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Juden/jüdische Musik/jüdischer Gesang
Musik der Juden in Österreich. (I) Gewisse definitorische und forschungsgeschichtliche Probleme und Charakteristika der jüdischen Musik lassen sich, ausgehend von der generellen Situation, auf die österreichische Entwicklung übertragen. „Ausprägung und Wesen der jüdischen Musik sind durch die sozialen Prozesse in der Geschichte des jüdischen Volkes bestimmt. Die jüdische Musikkultur ist entscheidend von der Tatsache beeinflußt, daß die Juden zur selben Zeit ein Volk und eine religiöse Gemeinschaft waren und sind“ (MGG). Das Problem der Definition von jüdischer traditioneller Musik bleibt ein bislang ungelöstes (vgl. z. B. Ansätze von Idelsohn 1929, Slobin 1984, Braun 1986). Aufgrund der durch die Diasporasituation entstandenen regionalen Varianten, der verschiedenen Ausformungen von Selbstidentifikation, Akkulturation und Assimilation in der Musik, gibt es nicht die jüdische Musik, sondern sehr viele verschiedene Stile. Dies betrifft nicht nur die weltliche Tradition, sondern auch die Musik der Synagoge. Als Hauptstile werden generell genannt: der aschkenasische (von hebräisch aškenaz = Deutschland) Zentral- und Osteuropas mit der Umgangsprache Jiddisch. Die sephardische Tradition (von hebräisch sefarad = Spanien), ausgehend von Spanien nach der Vertreibung von 1492, verbreitete sich in Teilen Nordafrikas, der Türkei, dem Nahen Osten und Europa mit der Umgangssprache Judeo-Español. Die jemenitische Tradition ist v. a. dem Nahen Osten und Nordafrika zuzurechnen. Um 1750 entstand in Südrussland die mystisch-religiöse Bewegung der Chassidim. Sie sind deshalb zu nennen, weil ihre textlos gesungenen Melodien (nigunim) auch die weltliche Musik der Juden im europäischen Raum wesentlich beeinflusst haben (Klezmer).

In Österreich finden wir eine lange Tradition der aschkenasischen Kultur, wobei die west-aschkenasische durch die Zuwanderung aus Osteuropa (19./Beginn 20. Jh.) wesentliche neue Impulse erhielt.

Zeugnisse jüdischer Ansiedlung in Österreich reichen bis in das 13. Jh. zurück, als die Wiener Juden bereits nachweislich eine Synagoge hatten (Judenplatz, Wien I). Die „Sieben Gemeinden“ im Burgenland entstanden 1670/71. Dies nur als Beleg für eine sehr lange Tradition, die jedoch mit 1938 und dem Holocaust endete. Bis 1938 zählte die Israel itische Kultusgemeinde in Wien rund 180.000 Mitglieder, heute (2003) sind es 6000. Die meisten gehörten dem aschkenasischen Kulturkreis an, obwohl auch eine kleine sephardische Gemeinde existierte. Um 1900 war das Wiener Kulturleben geprägt von Menschen jüdischer Abstammung, die sich z. T. jedoch kaum als Juden fühlten, schon lange nicht mehr jiddisch sprachen, und teils zum christlichen Glauben konvertiert waren (z. B. G. Mahler oder Arthur Schnitzler). Die beginnende Ethnisierung einer religiösen Gruppierung ab dem Beginn des 20. Jh.s, verbunden mit starken antisemitischen Tendenzen, erzeugte bei der Gruppe selbst eine ambivalente Haltung gegenüber „ethischen“ Traditionen; auch gegenüber den vielen Zuwanderern aus dem Osten Europas, den „Schtetl-Juden“, die durch ihre traditionelle Kleidung und Lebensweise, nicht zuletzt aber durch ihre Armut, Unmut hervorriefen. Durch die Rassisten des Nationalsozialismus schließlich wurden alle Menschen jüdischer Abstammung – unabhängig von ihrem Religionsbekenntnis – zur „Rasse“ gemacht und deshalb deportiert, vertrieben (Exil) oder ermordet.

