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Kunststelle
Charakteristische Organisationsstruktur der Ersten Republik. Die Entscheidung des Wiener Gemeinderates vom Juni 1919, Musik- und Theaterveranstaltungen für Arbeiter, Angestellte und Schüler mit 10 % (später nur mehr 6 %) der Lustbarkeitsabgabe zu subventionieren, führte zur Gründung mehrerer sog. K.n. Parteipolitisch geprägt (Sozialdemokratische K., christlich-soziale K., Deutsche Kunst- und Bildungsstelle) oder an Interessensvertretungen orientiert (K. der öffentlichen Angestellten, K. des Zentralrats der geistigen Arbeiter), traten die K.n als Vermittler, Organisatoren und Veranstalter unterschiedlichster kultureller Aktivitäten in Erscheinung.

Dabei erlangte die vom führenden sozialistischen Kulturpolitiker D. J. Bach bereits im November 1919 gegründete und in Folge geleitete Sozialdemokratische K. (SK) die mit Abstand größte kulturpolitische Bedeutung. Als wichtigste Organisation innerhalb der österreichischen Arbeiter-Kulturbewegung prägte diese Institution darüber hinaus das Wiener Kulturleben insgesamt. Vorrangiges kultur- und bildungspolitisches Ziel der SK war die von Bach unter dem Motto „Kunst ins Volk“ propagierte möglichst umfassende Vermittlung von Kulturangeboten an die Wiener Arbeiterschaft. In der Praxis bestand diese Vermittlung vorab in der Abnahme und Verteilung von Kartenkontingenten zu Theater-, Musik- und Tanzveranstaltungen, Vorlesungen und Filmvorführungen. Mit Institutionen wie dem Deutschen Volkstheater oder dem Raimundtheater wurden diesbezüglich Dauerverträge abgeschlossen, für Burgtheater oder Staatsoper standen fixe Kartenkontingente zur Verfügung. Die quantitative Bedeutung dieser Transferleistungen wird in einer von Bach 1929 gelegten Leistungsbilanz deutlich. Demnach wurden von der SK in den ersten fünfeinhalb Jahren ihres Bestehens an rund 40.000 Mitglieder mehr als 2 Millionen Karten für Theater und Konzerte ausgegeben (1,4 Mill. Karten für das Sprechtheater, 377.000 für Oper und Operette, 200.000 für Orchesterkonzerte; s. Bach 1929).

Die Sozialdemokratische K. trat aber nicht nur als Vermittlerin auf, sondern betätigte sich selbst aktiv künstlerisch. Als Vorbild und propagandistisches Aushängeschild dienten hier die ebenfalls von Bach initiierten, bereits seit 1905 im Wiener Kulturleben etablierten populären Arbeiter-Sinfoniekonzerte, die nun größtenteils von der SK organisiert wurden. Mit gefeierten Aufführungen z. B. von J. Haydn, L. v. Beethoven, G. Mahler oder A. Schönberg (unter der Leitung so renommierter Dirigenten wie u. a. F. Löwe, R. Strauss, G. Szell, A. Webern) galten diese Konzerte über parteiideologische Grenzen hinweg als künstlerisch wie bildungspolitisch vorbildlich. Einen weiteren Akzent setzte die SK mit dem 1923 gegründeten Singverein der S.n K., mit dessen Leitung A. Webern betraut wurde. Unter seiner Führung entwickelte sich der gemischte Chor rasch zu einem der wichtigsten des Wiener Musiklebens und wirkte erfolgreich bei zahlreichen Chor-Orchester-Produktionen im Rahmen der Arbeiter-Sinfoniekonzerte mit (etwa zum Jubiläum des 200. Konzertes am 18. und 19.4.1926 in Mahlers 8. Sinfonie unter Weberns Leitung). Ende der 1920er Jahre richtete die SK auch noch ein eigenes Kammerorchester unter der Leitung von P. A. Pisk ein. Aktives Musizieren geschah auch im organisatorisch eng mit der SK verbundenen Verein für volkstümliche Musikpflege, welcher bereits im Mai 1919 gegründet wurde. Geführt als eine Art Volks-Konservatorium umfasste diese Anstalt im Jahr 1930 dreißig Lehrende; 484 Schüler wurden in insgesamt 39 Kursen unterrichtet; man unterhielt ein eigenes Orchester und einen Volkschor. Ein eigens von der SK eingerichteter Sprechchor (Leitung: Elise Karau) Mitte der 1920er Jahre, Kurse für rhythmische Gymnastik, Sprechtechnik oder ein 1929 veranstalteter Zyklus Stimmen der Völker (mit musikalischen, rezitatorischen und filmischen Beiträgen) runden das breitgefächerte musikalische Angebot der SK ab.

