dokumentarische und fiktionale Texte enthält, z. B. Rich. Wagners 1840 nach dem Vorbild E. T. A. Hoffmanns verfasste NovelleEine Pilgerfahrt zu Beethoven. Die in Wagners Titel angesprochene „Pilgerfahrt“ als Reise zu den Wirkungsstätten namhafter Persönlichkeiten des Musiklebens (eigentlich: des Kulturbetriebes insgesamt) war eine Spielart der zum Tourismus im modernen Sinn führenden Bildungsreise (im Sinne der „grand tour“), und Begegnungen dieser Art werden vielfach zum Bestandteil von Reiseaufzeichnungen, wobei – etwa in den (erst nach über 100 Jahren veröffentlichten) Tagebüchern des Ehepaares Novello über ihre reale „Pilgerfahrt“ auf den Spuren W. A. Mozarts 1829 – neben eigenen Eindrücken auch Erinnerungen von Bekannten oder der Familie des Verehrten aufgezeichnet werden.

M. von Musikern und Musikschriftstellern des späten 19. und frühen 20. Jh.s belegen auch die floskelhafte Etikettierung Österreichs als Musikland, wobei sich der Schwerpunkt der Beschreibung von der herausragenden Einzelpersönlichkeit auf das Musikleben verlagert: Das Bewusstsein, nicht nur Zeitgenosse berühmter Komponisten, sondern v. a. Zeuge bedeutender musikalischer Entwicklungen gewesen zu sein, veranlasst Akteure des Wiener bzw. Österreichischen Musiklebens, etwa Kritiker (von E. Hanslick bis E. Decsey und M. Graf) und Interpreten (öfter aus den Reihen der Wiener Philharmoniker, von S. Bachrich und Joseph Sulzer bis O. Strasser) zu einschlägigen Publikationen, wobei die politischen Brüche in der österreichischen Geschichte des 20. Jh.s samt den Erfahrungen des Exils spezielle Anlässe solcher Rückblicke im Sinn eines vor dem Vergessen Bewahrens sind.

Die (Neu)Herausgabe von Erinnerungsliteratur nach Jahrzehnten oder gar Jh.en belegt die musikwissenschaftliche Relevanz dieser Gattung bis in die Gegenwart, wobei heute (2004; aufgrund wissenschaftlichen Paradigmenwechels) neben biographischen Details v. a. die darin dokumentierten Bedeutungszuschreibungen Auslöser des Interesses sind.


Literatur
Lit (alphabetisch): S. Bachrich, Aus verklungenen Zeiten. Erinnerungen eines alten Musikers 1914; G. v. Breuning, Aus dem Schwarzspanierhause. Erinnerungen an Ludwig van Beethoven aus seiner Jugendzeit 1874; G. Carpani, Le Haydine ovvero lettere su la vite e le opere del celebre maestro Giuseppe Haydn 1812; E. Decsey, Musik war sein Leben 1962; A. Ch. Dies, Biographische Nachrichten von Joseph Haydn. Nach mündlichen Erzählungen desselben entworfen und herausgegeben 1810; R. Fischhof, Begegnungen auf meinem Lebensweg. Plaudereien, Erinnerungen und Eindrücke aus jungen Jahren 1916; G. A. Griesinger, Biographische Notizen über Joseph Haydn in AMZ 9 (1808/09), Nachdruck 1910; E. Hanslick, Aus meinem Leben, 2 Bde. 1894; E. Hilscher (Hg.), Zweihundert Jahre Musikleben in Erinnerungen – Ignaz von Mosel (1772–1844), Johann Nepomuk Freiherr von Haßlinger (1822–1898), Joseph Mantuani (1860–1933), Ján Albrecht (1919–1996), 1998; R. Hughes (Hg.), A Mozart Pilgrimage. Being the Travel Diaries of Vincent & Mary Novello in the year 1829, transcribed and compiled by Nerina Medici di Marignano 1955; O. Kitzler, Musikalische Erinnerungen mit Briefen von Wagner, Brahms, Bruckner und Richard Pohl 1904; W. Kolneder (Hg.), Carl Czerny, Erinnerungen aus meinem Leben 1968; J. Krips, Ohne Liebe kann man keine Musik machen 1994; F. X. Niemetschek, Leben des K.K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, nach Originalquellen bechrieben 1798; A. Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven 1840; K. Pahlen, Ja die Zeit ändert viel – mein Jh. mit der Musik 2001; L. Slezak, Meine sämtlichen Werke 1922; J. Sulzer, Ernstes und Heiteres aus den Erinnerungen eines Wr. Philharmonikers 1910; F. G. Wegeler/F. Ries, Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven 1838.

Autor*innen
Cornelia Szabó-Knotik
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Cornelia Szabó-Knotik, Art. „Memoiren‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d959
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