Es seien nur einige der vertriebenen Musiker aus der blühenden Wiener Kabarett-Szene genannt, die in den USA unter großen Schwierigkeiten Fuß fassen konnten: Fritz Spielmann, J. Berg, H. Zipper. Wenige der Überlebenden kehrten nach Österreich zurück, was v. a. mit der Haltung der politisch Verantwortlichen nach 1945 zu tun hat. Diese war von Verdrängung geprägt und man vermied tunlichst die Rückgabe „arisierter“ Güter und Vermögen. Aber Österreich, insbesondere Wien, war und ist zum Teil eine Durchgangsstation für jüdische Migranten aus dem Osten Europas nach Israel, den USA oder Australien. Einige von ihnen bleiben jedoch.

Aus diesen Tatsachen erklärt sich, dass es, was z. B. die jiddischen Lieder und auch die Instrumentalgattung Klezmer betrifft, kaum eine direkte mündliche Überlieferung in Österreich gibt. Andererseits ist die musikalische Szene aber aufgrund von Revival-Bewegungen und der Migration trotzdem sehr lebendig und vielfältig. Es existiert eine interne (Hochzeiten, traditionelle Feste) und eine öffentliche Musikpraxis der weltlichen jüdischen Musik, und es ergeben sich durch die Musikerpersönlichkeiten personelle Überschneidungen (sie spielen Hochzeiten genauso wie öffentliche Konzerte), die manchmal auch in den religiösen Bereich reichen: z. B. ist Oberrabbiner Chaim Eisenberg ein überzeugender Vortragender jiddischer Lieder auf den verschiedensten Bühnen Österreichs. Geduldig un Thimann (Edek Bartz und Albert Misak) waren in der österreichischen Öffentlichkeit die ersten, die in den 1960er Jahren begannen, jiddische Lieder und Klezmer zu reaktivieren. Dies löste in den folgenden (v. a. ab den 1980er) Jahren einen Boom aus, der insbesondere das Instrumentalgenre Klezmer wie auch jiddische Lieder betrifft.

Musikalische Quellen dafür waren verschiedenster Natur. Viel wurde auf die wichtigen ethnomusikologischen Sammlungen von Mosche Beregowsi und Abraham Zwi Idelsohn (1914–32) zurückgegriffen, aber auch eigene Recherchen vorgenommen (Gojim). Das Ensemble Budowitz (Joshua Horowitz, bis 2001 in Graz, derzeit USA) führte viele Feldforschungen in Osteuropa, v. a. Rumänien und Moldawien durch, weil manche der hierzulande wiederbelebten Traditionen dort noch lebendig sind. Andere zugewanderte Musiker konnten noch aus der eigenen Erinnerung schöpfen, wie z. B. Leon Pollak, der Leiter des Ensemble Klesmer Wien oder Isaak Loberan aus Moldawien, Leiter der Gruppe Sholem Alejchem.

Jiddische Widerstandslieder wurden zum politischen Symbol der Aufarbeitung von Österreichs historischem Antisemitismus. Außerdem dienten sie oft einer Identitätssuche, einer Suche nach den eigenen verschütteten jüdischen Wurzeln, wie z. B. bei Hans Breuer. Auch immer mehr Nichtjuden beschäftigten sich mit jüdischer Musik, mit unterschiedlichem Erfolg. Die osteuropäische Tradition steht stilistisch bei Ensemble Klesmer Wien, bei Budowitz, Sholem Alejchem und Kohlelet 3 im Vordergrund. Der sephardischen Tradition sind Aron Saltiel und L. Rothstein verpflichtet, obwohl beide auch jiddische Lieder singen. Aron Saltiel hat sich auch insbesondere mit den Nigunim der Chassidim auseinandergesetzt. Dem experimentellen Bereich sind Classic Jazzmer und die Klezmer Connection zuzuordnen, zum Teil auch die Gruppe Gojim. 10 Saiten 1 Bogen (Herwig Strobl) hat sowohl traditionell als auch experimentell gearbeitet, ebenso wie T. Brauer, die in ihrem Repertoire die internationale Vielfalt jüdischer Stile betont. Auch manche der multikulturellen Ensembles der österreichischen Szene verwenden jüdische Musik (z. B. Mandys Mischpoche).