Weniger erfolgreich agierte die SK auf dem Theatersektor. Bestrebungen, ein eigenständiges sozialistisches Theater im Carltheater zu etablieren, scheiterten 1928 am geringen Publikumsinteresse. Ende der 1920er Jahre erfuhr die propagandistische Arbeit der SK eine Ausweitung und Akzentuierung durch die organisatorische wie inhaltliche Zentralisierung der sozialdemokratischen Fest- und Feierkultur (besonders 1. Mai-Feiern und Republik-Feiern am 12. November), zu diesem Zweck wurde ab 1928 eine eigene Abteilung für Arbeiterfeste (Leitung: Josef Luitpold Stern) eingerichtet.

Zu Beginn des Jahres 1926 erfolgte die Umorganisation der SK zu einem autonomen Verein. Die vom Verein nun seit Februar 1926 herausgegebene Mitgliederzeitschrift Kunst und Volk diente auch als Plattform kulturtheoretischer Auseinandersetzungen. So stellt sich die kulturpolitische Tätigkeit der SK dar als eine Gratwanderung zwischen dem Streben nach Vermittlung der bürgerlich etablierten Hoch-Kunst (dem sog. „bürgerlichen Erbe“) und der Unterstützung zeitgenössischer und insbesondere sozialistisch motivierter Kunst einerseits sowie andererseits dem Interesse des Publikums und der Theater- und Konzertveranstalter. Die Tatsache, dass diese Gratwanderung zwischen konträren Bedürfnissen, Interessen und Ansprüchen naturgemäß nie zur Zufriedenheit aller gelingen konnte, führte schließlich auch zu teils massiver Kritik an der SK, v. a. an der Person ihres Leiters D. J. Bach (wie die Auseinandersetzungen mit K. Kraus, Oskar Pollak oder Ernst Fischer dokumentieren). Mit verursacht wurde diese Krise der SK aber nicht nur durch inhaltliche Differenzen, sondern auch durch einen nachhaltigen gesellschaftlichen Strukturwandel Mitte der 1920er Jahre, der kulturelle Einrichtungen wie jene der SK in direkte Konkurrenz mit der auf breiter Ebene entstehenden kommerziell ausgerichteten Freizeitindustrie brachte.

Das Ende der SK kam mit den Februar-Ereignissen 1934, am 6. März erfolgte die behördliche Auflösung. Alle anderen genannten K.n waren mehr oder weniger deutlich an der sozialdemokratischen orientiert oder zu deren – meist erfolglosen – Konkurrenzierung gedacht.


Literatur
D. J. Bach in Der Kampf 22/3 (1929); Bildungsarbeit, Blätter für sozialistisches Bildungswesen 17/4 [1930], 54; W. Jank, Arbeitermusik zwischen Kunst, Kampf und Geselligkeit, Diss. Wien 1982; A. Pfabigan, Karl Kraus und der Sozialismus 1976; D. Langewiesche, Zur Freizeit des Arbeiters – Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung Österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik 1979; H. Kotlan-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach 1874–1947, 1977. – OeStA, AVA: Akt 222885-34 Ver.‚ Sozialdemokratische K.

Autor*innen
Manfred Permoser
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Manfred Permoser, Art. „Kunststelle‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d688
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