Stilistisch ergibt sich eine schwer unüberschaubare und kaum zu kategorisierende Vielfalt. Unter „Jiddische Lieder“ ist kein einheitlicher Gattungsbegriff zu verstehen, es handelt sich um unterschiedliche musikalische und literarische Stile, vereint nur durch die verwendete Sprache. Es gibt Lieder aus der Tradition, durch Recherche rekonstruiert, insbesondere in Brauchabläufen. Viele jiddische Lieder stammen allerdings aus Theaterstücken mit Musik, ähnlich Musicals oder Operetten, und wurden später zu Volksliedern (z. B. Roshinkes mit mandlen). Eine wichtige Gattung sind aufgrund der Verfolgungsgeschichte die Widerstandslieder, die Lieder des Holocaust. Als einer der wichtigsten Autoren sei der polnische Arbeiterdichter Mordechaj Gebirtig (1877–1942) genannt.

Nigunim ohne Text fließen ins Gesangsrepertoire, aber auch in die Klezmer-Tradition ein. Hebräische Lieder aus Israel werden von vielen Klezmer-Ensembles eingesetzt, auch deshalb, weil Lieder wie Hava nagilah bereits zum musikalischen Allgemeingut in Österreich gehören und in Schulliederbüchern vorkommen.

Semirot, eine Gattung religiöser Lieder für den Hausgebrauch, sowohl hebräisch als auch jiddisch, werden im familiären Zusammenhang verwendet, seltener im öffentlichen. Die sephardischen Lieder im Judeo-Español sind stilistisch ebenfalls sehr vielfältig. Einerseits finden sich Romanzen im Dur-Moll System, andererseits auf Makamen basierende Lieder aus der türkisch-sephardischen Tradition.

Die Instrumentalgattung Klezmer ist stilistisch am vielfältigsten. Wie bei jeder Gebrauchsmusik bestimmt bis zu einem gewissen Grad die Publikumswirksamkeit den Stil und das Repertoire. In der langen Tradition der Klezmorim (seit dem 14./15. Jh. in Osteuropa) bedingte das eine ständige Offenheit neuen Einflüssen gegenüber und eine große Flexibilität. Diese Einflüsse sind regional bedingt. Die Auswanderung in die USA und die dortige Einflussnahme des Jazz haben nach Europa ausgestrahlt, die Traditionalisten jedoch berufen sich nach wie vor auf die Wurzeln in Osteuropa, und aus diesen regionalen Charakteristika haben sich gewisse „Marker“ herausgebildet, die oberflächlich gesehen als Erkennungsmerkmale fungieren: Bevorzugung von Moll-Tonarten, bestimmte Harmoniewechsel und die Verwendung der übermäßigen Sekunde in der Melodie. Die Besetzungen können unterschiedlich groß sein, eine Violine oder eine Klarinette als führendes Instrument sind jedoch meist obligat. Die manchmal als charakteristisch bezeichnete Spielweise des Melodieinstruments beinhaltet bestimmte Melismen, wie auch das sog. „Weinen“ und den „Krächz“, der Versuch der Imitation der menschlichen Stimme und des möglichst direkten Gefühlsausdruckes. Sehr viele Überschneidungen ergeben sich mit balkanischen Traditionen, was u. a. auch aus der Bezeichnung der Stücke abzulesen ist: Bulgar, Hora usw.

Die Forschungslage in Österreich ist relativ dürftig. Im Rahmen des 1904 begründeten großen Sammelunternehmens Das Volkslied in Österreich (Volksliedsammlung) bestand immerhin die Absicht, einen eigenen Ausschuss für das jüdische Volkslied einzusetzen. Im Wiener Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde Idelsohn 1911–13 mit dem damals neuen Archivphonographen ausgerüstet, um seine Sammlungen in Jerusalem durchzuführen. Die Originaltonträger sind, neben kleineren Sammlungen (Sammlung Pétér Klameth: Kairo und Jerusalem, Sammlung Subak: Balkan) im Phonogrammarchiv archiviert. Joshua Horowitz wie Isaak Loberan haben als Musiker wesentliche Feldforschungsarbeit in Osteuropa geleistet, aber kaum publiziert. Franz Ruttner hat v. a. in Österreich selbst geforscht und publiziert. Philip Bohlman dehnt sein Forschungsgebiet immer wieder auch auf den deutschsprachigen Raum aus, und über die jüdische Musik im Burgenland ist derzeit ein Sammelband in Vorbereitung. Das Repertoire des ehemaligen Oberkantors Abraham Adler ist derzeit ebenfalls in Bearbeitung. Er ist v. a. ein wichtiger Vertreter des synagogalen Gesanges in Österreich, einer wesentlich besser dokumentierten Gattung der jüdischen Musik in Österreich. Eine sehr beliebte Form der Weitergabe von Musizierstil, Repertoire und Eigenart der jüdischen traditionellen Musik sind Klezmer-Seminare, die auch Nichtjuden offen stehen und sehr gut besucht sind.


Tondokumente
TD: Timna Brauer & Elias Meiri, Tefila – Prayer (Lotus Records Salzburg, Austria Mechana TB 002); Doyres, Traditional Klezmer Recordings 1979–1994 (Trikont US-0206); Paul Chaim Eisenberg und 10 Saiten 1 Bogen, As der Rebbe lacht (ORF CD 099); Ensemble Klesmer Wien, Ensemble Klesmer – Live in Prag (Extraplatte Austro Mechana Ex 317 097 – 2); Ensemble Scholem Alejchem, Jüdische Lieder und Klezmermusik (Scholem Alejchem ESA 1947); Gebrider Moischele, Gebrider Moischele – Jiddische Lieder (Columbia 4740762); Geduldig und Thimann, Di schejnsten Lider fun Jiddn (EMI Columbia Austria Ges.m.b.H. CDP 566-7923002); Geduldig und Thimann, A Schtetl is Amerike (WEA 240 939-2); Gojim, Ess firt kejn weg zurik (Extraplatte Austro Mechana Ex 139 092 CD); Gojim, Tscholent (Extraplatte Austro Mechana Ex 207 094-2); Gojim, In a schtodt woss schtarbt (Extraplatte Austro Mechana Ex 307 097-2); Kohelet 3 (Weinberg Records, Austro Mechana SW 010071-2); Kohelet 3, mak (Weinberg Records SW 010133-2); Lena Rothstein, Cantos Judeo-Españoles - Sephardic Songs (Extraplatte, Austro Mechana Ex 126091 CD); Herwig Strobl – Braccioline d’amore – solo, Music in the Izaak Synagogue Cracow (Extraplatte Austro Mechana Ex 281 096-2); The Klezmer Connection, The Klezmer Connection (Copyright 2002 by The Klezmer Connection); budowitz, Wedding Without a Bride (Buda musique, Paris); Aron Saltiel, Jiddische Lieder (Extraplatte 218-2).
Literatur
M. Beregowski, Ewreiskie musikalnji folkor [Jüdische Volksmusik] 1934 (wiederveröffentlicht v. M. Slobin 1982); Ph. Bohlman in Musica Judaica. Journal of the American Society for Jewish Music 9 (1986/87); Ph. Bohlman/O. Holzapfel, The Folk songs of Ashkenaz 2001; J. Braun in Studien zur systemat. Musikwissenschaft 1986; MGG 4 (1996); H. u. T. Frankl, Jiddische Lieder: Texte und Noten mit Begleit-Akkordeon 1981; H. u. T. Frankl, Wenn der Rabbi singt: Jiddische Lieder 1996; F. Freund et al., Ess firt kejn Weg zurik... Geschichte und Lieder des Ghettos von Wilna 1941–1943, 1992; A. Z. Idelsohn, Hebräisch-orientalischer Melodienschatz 1–9 (1914–32); A. Z. Idelsohn, Jewish Music in Its Historical Development 1929; U. Hemetek, Mosaik der Klänge. Musik der ethnischen und religiösen Minderheiten in Österreich 2001, 271–293; M. John/A. Lichtblau, Schmelztiegel Wien. Einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten 11990, 21993; R. Ottens/J. Rubin, Klezmer-Musik 1999; J. Reiss in G. Baumgartner (Hg.), Identität und Lebenswelt 1989; F. Ruttner, Zur Bedeutung des jiddischen Liedes im 20. Jh., Dipl.arb. Wien 1995; W. Salmen, „...denn die Fiedel macht das Fest“. Jüdische Musikanten und Tänzer vom 13. bis 20. Jh. 1991; M. Slobin in Yearbook for Traditional Music 16 (1984); Z. Stoljar, A Yiddische Doyne. Jüdische Volksmusik in Osteuropa – Lieder und Melodien 2000; H. Thiel in JbÖVw 47 (1998).


(II) Gegen Ende des 18. Jh.s war die jüdische Kultur Mitteleuropas in der Folge der Aufklärung in heftigen Aufruhr geraten. Moses Mendelssohn hatte sich für die Verbreitung säkularer Bildung unter den ghettoisierten Juden eingesetzt und damit indirekt auch den Anstoß zu einer Erneuerung des Synagogengottesdienstes gegeben. Reformsynagogen mit deutschen Gebeten, Gemeindegesängen und Orgelspiel entstanden nach 1810 in Berlin, Hamburg und Leipzig und lösten heftige Auseinandersetzungen in den jüdischen Gemeinden aus.

In Wien war erst nach dem Toleranzpatent von 1782 eine Wiederansiedlung von Juden möglich geworden, die unter scharfen Restriktionen stand: eine formelle Gemeinde mit angestelltem Rabbiner und öffentlichem Gottesdienst war verboten. Die Repräsentanz gegenüber den Behörden lag in Händen der Vertreter. Darunter befanden sich zwei bedeutende Persönlichkeiten, Michael Lazar Biedermann (1769–1843) und Isaak Löw Hofmann (1759–1849), beide einflussreiche Großhändler. Während Biedermann ungestüm den modernen Standpunkt der Reform vertrat, war der religiös hochgebildete Hofmann konservativ und bremsend. Beider Einfluss auf die Behörden ist es zu danken, dass die Einschränkungen nach und nach unterlaufen werden konnten. 1814 wurde ein Gebetsraum im Dempfingerhof in der Seitenstettengasse (Wien I) eingerichtet, der schon bald durch einen größeren ersetzt werden musste. Der 1826 vollendete Seitenstettentempel, geplant vom Architekten Josef Kornhäusel, entfaltete im Inneren einigen klassizistischen Prunk, wiewohl der Bau nicht freistehend und von der Straße als Synagoge erkennbar sein durfte. Als Prediger wurde I. N. Mannheimer verpflichtet, der sich in Kopenhagen und Leipzig einen Namen als leidenschaftlicher moderner Lehrer gemacht hatte. Unter den Gegebenheiten in Wien wandelte er sich zu einem besonnenen Reformer des Mittelwegs. Sein musikalischer Partner bei der Definition des modernen Ritus (Wiener Minhag) wurde der junge Kantor S. Sulzer aus Hohenems.

Basis blieb nach wie vor Hebräisch als Sprache der Gebete, die Mannheimer in einer stark verbreiteten Ausgabe von Sidur und Machsor übersetzte. Die räumliche Trennung von Männern und Frauen blieb aufrecht, allerdings mit Sichtkontakt. Die traditionelle Rolle der aktiv beteiligten Gemeinde, die die norddeutschen Reformer in Form von Gemeindegesang im Stil des protestantischen Chorals weiterführten, wurde in Wien nach katholischem Muster aufgegeben. Vielmehr wurden die traditionellen Begleitsänger (Meschorerim), ein Knabensopran und ein Bass zu einem mehrstimmigen Chor (Knaben und Männer) aufgewertet, der die Gemeinderesponsen stilisierte und die phänomenale Baritonstimme Sulzers in eindrucksvoller Weise einbettete. Das Auftreten Sulzers mit seinem Chor war weithin gerühmt, so etwa von Persönlichkeiten wie F. Liszt oder E. Hanslick, und war maßgeblich verantwortlich für die Vorbildwirkung, die der Wiener Minhag in der ganzen Monarchie und darüber hinaus entfalten sollte. Der Verzicht auf die Orgel war eine nicht ganz freiwillige Konzession an die Konservativen.

Sulzers Leistung lag nicht nur in der Führung seines Chors und in der Ausbildung zweier Generationen von Vorbetern, die den Sulzerstil in Europa und Nordamerika verbreiteten. Historisches Verdienst lag auch in seiner Kompositionstätigkeit. Die vertiefte Integration überlieferter Synagogenmelodien, eine Leistung, die er für sich selbst beanspruchte („Wiederherstellung des alten Tempelgesanges“), ist nicht festzustellen. Erst Schüler aus dem orthodoxen Osten vermittelten ihm einen Eindruck von der virtuosen, rezitativisch improvisierte Chasanuth, die seit dem Mittelalter den Synagogengesang geprägt hatte.

Sulzer stand 56 Jahre lang am Vorbeterpult des Stadttempels; er wurde 1881 von Joseph Singer abgelöst, der eine weitere wichtige Zeittendenz repräsentierte: die Erforschung der traditionellen Melodien, die damals noch recht spekulativ betrieben wurde. Die Frage, ob diese Melodien im Mittelalter aus der nichtjüdischen Umgebung aufgenommen worden waren oder ob sie im Kern auf den Orient oder gar auf die Tempelzeit zurückgingen, war ideologisch aufgeheizt in einer Atmosphäre, in der Assimilation und religiöser Traditionalismus (und später auch der Zionismus) einander gegenüberstanden. Singer entwickelte die sogenannte „Steiger-Theorie“, die bestimmte charakteristische Skalen und Motive, auf jiddisch Steiger genannt, als Grundbausteine der Chasanuth postulierte. Wichtiger noch als die Interpretation und Analyse der Melodien war indes deren Sammlung; hier waren zwei führende Sulzer-Schüler tätig, Moritz Deutsch (Breslau [Wrocław/PL]) und Eduard Birnbaum (Königsberg [Kaliningrad/RUS]), dessen gewaltiges Archiv seit 1929 in den USA am Hebrew Union College verwahrt ist. Der große Forscher A. Z. Idelsohn, der diese Fragen als erster auf musikwissenschaftlichem Niveau untersuchte, hatte seine berühmten Forschungsreisen nach Jerusalem im Auftrag des Phonogrammarchivs unternommen.

Mit der Zunahme der jüdischen Bevölkerung in Wien verbreiterte sich auch die kulturelle Basis: osteuropäische Einflüsse machten sich bemerkbar, so etwa durch Kantor J. Goldstein im großen Leopoldstädter Tempel, wo sich auch eine Orgel durchgesetzt hatte. Verschiedene Synagogenvereine führten ihr eigenes Haus unabhängig von der Kultusgemeinde, so etwa der Türkische Tempel (Zirkusgasse, Wien II). Hier wirkten Isidor Löwith und Jacob Bauer, der Begründer des Oesterreichisch-ungarischen Cantoren-Vereines (1882), der jahrelang die wichtigste Kantorenzeitung der Monarchie herausbrachte. Zu nennen sind auch Béla Guttmann (bis 1911), Don Fuchs und Josef Morgenstern (bis 1921), Heinrich Fischer, Mátyás Mátyás und Gerson Herz Margulies (seit 1932). Sie waren bis zur Reichskristallnacht im November 1938 tätig. Damals zählte man in Wien an die 90 Synagogen aller Größenordnungen.

Nach 1945 fungierten nur mehr am Stadttempel Oberkantoren. Es waren dies David Harmelin (1946–61), Gutmann Elias (1958–75), Abraham Adler (1975–92) und Shmuel Barzilai (seit 1992). Die Geschicke des Chors waren wechselhaft. Der Knabenchor, bis 1938 noch fixer Bestandteil in verschiedenen Bezirkstempeln, verschwand gänzlich. Die Anzahl der erwachsenen männlichen Choristen schwankte zwischen vier und acht. Die Chorleiter waren Leon Pollak, Lev Vernik und Rami Langer.


Literatur
H. Avenary et al., Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit 1985; Th. Dombrowski, Synagogenmusik des 19. Jh.s im Spiegel der „Allgemeinen Zeithung des Judenthums“, Diss. Wien 1987; A. Z. Idelsohn, Jewish Music in Its Historical Development 1929 (Nachdruck 1967); M. Steiner, Salomon Sulzer und die Wr. Judengemeinde 1904; S. Sulzer, Denkschrift an die hochgeehrte Wiener israelitische Cultus-Gemeinde 1876 (Nachdruck bei H. Avenary 1985); E. Werner, A Voice Still Heard: The Sacred Songs of the Ashcenazic Jews 1976, 191–240; Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.), Der Wr. Stadttempel: Die Wr. Juden 1988; B. Purin (Hg.), [Kat.] Salomon Sulzer – Kantor Komponist Reformer, Bregenz 1991.

Autor*innen
Ursula Hemetek
Thomas Dombrowski
Letzte inhaltliche Änderung
25.4.2003
Empfohlene Zitierweise
Ursula Hemetek/Thomas Dombrowski, Art. „Juden/jüdische Musik/jüdischer Gesang‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 25.4.2003, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d342
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


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10.1553/0x0001d342
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